Zum Hauptinhalt springen

Recovery Interview Nr.17 mit Sophie

Hallo ihr lieben, in dieser Beitragsreihe stelle ich Betroffenen und Angehörigen von psychischen Erkrankungen ein paar Interview-Fragen, wie sie mit den Erkrankungen umgehen, was ihnen hilft und gebe ihnen eine Stimme. Ich bin anna, Selbstbetroffene und freiberufliche Autorin und beschäftige mich mit mentalen Themen. Besonders Recovery, der Weg zur Genesung, Entstigmatisierung und das Meistern des Alltags mit psychischen oder chronischen Erkrankungen, finde ich wichtig. Und zu erkennen: Du bist nicht allein! Diese Reihe ist for free und als Ergänzung zu meinen üblichen Content zu sehen. Ich denke wir können alle viel auch von anderen lernen und mitnehmen.

Wer möchte, kann sich die Interview-Vorlage am Ende des Interviews im SafeSpace runterladen und mir ausgefüllt mit Foto per Mail an good.days.will.come@outlook.de (Öffnet in neuem Fenster) zuschicken. Vielleicht erscheint dein Interview dann auch bald hier.

Heute habe ich Sophie im Interview.

  • Wer bist Du, wo kommst Du her und wie alt bist Du? Wenn Du magst, gebe deine Pronomen an. Und wenn ihr mehrere seid (bezieht sich auf multiple Persönlichkeiten), dann das natürlich auch.

Ich bin Sophie, bin 26 Jahre alt und lebe in Berlin.

  • Was ist deine Behinderung/Erkrankung?

Ich habe seit Anfang 2023 eine Agoraphobie mit Panikstörung. Diese hat sich über die letzten Jahre langsam entwickelt und wurde letztes Jahr so stark, dass ich Anfang diesen Jahres in eine Klinik musste, weil ich meine Wohnung nicht mehr verlassen konnte.

  • Würdest Du Deine Erkrankung gerne sichtbar oder unsichtbar machen?

Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. An sich finde ich es wichtig, über psychische Erkrankungen aufzuklären, und tue das auch selbst. Man sieht mir meine Erkrankung von außen nicht an, was manchmal praktisch ist. Ich habe allerdings kaum Probleme damit, dass mein Umfeld meine Erkrankung nicht ernst nehmen würde. Deshalb kann ich die Frage für mich nicht klar beantworten, da beides Vor- und Nachteile hat. 

  • Was machst Du beruflich oder wie gestaltest Du deinen Alltag?

Aktuell arbeite ich nicht, plane aber einen Wiedereinstieg in die Berufswelt über eine Umschulung (Ausbildung via beruflicher Reha). Ursprünglich habe ich Lehramt studiert, dieses Studium auch mit dem Master abgeschlossen. Allerdings kann ich in dem Beruf nicht weiter arbeiten aktuell. Meinen Alltag gestalte ich so, dass ich viel unterwegs bin, um Wege zu üben und nach zu nach meinen Aktionsradius zu vergrößern. Natürlich mache ich meinen Haushalt und Einkauf oder gehe Hobbies nach. Dann habe ich noch Termine in der psychiatrischen Institutsambulanz (z. B. Gruppentherapie, Arzttermine) und sonstige Termine, bin in der Kontakt- und Beratungsstelle, manchmal treffe ich mich mit Familie oder Freund:innen. Wichtig ist vor allem, dass ich rauskomme und nicht nur zu Hause sitze.

  • Wie geht es Dir zur Zeit und was beschäftigt Dich?

Mir geht es zur Zeit insgesamt relativ gut. Die Zeit in der Klinik hat mich stabilisiert. Klar gibt es immer wieder kleinere Einbrüche und dranbleiben ist schwierig, aber an sich geht es ganz gut und meine Ängste habe ich gerade relativ gut im Griff. Mich beschäftigt vor allem, wie es weitergehen soll. Ob ich die Umschulung packe, ob ich gut mit meiner Angst leben kann oder ob es wieder schlimmer wird, solche Dinge eben. Ein Bisschen Angst bleibt immer und ich bin ja noch mitten im Recoveryprozess. Ich treffe mich gern mit Familie und Freund:innen, stricke, bin kreativ, spaziere durch die Natur, manchmal spiele ich an der Switch. 

  • Was bedeutet für Dich Recovery? Und wo würdest Du sagen, stehst Du zur Zeit?

Recovery bedeutet für mich, sich aktiv mit seiner Erkrankung und Problematik auseinanderzusetzen und daran zu arbeiten, dass man einen möglichst guten Umgang mit ihr findet. Es gibt nun mal Erkrankungen, die nie komplett weggehen werden, somit kann dort Recovery bedeuten, möglichst gut mit ihr zu leben. Dazu zählt auch, Strategien zu erlernen, um selbst mit gewissen Situationen umgehen zu können. Dieser Prozess kann sich über Jahre und Jahrzehnte ziehen und ist meiner Meinung nach nie 100% abgeschlossen. 

Ich vergleiche mich bei der Frage, wo ich aktuell stehe, gern mit meinem Ich von vor etwa sechs Monaten. Anfang April habe ich mich zwangsweise in psychiatrische Behandlung in der örtlichen Klinik begeben. Damals konnte ich kaum meine Wohnung verlassen, um z. B. zu Nachbarn zu gehen oder meine Post zu holen. Wenn ich mich heute mit diesem Punkt vergleiche, liegen da Welten zwischen. So kann ich z. B. wieder normal einkaufen gehen, ins Einkaufszentrum, Öffis (Bus, U-Bahn, S-Bahn) nutzen, auch mal in andere Bezirke fahren. Das ist das Ergebnis harter monatelanger Arbeit. Ich habe mit einigen Situationen auch einen guten Umgang gefunden.

  • Was ist für dich ein gutes Helfernetzwerk?

Ein gutes Helfernetzwerk unterstützt einen auf verschiedenen Ebenen: Fachlich (z. B. über Therapie), emotional (z. B. Freund:innen) etc. Es sollte einen allerdings auch ermutigen, mal „über seinen Schatten zu springen“, wenn es gerade notwendig ist. Ein gutes Helfernetzwerk ist ehrlich zu einem und spricht Tatsachen aus, verurteilt einen aber nicht. Bedanken möchte ich mich bei meiner besten Freundin Lisa sowie meinen zwei sehr engen Freundinnen Sarah und Ladina, die immer ein offenes Ohr für mich haben, mir Ratschläge geben, mich ermutigen und einfach tolle Menschen sind, die mir zeigen, was wahre Freundschaft bedeutet 🥰 meine Familie (Mama, Schwester, Tante, Opa) steht auch hinter mir und unterstützt mich, wo sie kann. Auch meine anderen Freundschaften sind eine tolle Unterstützung in jeglicher Hinsicht. Ich habe wirklich ein großes Privileg, ein so tolles soziales Umfeld zu haben.

  • Zu welchem mentalen Thema fehlt Aufklärungsarbeit in der Gesellschaft?

Zu allem. Wenn man ins Internet schaut, sträuben sich mir bei etlichen Kommentaren wirklich die Nackenhaare, denn diese Kommentare zeigen, wie viel Aufklärung es noch bedarf. Solange psychische Krankheiten noch als Schrei nach Aufmerksamkeit, ausgedacht, nonexistent, Ausrede zur Faulheit oder sonst was bezeichnet werden, wird sich daran auch nicht viel ändern. Viele Menschen sind leider sehr stur in ihren Ansichten, da bringt leider die beste Aufklärung nichts.

  • Wenn Du Skills nutzt: Was sind deine Lieblinge?

Nadelball, Riechstab mit Minzöl, Akupressurring, Ammoniak-Riechstäbchen (bei Hochanspannung), Noise Cancelling Kopfhörer, kreativ sein.

  • Notfalltasche: Was muss bei Dir immer mit?

Aktuell führe ich vor allem meine Ammoniakstäbchen, den Akupressurring und den Riechstab immer mit. Ich habe mich gegen eine Bedarfsmedikation entschieden, sodass ich sowas nicht bei mir führe. Eigentlich habe ich ein kleines Täschchen mit einer Skillskette, einer Notfallkarte und etlichen Skills. Ich habe aber über die Zeit festgestellt, dass ich das nochmal anpassen muss und dass ich die wichtigsten Sachen auch so mitführen kann.

  • Dein Lebenstraum oder größere Ziele, gibt es da etwas, das Du erzählen möchtest?

Ich würde gern wieder einer geregelten Arbeit nachgehen können und reisen können ohne größere Einschränkungen. Das heißt gleichzeitig auch, einen so guten Umgang mit der Erkrankung finden, dass man gut damit leben kann. Und ich bin auf einem guten Weg dahin.

  • An welchen Orten fühlst Du Dich sicher?

Zuhause in meiner eigenen Wohnung. Zwar habe ich meinen Radius vergrößern können, aber wirklich sicher fühle ich mich nur bei mir zu Hause.

  • Was würdest Du Betroffenen (von psychischen Erkrankungen) gerne sagen?

Es lohnt sich, nicht aufzugeben und Hilfe anzunehmen. Ich weiß, dass es schwierige Phasen gibt. Und ich weiß auch, dass nicht alle Menschen in ihrem Beruf richtig sind. Insgesamt durfte ich aber die Erfahrung machen, dass es genau die richtige Entscheidung war, Hilfe anzunehmen. Auch wenn es mehr als schwierig war. 

  • Was würdest Du Nicht-Betroffenen gerne sagen?

Nehmt uns ernst und glaubt uns. Oder würdet ihr einem Menschen mit gebrochenem Bein sagen „nun steht halt auf und lauf“? Warum macht ihr das dann bei Menschen mit gebrochenem Geist?

Menschen mit psychischen Erkrankungen wünschen sich meist nichts sehnlicher, als ein normaler und akzeptierter Teil der Gesellschaft zu sein und einem geregelten Leben nachzugehen. Wenn sie das nicht tun, nicht, weil sie faul sind, sondern, weil sie nicht können. Wenn du einen Menschen mit gebrochenem Bein nicht zu einem Marathon zwingen würdest, dann zwing psychisch Erkrankte nicht, stetig über ihre Grenzen zu gehen. Denn das ist oft ein Grund, dass sie überhaupt krank sind. Ja, wir sind krank. Und nur, weil es unsichtbar ist, ist es nicht weniger valide.

  • Was ist dein Mantra oder Spruch, der Dir Kraft gibt?

Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist. (Henry Ford)

  • Wo kann man Dich finden?

Auf Instagram und Threads unter @braving.anxiety – auf Threads bin ich aktiver und nehme Leute durch meinen Recovery Prozess mit. Bei Instagram poste ich eher seltener.

Vielen Dank für deine Zeit und alles Gute für deinen weiteren Weg!

Wer möchte, kann sich die Interview-Vorlage am Ende des Interviews im SafeSpace runterladen und mir ausgefüllt mit Foto per Mail an good.days.will.come@outlook.de (Öffnet in neuem Fenster) zuschicken. Vielleicht erscheint dein Interview dann auch bald hier.

Kategorie Recovery Interviews

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von good days will come und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden