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Wie würden wir denken und uns fühlen, wenn wir uns für alles, was wichtig ist, mehr Zeit nehmen würden?

Das Leben wird immer schneller, alles ist zu viel und niemals reicht die Zeit. Dieses nur schwer bestimmbare Gefühl, nicht mehr mitzukommen, überfordert zu sein von den Erwartungen und Möglichkeiten und niemals zu schaffen, was man eigentlich schaffen wollte, könnte man leicht als das Lebensgefühl unserer Zeit missverstehen. Die (unmögliche) Vereinbarkeit von Beruf und Familie, der wachsende Einfluss digitaler Medien, die Zunahme psychischer Erkrankungen und die Frage, wie wir aus dem Hamsterrad wieder rauskommen, sind prägende Themen unserer Zeit.

Und zeitgemäße Lösungen dafür scheinen auf der Hand zu liegen: Wir organisieren den Arbeitstag neu, um produktiver und entspannter zu arbeiten. Wir meditieren und sind achtsamer, um den Herausforderungen des Alltags besser zu begegnen. Wir legen Phasen des digitalen Verzichts ein, um den Kopf wieder frei zu kriegen. Um die Vereinbarkeit zu verbessern, gibt es mittlerweile zum Glück genügend innovative Produktideen: Spielgeräte fürs Kinderzimmer, auf denen sich die Kleinen austoben, während die Eltern endlich einmal abschalten können. Fertiggerichte, aber gute, nachhaltige und nährstoffreiche Fertiggerichte, ersparen uns aufwendiges Kochen. Wir schaffen uns edle, ökologisch produzierte Kalender an, die uns mit praktischen Life Hacks und motivierenden Sinnsprüchen dabei helfen, den Familienalltag perfekt zu gestalten. Denke immer daran, dass es nur eine wichtige Zeit gibt: Heute. Hier Jetzt. Leo Tolstoi.

Wir brauchen einfach nur einen guten Plan. Dann greift ein Puzzleteil ins andere, wir bauen uns den perfekt getimten Alltag, werden Spezialist*innen für Selbstoptimierung und Multitasking und lassen uns bewundern für alles, was wir leisten. Wir schafft sie oder er das bloß?

Eigentlich schaffen wir es nicht. Eigentlich sind wir kurz vorm Burnout. Und eigentlich werden die To-do-Listen niemals kürzer. Sie sind immer exakt gleich lang. Eine abgearbeitete Liste gibt es vielleicht auf dem Papier, aber nicht im Kopf. Das Ende einer Aufgabe ist immer der Anfang einer neuen.

Die Vorstellung, dass diese Art zu leben unserer beschleunigten, digitalisierten spätmodernen Welt des 21. Jahrhunderts vorbehalten ist, ist ebenso falsch, wie die Annahme, dass individuelle Lebensstrategien uns aus dieser Misere befreien könnten. Umfassend analysiert die Journalistin Teresa Bücker in ihrem neuen Buch Alle_Zeit (Öffnet in neuem Fenster) die gegenwärtige, ungerechte, ungesunde Zeitkultur, die auf Jahrhunderte alten patriarchalen und kapitalistischen Strukturen basiert, die so tief in uns verwurzelt sind, dass wir uns einfach nicht mehr vorstellen können, dass es auch anders sein könnte.

Teresa Bücker ist eine der einflussreichsten Journalist*innen in Deutschland. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins Edition F (Öffnet in neuem Fenster). Seit knapp zwei Jahren veröffentlicht sie den Newsletter Zwischenzeit_en (Öffnet in neuem Fenster) "über Veränderung, Übergänge, die Wechselfälle des Lebens und die Fragen, die dazwischen auftauchen." Für die Abonnent*innen des Newsletters dürfte ihre Ankündigung vor wenigen Monaten, ein Buch über Zeit zu veröffentlichen, folgerichtig und wenig überraschend gewesen sein. Viele andere, die sich jetzt mit der Rezeption des Werks beschäftigen, werden wohl zum ersten Mal das Wort "Zeitpolitik" gehört haben.

Selten wird thematisiert, dass unser Leben von zeitpolitischen Entscheidungen durchdrungen ist: Wann fängt die Schule an? Wann beginnen und enden die Ferien? Wann öffnen Kitas, Arztpraxen und Geschäfte? Wie weit sind die Wege dort hin? Wann fahren Busse und Bahnen? Wer kann in Teilzeit arbeiten? Und wer hat das Recht anschließend in Vollzeit zurückzukehren? Wann beginnt die Rente? Welche Leistungen stehen mir zu, wenn ich private Zeit für Pflege aufbringe? Welche nicht? Wie lange dauert ein Asylverfahren? Was ist ein Verstoß gegen die Sonntagsruhe? Wann wird endlich die Sommerzeit abgeschafft? Das alles ist Zeitpolitik, die von Regierungen, Verwaltungen, Verbänden, Organisationen und Gruppen gestaltet wird.

Gesprochen wird darüber wenig. Und genau deshalb ist "Alle_Zeit", ein Buch, das sich an breite Leser*innenschichten wendet, so dringend notwendig. Wie Teresa Bücker zeigt, ist die verbreitete Zeitarmut das Ergebnis einer seit Langem bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Es sei eine Frage der Gerechtigkeit, wie Zeit verteilt ist, wie sie genutzt werden kann, wie ihr Wert bemessen und wie sie erlebt wird, schreibt sie. »Menschen sind unterschiedlich zeitarm und unterschiedlich zeitsouverän, und das nicht zufällig, sondern als Ergebnis gesellschaftlicher Machtstrukturen."

Zu Beginn ihres Buchs fragt sie: "Warum empfinden wir, dass die Zeit niemals reicht?", um auf den folgenden 400 Seiten Antworten darauf zu geben, die anders als die meisten Zeit-Ratgeber nicht das Individuum beauftragen, für einen besseren Umgang mit der eigenen Zeit zu sorgen. „Derzeit bestimmt die Haltung, dass die individuelle Anstrengung ausschlaggebend dafür sei, wie das eigene Leben verläuft, sowohl den politischen als auch den gesellschaftlichen Diskurs. Das müssen wir überwinden“, schreibt Bücker.

Ihr Buch ist kein Ratgeber, sondern eine Gesellschaftskritik, die das oft im Bereich Lebenshilfe und Sinnsuche verortete Thema Zeit dort positioniert, wo es hingehört: in den politischen Diskurs. Wer wird für seine Arbeit bezahlt und wer nicht? Wer hat Zeit für seine Interessen einzutreten? Das sind Fragen, die gesellschaftliche Machtstrukturen betreffen. Die Art und Weise, wie Erwerbsarbeit und Care-Arbeit gestaltet sind, bildet einen Schwerpunkt des Buchs, weil in diesen beiden Bereichen Macht und Zeit zugewiesen werden. Die noch immer vorherrschende Norm des Acht-Stunden-Tages basiert von Anfang an, sprich seit über 100 Jahren, auf einem Konstruktionsfehler, schreibt Bücker. Die Idee damals sei gewesen, den Tag in drei exakt gleich große Abschnitte zu teilen: acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf.

"Doch was fair und emanzipatorisch sein sollte und damals tatsächlich einen erheblichen Fortschritt in puncto Zeitgerechtigkeit für Arbeiter_innen darstellte, basierte auf einem verkürzten Arbeitsbegriff: Nur die bezahlte Arbeit wurde als solche anerkannt. Die Idee übersah, dass „der Arbeiter“ nicht die gesamte Gesellschaft abbildete, und ignorierte die Verhältnisse all jener Menschen, die ihren Alltag nicht oder nicht nur mit geregelter Lohnarbeit verbrachten, sondern die notwendigen, aber unbezahlten Arbeiten zu Hause verrichteten, wie kochen, sich um Kinder und Alte kümmern oder die Wäsche machen. Eine stimmige Formel hätte mit einbeziehen müssen, dass Arbeit nicht nach der Fabrikarbeit endete und die reproduktiven Aufgaben sogar die Basis dafür darstellten, dass Menschen am Morgen zum Unternehmerdienst aufbrechen konnten."

Stattdessen aber, schreibt Bücker, „bekommen diejenigen, die zu Hause andere versorgen, die kochen, putzen, trösten, in der Regel keinen Cent und können deshalb häufig auch mit dieser Arbeit nichts für ihre Altersvorsorge tun. Care-Arbeit zu übernehmen, macht vielfach arm, als wäre diese Zeit nichts wert gewesen, als hätten die Care-Gebenden nichts geleistet.“

Deshalb ist Bücker der Ansicht, dass wirkliche Gleichberechtigung nicht allein über Emanzipation in der Berufswelt erreicht werden könne. Wir müssten auch die Art und Weise, wie wir uns umeinander kümmern, grundlegend verändern. „Wenn wir Fürsorge als gleichwertige Arbeit anerkennen würden, sie gerecht verteilen und angemessen bezahlen würden, würde das die Machtverhältnisse und die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, komplett verändern.“ 

Wir könnten uns wieder auf der Straße begegnen, ohne direkt auf die Uhr zu schauen, weil wir eigentlich weiter müssen. Wir könnten Freundinnen und Freunde sehen, ohne das Monate im Voraus zu planen. Es sind einfache Alltagsbeispiele, an denen Bücker verdeutlicht, wie problematisch, wie lebensfremd eigentlich unser Verhältnis zur Zeit ist. „Wenn man sich das einmal so wirklich vor Augen hält: Man hat Freundinnen und Freunde und man trifft die nur drei, vier Mal im Jahr und denkt das ist normal?“, fragt sie im Podcast Eltern ohne Filter (Öffnet in neuem Fenster).

Zumindest ist es das Leben, in dem wir uns als Gesellschaft eingerichtet haben. Wir haben uns mühselig eingerichtet in diesem anfangs erwähnten, schwer fassbaren Unbehagen, dass alles einfach zu viel ist. Das ist es auch. Das Unbehagen ist auch deshalb so groß, weil das Problem mit der Zeit ausweglos erscheint. Sie ist immer zu knapp und wenn wir einmal freie Zeit haben, dann müssen wir besonders sorgsam damit umgehen, um rechtfertigen zu können, dass wir auch mal nichts tun. „Wie sähe unsere Welt aus, wie würden wir denken und uns fühlen, wenn wir uns für alles, was wichtig ist, mehr Zeit nehmen würden?“, fragt Teresa Bücker. Eine Frage, auf die ich auch gern eine Antwort hätte. Eine Folge wäre sicher, dass wir einander zugewandter wären. Wir würden weniger tun, aber trotzdem weniger verpassen, weil wir offener wären für das, was passieren kann. Das, was aus unserem Tun folgt. Das, was sich einfach ergibt, die Zufälle und unverhofften Ereignisse, die das Leben oft erst ausmachen.

„Mit der Idee, Zeit zu haben, verbinde ich, frei über sie verfügen zu können, etwas mit ihr machen zu können, was nicht vorbestimmt ist. Zeit zu haben, erlaubt Spontaneität. Die Sätze Ich habe keine Zeit oder Ich brauche Zeit für mich drücken nicht aus, dass jemand keine Zeit neben der Erwerbsarbeit hat, sondern zu wenig offene Zeit, die nicht bereits an etwas gebunden ist. Zeit haben wir immer, da wir in ihr leben.“

Was uns aber fehlt, schreibt Bücker, ist die Möglichkeit, uns frei in der eigenen Zeit zu bewegen. Dank ihres Buchs werden nicht nur Sinnsuchende und Zeitoptimierende, sondern auch Menschen in Machtpositionen die Tragweite von Zeitpolitik erkennen. Geschlechter- und Generationengerechtigkeit, ein gutes Leben für alle, eine lebenswerte Zukunft für nachfolgende Generationen – das alles gibt es nicht, ohne die Konstruktionsfehler unserer gestörten, aber viel zu oft unhinterfragten Zeitkultur zu beseitigen. Es wäre ein Anfang zu erkennen, dass Zeit darüber bestimmt, wie wir leben und vor allem, wie wir miteinander leben.

Titelfoto: Paula Winkler, Buchcover: Ullstein Verlag

Kategorie Rezension

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