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Der Wert der Natur

Solange wir die Natur sprachlich und gedanklich auf ihren Nutzen reduzieren, werden wir weder die Klimakrise noch das globale Artensterben lösen. Tiere, Pflanzen und ganze Ökosysteme haben einen Eigenwert, der vollkommen unabhängig von unserem Nutzen existiert. Die Anerkennung dieses intrinsischen Werts ist keine philosophische Spielerei, sondern eine radikale politische Notwendigkeit. Über unseren Umgang mit der Welt, die uns umgibt.

Ich stehe an einer Weide, irgendwo in der norddeutschen Landschaft. Kühe grasen, einige heben kurz ihre Köpfe, sehen zu mir hinüber, bevor sie sich wieder dem saftigen Grün zu ihren Hufen widmen. Während ich die Tiere beobachte, denke ich an eins meiner Hassworte: “Nutztier”. Es klingt alltäglich, harmlos, vielleicht sogar nüchtern und pragmatisch. Es wird dauernd ganz selbstverständlich verwendet, dabei ist das eigentlich ein geradezu perverser Begriff. Nutz-tier. Das Wort definiert eine ganz bestimmte Gruppe Tiere ausschließlich über ihren Zweck für uns Menschen. Die komplette Kuh als Lebewesen wird auf ein bis zwei Funktionen reduziert: Sie ist Milchlieferantin, Fleischlieferantin, ein wandelndes Produkt mit Puls und Stoffwechsel. Der Wert, den wir ihr beimessen, liegt einzig darin, dass sie uns nützlich sein kann.

Können Lebewesen, kann die Natur nicht auch unabhängig von menschlichem Nutzen einen Wert besitzen?

Doch hier steht ein echtes Lebewesen vor mir – unabhängig davon, ob es eine Funktion für mich erfüllt. Dieses Leben gehört eigentlich ihr selbst, so wie dein Leben dir und meins mir gehört. Wir gestehen ihr das nur nicht zu. Wir haben ihr ein anderes Leben aufgezwungen. Genau diese banale Erkenntnis führt zu einer wichtigen Frage: Können Lebewesen, kann die Natur nicht auch unabhängig von menschlichem Nutzen einen Wert besitzen?

Es geht hierbei nicht bloß um eine sentimentale Ich-hab-Tiere-lieb-Überlegung, sondern um ein fundamentales philosophisches und ethisches Konzept, das sich auch biologisch und wissenschaftlich begründen lässt. Es geht um den intrinsischen Wert der Natur.

Anthropozentrismus: Der Wert der Natur aus menschlicher Perspektive

Der Begriff „Nutztier“ ist nur ein Ausdruck eines umfassenderen Phänomens, das unser Verhältnis zur Natur kennzeichnet: der Anthropozentrismus. Damit ist gemeint, dass wir die Welt vor allem aus der Perspektive des Menschen betrachten und bewerten. Was wir tun, welche Entscheidungen wir treffen, richtet sich in erster Linie danach, was für uns Menschen nützlich oder vorteilhaft erscheint.

In der Naturschutzpolitik ist dieses Denken stark ausgeprägt. Natur wird häufig in Nutzkategorien gruppiert und vermessen, etwa in Form sogenannter Ökosystemdienstleistungen. Diese Perspektive beruht auf einem utilitaristischen Ansatz, einer philosophischen Denkweise, nach der der Wert einer Handlung oder Sache allein daran gemessen wird, wie nützlich sie für jemanden – hier für uns als Menschheit – ist. Muradian und Gómez-Baggethun kritisierten 2021 in der Fachzeitschrift Ecological Economics, dass eine solche „rein nutzenorientierte Sicht des Naturschutzes“ trotz ihrer allgemeinen Akzeptanz und Verbreitung zu kurz greife. Sie ignoriere grundlegende philosophische und ethische Fragen – und könne langfristig sogar kontraproduktiv sein.

Was passiert, wenn wir einen Lebensraum oder eine Art nicht ökonomisch attraktiv oder nützlich finden? Verlieren wir damit automatisch die ethische Verpflichtung, sie zu schützen?

Dieses Konzept der Ökosystemdienstleistungen, entstanden in den 1980er Jahren, wird viel verwendet und zitiert (ich nutze es auch immer mal, um etwas zu erklären) und versucht Naturwerte monetär oder zumindest ökonomisch vergleichbar zu machen. Wälder etwa werden geschützt, weil sie Wasser filtern, CO₂ speichern oder Tourismus fördern. Das ist zunächst verständlich und effektiv, weil sich monetäre Werte einfacher vermitteln und politisch leichter rechtfertigen lassen. Doch dieser rein monetäre oder nutzenbasierte Blick beinhaltet Risiken: Was passiert, wenn wir einen Lebensraum oder eine Art nicht ökonomisch attraktiv oder nützlich finden? Verlieren wir damit automatisch die ethische Verpflichtung, sie zu schützen?

Ein weiterer Nachteil ist die innewohnende Austauschbarkeit im nutzenbasierten Denken. So könnten natürliche Habitate zerstört und/oder durch etwas anderes ersetzt werden, solange der monetäre Nutzen kompensiert wird. Doch lässt sich ein jahrtausendealter Wald, ein intaktes Moor oder eine Tierart tatsächlich in Wertäquivalente umrechnen? Friedrich Merz würde sagen: na clear. Ich sage aber: äh, nein.

Warum wir Natur schützen: Die Bedeutung relationaler Werte

Reicht es, Wälder, Flüsse oder Moore nur deshalb zu schützen, weil sie uns Geld bringen oder nützliche Ressourcen liefern? Viele Forschende bezweifeln das inzwischen. Ihrer Ansicht nach greift es zu kurz, die Natur bloß als wirtschaftliche Ressource zu betrachten – denn was uns wirklich motiviert, langfristig und nachhaltig für Natur einzustehen, sind oft persönliche Beziehungen und emotionale Verbindungen zu bestimmten Landschaften und Lebensräumen.

Ein internationales Forschungsteam um Wissenschaftler:innen der University of British Columbia brachte 2016 in der renommierten Fachzeitschrift PNAS daher einen neuen Begriff ins Spiel: sogenannte relationale Werte. Diese Werte entstehen aus persönlichen oder gemeinschaftlichen Verbindungen, die Menschen zu besonderen Orten oder Ökosystemen haben. So schützen wir beispielsweise einen Wald nicht nur, weil er Holz liefert oder Kohlendioxid speichert, sondern weil wir uns mit ihm verbunden fühlen und diese Verbindung als wertvoll und bedeutungsvoll wahrnehmen. Für eine Gemeinschaft kann ein Waldstück sogar Teil ihrer kulturellen Identität sein, ganz unabhängig davon, ob er wirtschaftliche Vorteile bietet.

2018 konkretisierten Muraca und Himes von der Oregon State University diesen Ansatz noch einmal: In einem Artikel der Zeitschrift Current Opinion in Environmental Sustainability stellten sie klar, wie sich relationale Werte von zwei klassischen Konzepten unterscheiden:

  • Instrumentelle Werte beschreiben, welchen praktischen Nutzen ein Ökosystem für uns Menschen hat – zum Beispiel Holz oder sauberes Trinkwasser.

  • Intrinsische Werte (vom lateinischen intrinsecus = „innewohnend“) bedeuten, dass die Natur einen Eigenwert besitzt und daher auch völlig unabhängig von menschlichen Interessen schützenswert ist.

Die Forschenden erklärten, dass relationale Werte noch eine dritte Dimension eröffnen, die zuvor kaum beachtet wurde: Sie umfassen kulturelle Identität, spirituelle Bindungen und Gemeinschaftsgefühl – alles Dinge, die in der traditionellen Naturschutz-Diskussion oft vergessen wurden. Sie wiesen allerdings auch auf eine wichtige Grenze hin: Relationale Werte beschreiben zwar gut, warum Menschen sich emotional oder kulturell mit bestimmten Naturlandschaften verbunden fühlen – doch die Frage, ob Natur auch jenseits dieser menschlichen Perspektive schützenswert ist, bleibt auch hier immer noch offen.

Vom relationalen Wert zum intrinsischen Wert: Die Natur als Zweck an sich

Im Gegensatz zu instrumentellen und relationalen Werten setzt die Idee intrinsischer Werte an einer radikal anderen Stelle an. Während in den anderen Ansätzen der Wert von Natur immer aus einer menschlichen Perspektive hergeleitet wird – sei es durch ihren Nutzen oder durch emotionale und kulturelle Verbundenheit – schreibt die intrinsische Perspektive der Natur einen Wert zu, der vollkommen unabhängig vom Menschen existiert. Der Philosoph Ronald Sandler bringt diesen Gedanken in seiner Arbeit aus 2012 prägnant auf den Punkt: Intrinsischer Wert, so Sandler, sei der Wert, den ein Lebewesen, ein Ökosystem oder eine Landschaft allein durch seine bloße Existenz besitzt. Damit erhält die Natur einen Eigenwert, der nicht davon abhängt, wie Menschen sie bewerten, nutzen oder empfinden. Intrinsischer Wert lässt sich somit weder gegen andere Werte aufwiegen, noch ersetzen oder verhandeln – er gilt absolut und bedingungslos. Diese radikale Haltung fordert uns heraus, Naturschutz nicht nur aus pragmatischen oder emotionalen Gründen zu denken, sondern auch in einer ethisch tieferen Dimension: als Anerkennung des Rechts der Natur, um ihrer selbst willen zu existieren.

Intrinsischer Wert lässt sich somit weder gegen andere Werte aufwiegen, noch ersetzen oder verhandeln – er gilt absolut und bedingungslos.

John Piccolo, Umweltphilosoph an der Universität Karlstad, vertiefte diese Argumentation 2017 im Journal for Nature Conservation. Piccolo betonte, dass intrinsischer Wert nicht bloß eine philosophische Spielerei sei, sondern eine unverzichtbare ethische Grundlage des Naturschutzes darstelle. Wenn wir akzeptieren, dass Tiere oder Ökosysteme einen Eigenwert besitzen, folgt daraus die ethische Pflicht, diese Güter zu bewahren. Das Argument ist klar: Hat ein Lebewesen einen Wert an sich, entsteht daraus eine moralische Verantwortung für dessen Erhalt, unabhängig davon, ob uns Menschen daraus ein direkter, messbarer Vorteil erwächst.

Biologisch und evolutionär betrachtet bedeutet das, dass Arten und Lebensräume nicht allein deshalb schützenswert sind, weil sie uns Menschen dienen, sondern weil jedes Lebewesen das einzigartige Ergebnis einer Jahrmillionen währenden Entwicklung ist. Jede Art hat ihre eigene biologische Identität, ihre spezifischen Bedürfnisse und ihre eigene evolutionäre Geschichte – und allein daraus ergibt sich ein grundlegendes Recht auf Existenz. Diese Position ist nicht romantisch oder weltfremd, sondern basiert auf naturwissenschaftlicher Realität: Jedes Lebewesen ist Teil eines komplexen ökologischen Geflechts, in dem jede Rolle gleichberechtigt und wertvoll ist – völlig unabhängig von ihrer Bedeutung für den Menschen.

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Genau diese Sichtweise betont auch der Weltbiodiversitätsrat (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, kurz: IPBES) in seinem globalen Bericht von 2023. Darin fordert er, dass neben ökonomischen Kriterien endlich auch intrinsische und relationale Werte stärker anerkannt und einbezogen werden müssen. Nur dann, so die Forschenden, könnten wir der globalen Biodiversitätskrise ernsthaft begegnen. Die Argumentation läuft damit auf eine zentrale ethische Konsequenz hinaus: Wenn wir akzeptieren, dass Natur einen Wert besitzt, der unabhängig vom menschlichen Nutzen existiert, müssen Naturschutzentscheidungen künftig auf einer tiefgreifenderen moralischen Grundlage getroffen werden. Der intrinsische Wert der Natur fordert uns dazu heraus, Verantwortung für den Schutz des Lebens zu übernehmen – nicht, weil es uns nützt, sondern weil wir moralisch verpflichtet sind, jedes Lebewesen und jeden Lebensraum um seiner selbst willen zu achten und zu erhalten.

Jede Art hat ihre eigene biologische Identität, ihre spezifischen Bedürfnisse und ihre eigene evolutionäre Geschichte – und allein daraus ergibt sich ein grundlegendes Recht auf Existenz.

Macht und Interessen im Naturschutz

Die Debatte um intrinsische Werte reicht weit über Biologie oder Umweltschutz hinaus – sie fordert uns heraus, unser gesamtes philosophisches Verständnis von Moral und Ethik zu hinterfragen. Während die klassische westliche Philosophie jahrhundertelang den Menschen als Mittelpunkt aller moralischen Entscheidungen betrachtete (Anthropozentrismus), etablieren sich zunehmend alternative Konzepte, die Natur selbst als moralisch relevante Instanz anerkennen. Der Forstwissenschaftler und Ökologe Aldo Leopold forderte 1949 in seiner Land-Ethik (im Sand County Almanac), moralische Verantwortung nicht nur Menschen, sondern der gesamten natürlichen Welt entgegenzubringen. Einen entscheidenden Impuls liefert hier das Konzept einer „plurizentrischen Ethik“, das der IPBES-Bericht auch hervorhebt. Dieser Ansatz geht über Leopolds Forderung hinaus, indem er betont, dass viele indigene Kulturen oder Wissenssysteme gar keine scharfe Trennung zwischen Mensch und Natur kennen. Stattdessen existiert dort ein Verständnis von Natur als Gemeinschaft, in der Menschen und nicht-menschliche Lebewesen moralisch und ethisch gleichberechtigt verbunden sind. Laut IPBES liegt genau darin eine der zentralen Lösungen für die globale Biodiversitätskrise: die Abkehr vom rein westlichen, anthropozentrischen Denken hin zu einer moralischen Weltsicht, die Vielfalt nicht nur biologisch, sondern auch kulturell und ethisch ernst nimmt.

Warum aber tun sich Politik und Wirtschaft dennoch so schwer, intrinsische Werte ernsthaft anzuerkennen? Ein Grund dafür liegt laut des Papers von Muradian und Gómez-Baggethun in den dominanten Strukturen westlicher Gesellschaften. Ökonomische Interessen, Eigentumsrechte und politische Machtverhältnisse bestimmen maßgeblich, welche Werte Gehör finden und welche nicht. So werden ökologische oder ethische Überlegungen oft erst dann politisch relevant, wenn sie in ökonomische oder zumindest gesellschaftliche Nutzenargumente übersetzt werden können. Wer aber auf intrinsische Werte verweist, bringt Argumente ein, die sich oft gegen kurzfristige Interessen richten und deshalb in aktuellen politischen Entscheidungsprozessen häufig ignoriert werden. Über diese Sache habe ich ja schon ausführlicher in meinem Ecological Grief Artikel geschrieben» (Öffnet in neuem Fenster).

Dieses Problem ist eng verbunden mit der Frage nach Gerechtigkeit im Naturschutz. Die IPBES-Studie zeigt auf, dass lokale Gemeinschaften, deren Werte oft nicht ökonomisch messbar oder einfach kommunizierbar sind, häufig benachteiligt werden. Solche Machtungleichgewichte führen dazu, dass die Werte derjenigen, die Natur als Bestandteil ihres kulturellen Lebens und ihrer Identität sehen, gegenüber rein wirtschaftlichen Interessen marginalisiert werden. Gerade deshalb ist es notwendig, intrinsische Werte explizit anzuerkennen, um einer Dominanz ökonomischer Interessen entgegenzuwirken und gerechtere, inklusivere Naturschutzmaßnahmen umzusetzen.

Die politischen Konsequenzen der Anerkennung intrinsischer Werte

Wenn die Natur tatsächlich einen Eigenwert besitzt, der unabhängig von menschlichen Interessen existiert – warum taucht diese Erkenntnis dann kaum in den Debatten des politischen Alltags auf? Die Antwort ist unbequem, aber klar: Eine Anerkennung intrinsischer Werte würde die Grundlagen unserer politischen Systeme infrage stellen, in denen Natur bislang meist bloß Verhandlungsmasse zwischen wirtschaftlichen Interessen ist.

Genau das wird vom IPBES mit einem klaren Begriff bezeichnet: Die Politik befindet sich aktuell in einer Wertefalle. Sie behandelt die Biodiversitätskrise vor allem als technische Herausforderung, die sich mit neuen Messmethoden, finanziellen Anreizen oder Ausgleichszahlungen lösen lässt. Doch diese Denkweise blendet aus, dass genau jene rein ökonomische Perspektive Ursache der Krise ist. IPBES skizziert stattdessen eine radikal andere politische Alternative: Ein Paradigmenwechsel hin zu einer Sichtweise, in der Natur nicht mehr bloß verwaltet, sondern als ethische und politische Partnerin ernst genommen wird. Die Studie unterscheidet dabei zwischen drei Stufen im Verhältnis zur Natur: Wir können Natur weiterhin als Ressource behandeln („living from nature“), wir könnten uns um vorsichtige Koexistenz bemühen („living with nature“), oder wir begreifen uns selbst als integralen Bestandteil des natürlichen Systems („living as nature“). Gerade diese letzte Position, in der intrinsische Werte eine zentrale Rolle spielen, birgt die größte transformative Kraft – politisch ebenso wie gesellschaftlich.

Die Politik befindet sich aktuell in einer Wertefalle. Sie behandelt die Biodiversitätskrise vor allem als technische Herausforderung, die sich mit neuen Messmethoden, finanziellen Anreizen oder Ausgleichszahlungen lösen lässt. Doch diese Denkweise blendet aus, dass genau jene rein ökonomische Perspektive Ursache der Krise ist.

Konsequent gedacht bedeutet das für die Naturschutzpolitik, dass die Anerkennung des der Natur innewohnenden Werts nicht bloß eine moralische oder philosophische Aufgabe ist, sondern in erster Linie eine politische Entscheidung: ein neuer Kompass, der politisches Handeln über bloß kurzfristige Interessen hinausführt und Biodiversität als unumstößliche Grundlage politischen Handelns verankert. Konkret würde das bedeuten, dass politische Entscheidungen zukünftig nicht nur danach bewertet werden, wie viel Wachstum, Nutzen oder Prestige sie erzeugen – sondern danach, wie konsequent sie den intrinsischen Wert von Ökosystemen respektieren und schützen. Ich weiß, ich weiß, wir sind Lichtjahre davon entfernt und das zu tippen fühlt sich an, als würde ich an einem etwas überdrehten Fantasyroman schreiben. Aber langfristig wird nur so eine Herangehensweise funktionieren.

Sprache ist Denken ist Realität

Politisch wirklich zu sehen und auch umzusetzen, dass Natur einen Eigenwert besitzt, erfordert zuerst einen bewussten Schritt, den du bereits gehen kannst – noch bevor sich Gesetze ändern oder politische Institutionen reagieren: Es braucht einen radikalen Wandel der Sprache. Es genügt nicht, nur abstrakt über Werte zu sprechen. Politische Veränderung beginnt konkret mit den Worten, die du benutzt, wenn du von Natur sprichst – weil Sprache den Möglichkeitsraum für unser Denken und Handeln schafft.

Genau deshalb liegt in Begriffen wie „Nutztier“ oder „Ökosystemdienstleistung“ eine stille politische Macht. Solange wir diese Worte verwenden, bleibt auch unser politisches Denken in der Logik des Nutzens verhaftet. Umgekehrt heißt das aber auch: Sobald du Tiere, Pflanzen und Lebensräume sprachlich ernsthaft als eigenständige Lebewesen oder als gemeinschaftliches Gegenüber anerkennst, wird überhaupt erst sichtbar, welche neuen politischen Wege möglich sind. Sprache ist somit kein Nebenschauplatz, sondern der entscheidende erste Schritt, damit die Anerkennung intrinsischer Werte nicht nur Theorie bleibt, sondern tatsächlich politische Realität werden kann.

Aber ach. Wir können lange über Werte philosophieren, Studien zitieren und uns in der Theorie verlieren. Doch am Ende kommt es nur auf eines an: Bist du bereit, ernst zu machen? Denn die Anerkennung des Eigenwerts der Natur ist keine nette philosophische Gedankenspielerei, sondern bedeutet einen grundlegenden Bruch mit der Art, wie wir aktuell leben, wirtschaften und Politik machen. Es heißt ganz praktisch: Schluss mit Verhandlungen darüber, wie viel Natur wir uns noch leisten können oder wollen. Es bedeutet radikal anzuerkennen, dass Natur nicht uns gehört. Nicht teilweise, nicht theoretisch, nicht symbolisch – sondern gar nicht.

Diese Erkenntnis fühlt sich unbequem an, weil sie uns aus unserem gewohnten Machbarkeitsdenken herauskatapultiert. Aber genau darin liegt ihre Kraft: Radikale Veränderungen kommen nicht von Kompromissen, sondern aus dem Mut, etwas Unverhandelbares wirklich unverhandelbar zu machen. Wer intrinsischen Wert ernst nimmt, muss bereit sein, die Natur der Logik des Marktes, der Politik und sogar der menschlichen Interessen zu entziehen. Denn ein Eigenwert, der ernst gemeint ist, existiert bedingungslos und unabhängig davon, ob wir ihn anerkennen oder nicht.

Schluss mit Verhandlungen darüber, wie viel Natur wir uns noch leisten können oder wollen. Es bedeutet radikal anzuerkennen, dass Natur nicht uns gehört. Nicht teilweise, nicht theoretisch, nicht symbolisch – sondern gar nicht.

Was du heute sprachlich anerkennst, musst du morgen politisch verteidigen – kompromisslos, unbequem und radikal. Vor allem in der aktuellen Weltlage, gerade jetzt umso mehr. An der Wahlurne, auf der Straße, in Diskussionen. Die Frage lautet also nicht, ob wir uns eine solche Haltung leisten können, sondern ob wir es uns leisten können, das nicht zu tun. Denn am Ende steht und fällt alles mit der einfachen, aber radikalen Frage: Wem gehört die Welt – uns oder sich selbst?

Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich kenne die Antwort.

Bis zum nächsten Mal.

Jasmin

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Quellen

Muradian, Roldan, and Erik Gómez-Baggethun. 2021. “Beyond Ecosystem Services and Nature’s Contributions: Is It Time to Leave Utilitarian Environmentalism Behind?” Ecological Economics 185: 107038. https://doi.org/10.1016/j.ecolecon.2021.107038 (Öffnet in neuem Fenster).

IPBES, Pascual, U., et al., eds. 2022. Summary for Policymakers of the Methodological Assessment of the Diverse Values and Valuation of Nature of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. Zenodo. https://zenodo.org/record/6522392 (Öffnet in neuem Fenster).

Leopold, Aldo. 2020. A Sand County Almanac. New York, NY: Oxford University Press.

Chan, Kai M. A., Patricia Balvanera, Karina Benessaiah, Mollie Chapman, Sandra Díaz, Erik Gómez-Baggethun, Rachelle Gould, et al. 2016. “Why Protect Nature? Rethinking Values and the Environment.” Proceedings of the National Academy of Sciences 113 (6): 1462–65. https://doi.org/10.1073/pnas.1525002113 (Öffnet in neuem Fenster).

Himes, Austin, and Barbara Muraca. 2018. “Relational Values: The Key to Pluralistic Valuation of Ecosystem Services.” Current Opinion in Environmental Sustainability 35 (December): 1–7. https://doi.org/10.1016/j.cosust.2018.09.005 (Öffnet in neuem Fenster).

Pascual, Unai, Patricia Balvanera, Christopher B. Anderson, Rebecca Chaplin-Kramer, Michael Christie, David González-Jiménez, Adrian Martin, et al. 2023. “Diverse Values of Nature for Sustainability.” Nature 620 (7975): 813–23. https://doi.org/10.1038/s41586-023-06406-9 (Öffnet in neuem Fenster).

Pascual, Unai, Patricia Balvanera, Sandra Díaz, György Pataki, Eva Roth, Marie Stenseke, Robert T. Watson, et al. 2017. “Valuing Nature’s Contributions to People: The IPBES Approach.” Current Opinion in Environmental Sustainability 26–27 (June): 7–16. https://doi.org/10.1016/j.cosust.2016.12.006 (Öffnet in neuem Fenster).

Piccolo, John J. 2017. “Intrinsic Values in Nature: Objective Good or Simply Half of an Unhelpful Dichotomy?” Journal for Nature Conservation 37 (June): 8–11. https://doi.org/10.1016/j.jnc.2017.02.007 (Öffnet in neuem Fenster).

Rea, Anne W., and Wayne R. Munns. 2017. “The Value of Nature: Economic, Intrinsic, or Both?” Integrated Environmental Assessment and Management 13 (5): 953–55. https://doi.org/10.1002/ieam.1924 (Öffnet in neuem Fenster).

Soulé, Michael E. 1985. “What Is Conservation Biology?: A New Synthetic Discipline Addresses the Dynamics and Problems of Perturbed Species, Communities, and Ecosystems.” BioScience 35 (11): 727–34. https://doi.org/10.2307/1310054 (Öffnet in neuem Fenster).

Kategorie Essay & Meinung

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