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„Ich bin nicht so politisch“ – Warum alles politisch ist (Essay)


In den USA gilt „No politics, no religion (Öffnet in neuem Fenster)“ als Leitformel für einen möglichst spaßigen, maximal harmlosen Abend unter Leuten – Politik und Religion gelte es zu vermeiden. Beide Themenbereiche, so der ungeschriebene Konversationsknigge, bestenfalls tabu. Die Meinungen zu unterschiedlich, die Fallhöhe zu hoch, das Gelände zu vermint.

Auch hierzulande kennt jeder von uns Situationen, in denen Smalltalk über politische Kleinigkeiten vermeintlich urplötzlich eskaliert in großes, zwischenmenschliches Drama. Es muss nicht mal der berühmte Streit beim Weihnachtsessen sein (übrigens: nur noch elf Wochen bis Heiligabend): Die Möglichkeit, sich mit seinen Mitmenschen aufgrund politisch-weltanschaulicher Differenzen zu verzanken, ist täglich gegeben. Immer, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr, saisonunabhängig.

Damit nix am Hut

Befremdlicher als das Aneinandergeraten inkompatibler Wertesysteme finde ich es, wenn man, in bewusster Missachtung der „Keine Politik, keine Religion“-Leitformel, anfängt über das politische Alltagsgeschäft zu parlieren, und vom Gegenüber kommt wenig, ein Schulterzucken vielleicht, bis schließlich, mal verschämt, mal selbstbewusst, eingeräumt wird: „Ich bin nicht so politisch“ oder „Politik interessiert mich nicht so“.

Für jene von uns, die tagtäglich mit – und in selteneren Fällen wie dem meinen, auch von – dem Blick auf die gesellschaftspolitischen Konflikte leben, erscheint es befremdlich, aber signifikante Teile der deutschen Öffentlichkeit interessieren sich höchstens ansatzweise für die Gesellschaft, deren Teil sie zweifelsohne sind.

Das belegen auch Statistiken.

Die gute Nachricht vorweg: Es gibt ein großes allgemeines Interesse an Politik. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung über 14 Jahren, stimmen der Aussage „Ich interessiere mich insgesamt für Politik“ fast 50 Millionen Deutsche zu. Bei einer Umfrage (Öffnet in neuem Fenster) nach dem politischen Interesse war dies, zum Glück und über Jahre hinweg, die häufigste Antwort.

Die schlechte Nachricht: Die Optionen „Politik interessiert mich auch, aber nicht so sehr“ und „Politik interessiert mich kaum, gar nicht“ waren ebenfalls ziemlich populär. Sie folgen direkt auf Platz zwei und drei. Erst an vierter Stelle folgen die Hochpolitisierten mit „Politik interessiert mich ganz besonders.“

Von der Ironie abgesehen, dass „Ich halte nicht viel von Politik“ selbst bereits ein politisches Werturteil ist: Wie umgehen mit Menschen, die versuchen, sich aus dem politischen Alltagsgeschäft auszuklinken? Die sich durch Teilnahmslosigkeit und Meinungslosigkeit auszeichnen? Sind diese Mitbürger hinzunehmen als demokratische Gegebenheit? Nach dem Motto: „Soll sich doch jeder selbst aussuchen, was ihn oder sie interessiert“? Oder gibt es so etwas wie eine moralische Pflicht, den Blick unserer Mitmenschen zu leiten auf politische Probleme und somit schließlich ihre Lösungsversuche?

Die Antwort auf diese Fragen hängt davon ab, was der Grund ist für das politische Desinteresse.

(Öffnet in neuem Fenster)

Ich bin nicht politisch, ABER…”

Ein Teil des politischen Desinteresses, das Menschen sich selbst zuschreiben, beruht auf einem Kategorienfehler (Öffnet in neuem Fenster). Der Kategorienfehler besteht darin, gesellschaftspolitisches Interesse zu verwechseln mit Detailkenntnis des berufspolitischen Tagesgeschäfts oder Fachwissen über politische Prozesse. Natürlich ist es sinnvoll, beispielsweise den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme (Öffnet in neuem Fenster) in einem Wahlverfahren zu kennen; und selbstverständlich ist es hilfreich, die ungefähre Position politischer Parteien bei zentralen Themen wie Armut, Arbeit, Flucht und Migration usw. zu wissen oder zumindest halbwegs richtig zu erahnen – doch diese Kenntnis, dieses Wissen und diese Ahnung sind keine Voraussetzungen eines politischen Interesses, sondern ihre Folgen.

Keiner muss die ARD-Sommerinterviews (Öffnet in neuem Fenster) auswendig mitsprechen können, um von sich zu sagen „Ich bin ein politischer Mensch“. Politikinteresse bedeutet nicht, dass du z.B. die sechsstündige Liveübertragung der Bundestagsdebatte zur Rentenniveaustabilisierung (Öffnet in neuem Fenster) auf phoenix mitverfolgt hast. Und wer lieber im Bett ein Buch liest oder Computerspiele zockt, anstatt um 22 Uhr unter der Woche Sahra Wagenknecht oder Tino Chrupalla (Öffnet in neuem Fenster) dabei zuzusehen, wie sie in Talkshows dem Kriegsverbrecher Wladimir Putin den roten Teppich ausrollen, hat nicht bloß meine Nachsicht, sondern mein volles Verständnis.

Um ein Missverständnis aufzuklären: Bock auf Politik heißt eben nicht, überall im Nachrichtenzyklus up to date zu sein. Es heißt nicht, sich überall auszukennen, Expertin zu sein.

Warum sind die Dinge, wie sie sind?

Bock auf Politik zu haben bedeutet vielmehr, mit offenen Augen durch die Gesellschaft zu gehen, die Perspektive zu wechseln, sich zu fragen „Was bedeutet es, ich zu sein?“ und „Was bedeutet es, du zu sein?“. Über alldem schweben die Fragen: „Warum sind die Dinge so, wie sie sind? Und wie können wir sie ändern?“

Ich selbst kam eher spät zu dieser Erkenntnis.

Noch mit sechzehn, siebzehn war vieles von dem, was täglich in der Tagesschau lief, für mich irgendwie langweiliger Erwachsenenkram, der wenig bis gar nichts zu tun hatte mit meinem eigenen Leben. Auch ich war Opfer des oben genannten Kategorienfehlers. Einerseits hatte ich, trotz Politikunterrichts, nicht den Eindruck, genug von der Materie zu verstehen, um mich wirklich politisch äußern zu können. Andererseits misslang mir der Transfer von „der Politik“ (abstrakt) hin zu „meinem Leben“ (konkret). So hätte auch ein Dialog mit Teenager-Jan nahtlos übergehen können von „Ich bin nicht sehr politisch“ hin zu dutzenden Themen, die mich irgendwie bewegten, die ich als ungerecht empfand oder als unbefriedigend. Nur leider habe ich, über lange Zeit, diese beiden Ebenen kaum zusammengebracht.  

Nachfragen, konkret werden!

Mein erster Tipp bei der Politisierung unserer Mitmenschen lautet also:

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