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Ein Streichelzoo textiler Texturen

Zu Besuch bei „Kunst-Stoff“ in der Kunsthalle Emden (Öffnet in neuem Fenster)

Schon mal in einem Raum voller Strumpfhosen gewesen? So begrüßt die Kunsthalle Emden die Besucher der Ausstellung „Kunst-Stoff.“ Das Kind ist just gefangen im bunten Spinnennetz aus jeweils drei Strumpfhosen, die mit unzähligen anderen verbunden eine raumgreifende Installation über zwei Stockwerke bilden. Sofort ist man in einer anderen Welt. Aus jedem Blickwinkel sieht man etwas anderes; die Farben ergeben immer neue Kombinationen – und mich begeistert vor allem der Zwischenraum, die Leere zwischen den Strumpfhosen.

Unglaublich groß und doch so fragil – beim Gang zur Toilette fällt dem Kind auf, dass ein Teil der Installation am Geländer befestigt ist. Einmal aufknoten und das Gebilde würde - zumindest teilweise - in sich zusammenfallen. Raumgreifend filigranes Buntes, mit einem Zipp: weg. Aber: Niemand wagt es. Jeder respektiert es. Keiner zerstört es. Wenn das doch auch mit unserer bunten Welt so wäre.

Der Eingang zur Ausstellung gibt einen guten Vorgeschmack auf das, was einen danach erwartet: Kleine, unscheinbare Überraschungen, die man leicht übersehen kann, aber wenn man sie entdeckt, tief berühren. Und großformatige Flächen, die raumgreifend sofort den Blick auf sich ziehen. Teppiche, die man sonst betritt, werden zum flauschigen Landschaftsmeer. Im Raum hängend werden sie zur Person auf Über-Augenhöhe oder zum Raumteiler, der die Welt in Hell und Dunkel teilt. Zum gewebten Vorhang, der viel Durchblick lässt, oder schwer hängend der Schwerkraft trotzt.

Sofort wird klar: Textil und Stoff kann eigentlich alles, was klassische Malerei und Bildhauerei auch können. Vielleicht sogar mehr. Der Faden verbindet. Zumindest sehe ich ihn, den roten Faden der Ausstellung. Ein Thema, das mich immer begleitet hat, egal ob durch Geschichten, Texte oder Skulpturen. Auch bei mir gibt es ihn immer, den verbindenden Aspekt. Mein Motto: „Verbindungen suchen, Vielfalt genießen.“

Oft geht das Kind etwas vor, schaut sich schon weiter um in der Ausstellung, während ich noch die Texte überfliege. Wir nutzen keinen Audio-Guide; wir gehen durch Kunst wie durch eine Landschaft. Langsam, bedächtig, mit offenem Herzen. Wir schauen, was wir entdecken, bleiben stehen, wenn uns etwas Besonderes auffällt. Zum Beispiel die Farbtropfen, die von den acht drapierten Bändern an Wand und Boden getrocknet sind.  

In der Nähe bleibt das Kind zurück und betrachtet lange eine geometrische Anordnung, an der ich schon vorbei gegangen war. Sie überlegt, warum manche Farben und Muster häufiger da sind als andere. Ich sehe plötzlich wieder das, was nur entsteht, weil man es weglässt. Die Freiräume ergeben einen Negativabdruck aller Formen, die im Werk vorkommen. Aus welchen Formen ist unser Lebensteppich gewebt? Und was entsteht erst dadurch, dass wir es weglassen?  

Natürlich packt uns der satirische Raum mit den vielen Erlebnissen. Am Wäscheberg kommt keiner vorbei. Die Spiegelung von Weiß und Bunt, von uns selbst, während wir ihn umrunden. Es ist lustig und besonders weil es einen heiter stimmt, kommt die ernste Botschaft durchs Hintertürchen an. In diesem Raum ist nichts ohne Absicht. Das komikartige Hochhaus niedlich auf Augenhöhe gebracht, warmer Stoff statt harter Beton.

Dann eine Hommage an Vincent van Gogh, lebendige Sonnenblumen für immer festgehalten in einer Vase, daneben das blutverschmierte Messer; alles aus Wolle gehäkelt. Das Kind ist abgestoßen. Es findet das komisch, diese Waffe, das getrocknete Blut aus Wolle. „Ekelig,“ sagt sie. Warum lässt man es nicht einfach schön sein? Und ich frage mich, warum Van Gogh in der Nachwelt trotz seiner Sonnenblumen doch immer noch mit dem Messer in Verbindung gebracht werden muss. Der kranke Künstler, der sich sein Ohr abgehackt hat. Wäre er im Nachhinein auch berühmt geworden wegen seines besonderen Pinselstrichs? Fast immer ist es die Kombination von Genie und Tragik, die große Künstler auszeichnet. Warum kann Kunst nicht einfach nett sein? Weil der Mensch das Drama mag, weil er Geschichten liebt, den Kontrast. Weil das Messer die Sonnenblumen noch mehr strahlen lassen.

 

Als Bildhauer bleibe ich oft länger bei den Reliefs stehen, bei den Objekten, die aus Garn in den Raum greifen und Schatten werfen. Allesamt sind sie weich und flauschig. In manche möchte man sich reinkuscheln. Eine runde Teppichcollage möchte ich am liebsten berühren, weil jeder darin verarbeitete Teppich eine andere Haptik hat. Ich kann es sehen, darf trotzdem nicht näher ran. Da werde ich zum Kind und mein Kind zur Erwachsenen, weil ich quengele: „Ich würde das soooo gerne anfassen!“ und das Kind sagt streng: „Nein, Mama!“ Kunst kann Rollen vertauschen.

Ein riesiges Objekt im nächsten Raum lässt das Kind zur Künstlerin werden. Sie fotografiert es aus mehreren Perspektiven. Durch die Kamera sehe ich erst, was die Stoffbahnen noch können, außer einen Raum in Farben zu tauchen. Das Kind drückt seine Faszination so aus: „Das ist wie ein großes Buch. Jede Seite erzählt eine andere Geschichte.“ Und je nachdem aus welcher Richtung man schaut, sieht die Geschichte anders aus. „Das Orange, das würde ich gerne mit nach Hause nehmen“, murmelt das Kind, kniet sich hin und fotografiert weiter.

Die Ausstellung hält grundsätzlich viel Kritisches bereit, menschliche Ungerechtigkeit wird in buntesten Farben deutlich. Menschen, die wegen Sklaverei, Armut zurückbleiben, bekommen hier respektvoll Raum. Auch Frauen gehören in diese Beschreibung.

Während ich wieder mit einem skulpturalen Geflecht beschäftigt bin, bleibt das Kind vor einer großformatigen Collage stehen. „Du weißt, was da zu sehen ist, oder?“ fragt sie mich etwas altklug. „Was siehst du denn darin“, werfe ich den Ball zurück. „Das ist eine Frau, die zerrissen ist. An der gezerrt wurde, bis sie nicht mehr wusste, wer sie ist.“

Manchmal frage ich mich, wie das geht. Wie ein Zellhaufen nach zehn Jahren solche Gedanken produzieren kann.

Am Ende bleibt noch Zeit für die Dauerausstellung. Mich faszinieren die menschlichen Darstellungen, die Portraits und collageartigen Zusammensetzungen. Klar. Das ist mein Thema in der Kunst und Literatur: Faszination Mensch. Wie setzt er sich zusammen und warum ist er, wie er ist? Deshalb bin ich Journalistin geworden, deshalb habe ich Portraits über Leute geschrieben, Bücher und Ratgebertexte. Deshalb habe ich zehn Jahre in einer Beratungsstelle mit Menschen gearbeitet. Deshalb stelle ich Menschen in der Bildhauerei und Illustration dar. Deshalb mag ich Drucke und Collagen. Das Zusammensetzen von menschlichen Geschichten.

Das Kind hat seine eigenen Favoriten. Gemeinsam mögen wir die Tierdarstellungen. Das verbindet uns. Ansonsten ist sie eher ein Fan von Landschaft, hat ein Kamera-Auge. Und eine Vorliebe für knallige Farben. Sie mag es, wenn etwas laut und frech und provokant gezeigt wird.

Das finde ich mutig und es steckt mich an. Als wir nach Hause fahren, sehe ich bestimmte Farben, Formen und Verbindungen in meinen Skulpturen, die da vorher noch nicht waren. Ob ich sie aber auch so herausarbeite? Wird der rote Faden zeigen.   

Über „Arts“:

In der Rubrik „Arts“ beschreibe ich – völlig subjektiv – was mich bei Besuchen von Ausstellungen am meisten berührt. Oft auch zusammen mit dem Blick eines Kindes, denn seitdem sie zehn ist, geht das Lockenkind gerne mit, wenn ich Kunst anschaue. Den Bildhauer-Blick kann ich dabei schlecht ausschalten und ich nehme fast immer etwas mit, was meine eigene Arbeit verändert. Entweder lasse ich etwas weg oder nehme etwas dazu oder kombiniere neu.

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Kategorie Arts: Kunst und Künstler

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