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Ex-Chefermittler gegen Clans und Rocker Sjors Kamstra

10.07.2020 Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra geht in Pension

Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra ermittelte über 30 Jahre gegen Bandidos, Hells Angels und kriminelle Mitglieder von Großfamilien. Bankeinbrüche, Morde, der spektakuläre Diebstahl der millionenteuren Goldmünze "Big maple leaf". Aus Anlass seiner Pensionierung gibt der 65-jährige im Podcast exklusive Einblicke in seine Arbeit als Chefermittler.

 

Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra kam nur zufällig zur Justiz. 1954 in den Niederlanden geboren und im Alter von 5 Jahren als Ausländer nach Berlin gekommen, wollte er als junger Mann Medizin studieren. Als Migrant habe er keine Chance gehabt und deshalb Jura studiert, berichtet der Oberstaatsanwalt. Über 30 Jahre lang ermittelte er in Berlin vor allem gegen die Organisierte Kriminalität (OK), kurze Zeit war er auch Chef der  Abteilung für Korruptionsbekämpfung. Im Interview zieht er das Resümee nach jahrzehntelanger Kenntnis der Entwicklung der OK bei Rockern, Clans, im Rauschgifthandel und der Zwangsprostitution. Zur Clankriminalität sagt Kamstra: "Wir sind nicht in der Lage, dieses Phänomen auszurotten. Wir können als Staatsanwälte nur versuchen zu zeigen, dass der Staat keinesfalls wehrlos ist und dass man den Clanleuten mit dem Setzen von einigen Eckpunkten zumindest zeigen kann: Irgendwann ist einmal Schluss! Wir können uns auch einmal wehren!"

Das Interview im Wortlaut:

Gerichtsreporter Morling: Was veranlasst einen jungen Menschen, Staatsanwalt zu werden?

Kamstra: Ursprünglich wollte ich Medizin studieren. Ich hatte keinen Studienplatz bekommen und perspektivisch keine Chance, jemals einen Platz zu bekommen, weil ich damals noch die niederländische Staatsbürgerschaft hatte. Deshalb bin ich in der Warteliste nicht aufgerückt. Weil ich aus dem Lernbetrieb nicht heraus wollte, habe ich quasi als „Parkstudium“ Jura angefangen. Ich habe einen ehemaligen Klassenkameraden wieder getroffen, wir haben zusammen studiert und irgendwann Examen gemacht. Nach dem ersten Examen war ich entschlossen, mir einen anderen Beruf zu suchen, obwohl ich eigentlich keinen Plan B hatte. Richtig Spaß an der Juristerei bekam ich mit Beginn des Referendariats. Da begannen wir endlich einmal, praktisch zu arbeiten.

Frage: Wo haben Sie gearbeitet? Was hat Ihnen besonders gelegen?

Kamstra: Ich war im Amtsgericht Wedding mit Zivilsachen beschäftigt,  dann bei der Staatsanwaltschaft in Moabit und bei einem Jugendrichter. Ich war ziemlich schnell festgelegt auf das Strafrecht, weil das mir am meisten Spaß machte. Ich würde diese Wahl jedes Mal wieder so treffen. Später dann hätte ich wählen können, ob ich  Staatsanwalt oder Strafrichter werde. Ich bin bis heute der Meinung, dass der Staatsanwalt derjenige ist, der die Weichen eines Strafverfahrens stellt. Das klingt jetzt despektierlich und überheblich, aber ein Richter arbeitet die Arbeit eines Staatsanwalts ab – das kann kompliziert genug sein. Aber Ermittlungsstrategien, sich zu überlegen, wie komme ich hinter bestimmte Dinge, das machen sie als Staatsanwalt.

Frage:  Wann sind Sie nach Moabit gekommen?

Kamstra: Ich habe extra einmal nachgeschaut: Im Mai 1983 bin ich als Richter auf Probe hier eingestellt worden und sofort zur Staatsanwaltschaft gekommen, zu einer Abteilung, die sich damals mit Ausländerkriminalität befasst hat. Dann war ich etwas zwei Jahre Richter in verschiedenen Positionen. Als meine Lebenszeiternennung schließlich anstand, habe ich mich  entschieden, zur Staatsanwaltschaft zurückzugehen.  Ich bin relativ schnell in die Abteilung gekommen, die sich schon damals mit der Organisierten Kriminalität befasst hat. Da bin ich im Wesentlichen geblieben, bis auf wenige Unterbrechungen, u.a. in der Abteilung für Wirtschaftkriminalität und Leiter der Korruptionsabteilung. Aber Korruptionsstrafrecht ist im Grunde genommen auch nur eine Ausprägung der Organisierten Kriminalität. Danach war ich dann wieder bei meiner „Lieblingsbeschäftigung“ bis zu meinem letzten Arbeitstag als OK-Staatsanwalt.

Frage: Als ich erstmals Mitte der 80er Jahre als Journalist die Staatsanwaltschaft in Moabit kennenlernte, empfand ich sie sehr hierarchisch, ein rauer Umgangston herrschte. Was braucht man für Eigenschaften, um so weit zu kommen, wie Sie? Gleichzeitig aber dabei so einen positiven Ruf zu haben, wie Sie, sowohl bei Kollegen, Richtern und selbst Verteidigern?

Kamstra: Vielen Dank  für die Blumen, aber: ich kann Ihnen nicht sagen, was einen guten Staatsanwalt ausmacht. Man muss Strafverfolgungsinteresse  haben, aber man muss kein Bluthund sein. Man  muss eine Affinität dazu haben, dass die strafrechtliche Ordnung die Gesellschaft mit aufrecht erhält. Das klingt so abgehoben, aber das muss haben,  so wie Spaß an Ermittlungsstrategien. Auf der anderen Seite muss man sich jederzeit vor Augen halten, dass man immer mit Menschen zu tun hat. Meiner Erfahrung nach ist das wichtigste Attribut: Verlässlichkeit; was man sagt, muss man auch einhalten, ob es schlechte oder gute Angebote sind.

Frage: Was hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert an der Härte der Strafverfolgung, an den Taten und Tätern?

Kamstra: Die historische Situation hat sich verändert. Zu den Zeiten, als ich mit OK angefangen habe, hatten wir noch eine Mauer mitten durch Berlin und ein ziemlich übersichtliches Kriminalitätsbiotop. Mittlerweile sind wir eine internationale Stadt geworden, das merkt man der Kriminalität an, d.h. andere Protagonisten spielen eine Rolle. Die Kriminalität hat sich tatsächlich verändert, aber ich würde nicht sagen, zum Besseren oder Schlechteren, sie ist einfach anders geworden. Beispielsweise haben früher Zuhälter eher Thailänderinnen ausgebeutet, heute sind es mehr Osteuropäerinnen. So meine ich das. Wir haben eine Veränderung in der digitalen und technischen Welt. Das merkt man allenthalben. Das Tempo erhöht sich, wir sind als Ermittlungsgruppen gezwungen, uns viel schneller auf veränderte Umstände einzustellen. Das macht alles vielleicht etwas komplizierter, aber vielleicht sehe ich das auch nur aus der Warte eines über 60-jährigen, der nicht die Computertechnik mit der Muttermilch eingesogen hat. Das sehen andere vielleicht anders. Die Täter sind vielleicht wegen ihrer unterschiedlicher Ethnien unterschiedlich geworden. Aber es gibt für mich nicht den damals schlechteren oder heute besseren Kriminellen. Das würde ich so nicht sagen.

Frage: Nun werden heutzutage auch Ermittler bedroht. Das gab es früher wohl nicht in dieser Form, oder doch? Sind einige Kriminelle härter geworden?

Kamstra: Über Bedrohungen zu meiner Person möchte ich nichts sagen. Über Bedrohungen im Allgemeinen, etwa, wenn man sich ansieht, was gerade in Stuttgart passiert ist, da würde ich schon sagen, das ist irgendwo auch das Ergebnis eines gesellschaftlichen Wandels. Das sage ich allerdings mehr als Staatsbürger, denn als Staatsanwalt. Man muss der Polizei auch vertrauen können. Aber wenn ich unentwegt verbreite, dass unsere Polizei nicht vertrauenswürdig ist, noch dazu in Berlin die Polizei am schlechtesten bezahle von allen Bundesländern. Ich muss mich nicht wundern, dass dann bestimmte Dinge erodieren und Leute auf der Gegenseite stehen und sagen: „Wir treten auf die Deppen der Nation ein“. Das finde ich nicht gut!

Frage: Könnte man sagen, dass beispielsweise bei der Clankriminalität der Staat zu lange weggesehen hat? Kann man die Entwicklung noch zurückdrehen, die Familien bzw. zumindest deren Kinder noch in die Gesellschaft integrieren?

Kamstra: Da könnte man jetzt mindestens zwei Stunden darüber reden. Nur soviel: Ja, man hat zu lange weggesehen. Eine ganze Zeitlang war die politische Kultur so, dass Clankriminaliät Ausländerkriminalität  war, weil die meisten Clankriminellen sind Ausländer. Das hat man weggeredet, weil es politisch nicht gewünscht war, es so zu bezeichnen. Das hat dazu geführt, dass man vielleicht die Stellschrauben nicht verändert hat, die die Clankriminalität verändert hätten. Ich will es mal so sagen: als Strafverfolger sitze ich am Ende der „Nahrungskette“, also sind die Fehler zuvor passiert. Das meine ich nicht unbedingt politisch, sondern: in den Familie  und/oder in der Schule ist etwas falsch gelaufen. Das setzt sich fort und irgendwann werden die Leute kriminell. Dann sind wir Staatsanwälte und Strafrichter dran. Auch wenn ich mich sehr lange damit gefasst habe, sage ich ganz deutlich: Wir sind nicht in der Lage,  dieses Phänomen auszurotten. Wir können als Staatsanwälte nur versuchen zu zeigen, dass der Staat keinesfalls wehrlos ist und dass man den Clanleuten mit dem Setzen von einigen Eckpunkten zumindest zeigen kann: „Irgendwann ist mal Schluss! Wir können uns auch wehren!“

Wir müssten aber viel früher ansetzen, damit der Staat sich Respekt verschafft, auch bei kulturell anders gepolten Leuten, denen vielleicht die Familie oder auch noch ihr Glaube über alles andere geht, die vor der Staatsmacht, jetzt meine ich es einmal im guten Sinne, Null Respekt haben. So treten sie dann auch auf… Wenn Sie fragen, was hat sich verändert: bei den Clankriminellen gibt es im Vergleich zu anderen organisiert kriminellen Gruppen definitiv eine Veränderung: OK ist eingetlich nichts, was die Öffentlichkeit sucht. Die arbeiten im Versteckten, im Geheimen, im Dunkeln, Clankriminelle nicht: die protzen mit ihrer Kriminalität, deren Straftaten finden in aller Öffentlichkeit statt. Die überfallen am hellichten Tag das KaDeWe, die erschießen am hellichten Tag vor eisschleckenden Kindern einen missliebigen clanaffinen Mann, die dringen enefalls am hellichten Tag ins Hyatt-Hotel ein und rauben die Einnahmen aus dem Pokerturnier. Das ist eigentlich nicht typisch für OK, aber typisch für Clankriminalität. Das gehört für sie so ein bisschen dazu wie die brilliantenbesetzte goldene Rolex oder der AMG Mercedes, als eine Art Statusaussage. Das hat sich definitiv verändert. Da sind wir Strafjuristen mit in der Verantwortung zu zeigen, dass dem Staat ein gewisser Respekt gezollt werden muss und man eben nicht machen kann, was man will. Aber wir brauchen auch die gesellschaftliche und politische Unterstützung.

Frage:  Gibt es diese politische und gesellschaftliche Unterstützung ausreichend?

Kamstra: Ich würde nicht sagen: Es gibt sie nicht. Ich bin im Moment allerdings etwas umtriebig geworden, denn ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, wenn man das Vetrauen in die Staatsmacht von politischer Seite aus unterminiert. Ich sage jetzt – ausdrücklich als Staatsbürger und nicht als Mitarbeiter dieser Behörde: Ich finde es nicht gut finde, mit einem Antidiskriminierungsgesetz die Polizei unter Generalverdacht zu stellen. Auch wenn das von politischer Seite in Berlin anders erklärt wird, halte ich es mehr mit den Kritikern, die meines Wissens bundesweit in der Mehrheit zeigt, dass man die Polizei demontiert, wenn man ihr von vornherein die Gesetzestreue abspricht. Wenn ich also unterstelle, dass die Polizei in Berlin latent rassistisch ist oder ein rassistisches Problem hat, dann hilft das dem Status der Polizei nicht.  Wir müssen ausschließen,  dass die Polizei nicht mehr in der Lage ist, mit einem einfachen Streifenwagen durch Neukölln Süd zu fahren, um dort beispielsweise ein Auto zu kontrollieren, ohne Gefahr zu laufen, sofort von einem Rudel wenig polizeifreundlicher Freunde der AMG-Besitzer  um sich zu haben. Auch das hat mit Strafverfolgung zu tun, dass die Bevölkerung, auch die kriminell affine Bevölkerung, ein bisschen Respekt vor der Staatsmacht hat. Deshalb muss ich dann nicht Teile der Staatsmacht politisch demontieren.

Frage: Seit einiger Zeit wird versucht, u.a. die „Politik der Nadelstiche“ gegenüber kriminellen Mitgliedern von Clans durchzusetzen. Zeigt das Erfolge aus ihrer Sicht, sowohl in der Bevölkerung, als auch bei den „kriminalitätsaffinen“ Menschen?

Kamstra: Sowohl als auch. Was die Bevölkerung angeht: der Bürger nimmt wahr, dass der Clanfürst seinen AMG-Mercedes vor der Polizeiwache direkt im Halteverbot parkt und ihm nichts passiert. Irgendwann muss einmal klar werden, dass der das, wie jeder andere Bürger, auch nicht darf. Insofern ist das kleiner Nadelstich durchaus geeignet, und so bekomme ich es auch zurückgekoppelt, dass der Bürger sagt: Oh, die tun doch was! Diesem Allmachtsgehabe der kriminellen Strukturen wird etwas entgegengesetzt. Was die ermittlungsstrategischen Erfolge angeht, ist das der Anfang. Auch die Clankriminellen werden zunehmend kapieren: zuviel Öffentlichkeit und zuviel Unruhe stören das kriminelle Geschäft...

Das ist der erste Schritt, mit dem wir aber nichts gegen die Clankriminalität tun. Ich habe das schon hundertfach gesagt: Das A und O der Bekämpfung der Clankriminalität ist es, dass wir denen das kriminelle Vermögen wegnehmen müssen.

Frage: Und wie sieht es damit aus?

Kamstra: Da machen wir Fortschritte, aber wir sind immer noch weit von dem entfernt, was ich mir vorstellen würde. Wir machen Fortschritte durch dieses neue Vermögensabschöpfungsgesetz. Das hat Jahre gedauert, bis wir es hatten. Es erleichtert uns die Sicherstellung kriminell inkriminierten Vermögens, ganz erheblich. Aber, das sage ich ganz deutlich: es ist noch keine Beweislastumkehr! Wenn man denkt, man könne jetzt schnell agieren, dann irrt man sich auch. Wenn man sich die Beschlagnahme von 77 Immobilien, die Ausfluss dieses Gesetzes ist, einmal ansieht, dann weiß ich als Insider: bevor wir das gemacht haben, haben wir jahrelang puzzleartig ermitteln müssen: wem gehört welches Grundstück? Also: bevor wir „zugeschlagen“ haben, ist jahrelang ermittelt worden. Es ist also nicht so, dass uns dieses Gesetz in die Lage versetzt, sehr schnell zu agieren. Aber es hilft ungeheuer!

Mein Credo bleibt: wir brauchen die Beweislastumkehr! Ich will nicht etwa davon weg, dem Täter seine Schuld nachzuweisen. Das werden wir haarklein machen müssen. Er muss sich nicht entlasten. Aber wenn wir nachweisen, dass er eine Straftat begangen hat und rechtskräftig verurteilt ist, verstehe ich, dass wir ihm nicht den Nachweise auferlegen können: ist die Rolex an seinem Handgelenk legal erworben oder stammt sie auch aus kriminellem Tun? Ich weiß, dass das mit unserem Verfassungsgericht schwierig ist, aber  die Frage der Vermögenseinziehung ist weniger die Frage von Strafe und Schuld sondern die des zivilrechtlichen Ausgleichs. Deswegen verstehe ich nicht, warum das nicht auch in Deutschland möglich sein sollte.

Frage: Warum ist das aus ihrer Sicht so wichtig?

Kamstra: Da spielen verschiedene Umstände eine Rolle: wenn ich mir so angucke, dass ein Clankrimineller ein paar Schließfächer einer Bank sprengt und sechs bis sieben Mio. erbeutet. Er wurde verurteilt zu fünf oder sechs Jahren. Das Vermögen war komplett weg, das können die gut. Da haben wir noch erheblichen Nachholbedarf, wie wir das Verbringen der Tatbeute ins Ausland verhindern können. Die Tatbeute jedenfalls ist weg und ein solcher Straftäter sitzt bei uns üblicherweise zwei Drittel der Strafe ab. Ich weiß nicht: wenn ich sechs Millionen in trockenen Tüchern hätte, on ich nicht vier Jahre Knast in Deutschland hinnehmen würde.

Frage: Von der Clankriminalität zu einem großen Erfolg der Berliner Staatsanwaltschaft, an dem Sie mit beteiligt waren: 8x Lebenslang für Mitglieder der Hells Angels im letzten Jahr. Die Staatsanwaltschaft beantragte diese Strafe und das Gericht entschied  genau so.  Bei solchen Verfahren, die eine Unmenge Geld kosten und man Politik und Öffentlichkeit erklären muss, warum die Aufklärung dieses Mordes, der einer Hinrichtung glich in dem Reinickendorfer Wettbüro im Januar 2014, so wichtig ist: Wie haben Sie es geschafft, dass bis zum Schluss durchziehen zu dürfen als Staatsanwaltschaft?

Kamstra: Ja, am Ende ist das ein spektakuläres Verfahren gewesen. Aber ich will zwei Dinge klarstellen: Sie haben vorhin das Thema Hierarchie und Staatsanwaltschaft schon einmal angesprochen. Wir haben einen Fall, unterliegen dem Legalitätsprinzip und versuchen,  ihn aufzuklären. Dann sage ich mal so arrogant, wenn wir mittendrin sind fragen wir niemand mehr, ob wir dürfen. Das machen wir dann einfach. Meiner rückblickenden Erfahrung nach gab es in den letzten 30 Jahren  oder mehr niemals eine Anweisung, die Finger von bestimmten Fällen zu lassen.  Wenn sich ein Verfahren entwickelt und die Ermittlungen sehr aufwändig werden und die Gerichtskosten sehr hoch, dann ist das eben so. Wir Staatsanwälte fragen nicht danach, ob wir so einen Prozess finanzieren können.

Man könnte allerdings überlegen, ob man sehr lange Hauptverhandlungen durch Gesetze verkürzen könnte, zum Beispiel durch Änderungen im Beweisantragsrecht. Denn das meiste Geld hat der Prozess gekostet und nicht die Ermittlungen. Auf der anderen Seite wäre ich immer wieder bei einem solchen Prozess dabei, denn wir sind auch dafür da zu zeigen, dass jede kriminelle Gruppierung angreifbar ist, auch die, die den Habitus haben, ihnen könne nichts passieren, Und dazu gehörten jedenfalls in dieser Stadt die Rocker. Auch die haben ein gehöriges Gefährdungspotential und ein Potential, Angst zu verbreiten auch in der Bevölkerung. Ich muss garricht wissen, ob der wirklich gefährlich ist, aber wenn ich weiß, der, der mir ins Haus geschickt wird, gehört zu den Hells Angels, dann zucke ich schon zurück und sage: nur noch vorsichtig sein. Die haben den Nimbus der Unantastbarkeit, die Gruppe die wir zur Anklage und Verurteilung gekriegt haben, erst recht. Sie haben ähnlich wie Clankriminelle die Stadt als ihre Stadt bezeichnet. Da rechtfertigt so ein immenser Aufwand schon einmal das Ergebnis, dass man sagt: wir schaffen es, nicht nur den kleinen Prospect von der Straße zu kriegen, sondern tatsächlich auch einmal so eine ganze Gruppenstruktur zur Verurteilung zu bringen. Auch wenn ich den Begriff nicht so gern gebrauche, würde ich sagen: das hat eine gewisse abschreckende Wirkung in der Szene...

Frage: Müsste sich in Sachen Zeugenschutz und für die Kronzeugen, die auspacken wollen, mehr tun, damit  die festgefügten Strukturen der OK besser aufgeweicht werden könnten?

Kamstra: Ob sich mehr tun sollte, kann ich nicht sagen. Aber ich bin ein starker Befürworter der Kronzeugenregelung, die wir ja gesetzlich festgelegt haben als Teil einer Ermittlungsmethode gegen Organisierte Kriminalität. Keonzeugen sind heikle Beweismittel. Der Kronzeuge bei den Hells Angels, der gegen seine Brüder auspackt und weiss, dass er mit seinem Leben spielt, erwartet von uns, wenn er spurt, dass er am Ende die gesetzlichen Vorteile der Kronzeugenregelung mitnehmen kann. Darüber entscheidet das Gericht, aber wir können ihm schon sagen: wenn du kooperierst, dann werden wir uns dafür einsetzen. Das tun wir u.U. auch. Wir wissen aber auch, dass ein Kronzeuge immer Gefahr läuft zu sagen, je mehr ich den Ermittlungsbehörden erzähle, desto mehr springt für mich dabei heraus. Deshalb werden wir die Angaben von Kronzeugen immer besonders kritisch prüfen müssen. Auch im Hells-Angels Prozess haben wir die Angaben des Kronangeklagten sehr kritisch geprüft, zum ganz großen Teil waren seine Aussagen belegbar und richtig. Der BGH urteilte, dass man allein auf die Angaben eines Kronzeugen stützen dürfen. Aber wenn sich seine Angaben verifizieren lassen, ist er ein wertvolles Beweismittel.

Frage: Aus Sicht ihrer langjährigen Erfahrung: was würde Strafverfahren noch effektiver machen? Welche Mittel müssten Sta und Polizei noch an die Hand gegeben werden?

Kamstra: Wie kann ich OK und Clankriminalität besser verfolgen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Videovernehmung wäre für mich das erste. Da kann man nicht nur hören, was ein Zeuge sagt, man kann es auch sehen, wie er es sagt, ob jemand schwitzt, die Augen verdreht etc. Das hat den Vorteil dass sie Menschen, die unter dem Eindruck einer Straftat stehen, insbesondere die Opfer von Clankriminalität, dass sie in der Ambulanz im Krankenhaus sitzen, Adrenalin bis unter das Schädeldach haben, dann erzählen. In der Clankriminalität beobachten wir häufig, dass 2-3 Stunden später die Aussagefreudigkeit erheblich abnimmt. Das hat damit zu tun, dass andere Mechanismen jetzt eingreifen. Die sogenannte Paralleljustiz fängt an. Es wird gesagt: Ja, das könnte für dich Nachteile haben, wenn du weiter aussagst, andererseits Vorteile, wenn du schweigst, man beginnt ihn zu beeinflussen. Dann hätten sie eine authentische Vernehmung und könnten bewerten, wie das Revidieren einer Aussage sich verträgt mit einer sehr authentischen Aussage, die sie nicht nur aufgeschrieben lesen, sondern erleben können. Ich halte das für erheblich bedeutungsvoll, auch vor dem Hintergrund, da es bestimmte Verteidigungsstrategien gibt, wie: das hat er so nicht gesagt, oder: das hat er so genau nicht gesagt,  oder: ihm ist vorher etwas angeboten worden, wenn er es so sagt. Das wäre mit dem Video erledigt.

Das zweite, was ich gern verstärkt haben würde, ist der „Große Lauschangriff“, als die akustische Wohnraumüberwachung. Wir haben sie im gesetz, allerdings mit Hürden, die dazu führen, dass ich in meiner ganzen Karriere nur ein einziges Mal nur eine akustische Wohnraumüberwachung beantragt und richterlich angeordnet bekommen habe.  Das ist also extrem schwierig. Nur: die Schwachstellen fast jeder kriminellen Organisation sind ihre Kommunikationswege. Wir müssen also versuchen da reinzukommen und mitzuhören, was die miteinander reden. Die reden selten zu Hause am Festnetztelefon. Die reden in der Shisha-Bar, auf der Wiese und in der Garage. Dann sollte es doch möglich sein, in diese Kommunikationswege hineinzukommen und mitzuhören.

Das dritte hatte ich schon gesagt: die Beweislastumkehr bei der Vermögenseinziehung. Das ist für mich die Kardinalforderung schlechthin.

Aber warum kriegen wir das nicht? Wir Staatsanwälte arbeiten mit dem, was uns das Gesetz an Maßnahmen in die Hand gibt. Und diese Maßnahmen beschließt der Gesetzgeber, der sich manchmal schwertut. Wenn ich sage, ich bin darüber verwundert, drücke ich das sehr defensiv aus: wie lange manche politische Entscheidungen dauern, wie lange warten wir schon auf die Entscheidung, on die Polizei den Taser einsetzen darf , wie lange hat es gedauert, bis wir das neue Vermögensabschöpfungsrecht bekommen haben? Und die Videoüberwachung: wie lange wird da schon vorwärts uns rückwärts debattiert, bis einmal irgendjemand eine Entscheidung trifft? Ich habe als Staatsanwalt garnichts dagegen, wenn die Politik sagt: bestimmte Maßnahmen wollen wir euch nicht geben, weil, und das weiß ich auch, weil prozessuale Maßnahmen immer mit der Einschränkung von Persönlichkeitsrechten anderer verbunden sind. Und es ist Sache der Politik zu sagen: das wollen wir den Betroffenen nicht zumuten. Nur ich finde es nicht so schön, wenn die Politik das tut und dabei Etikette verteilt. Z.B. beim Thema „Wohnraumüberwachung“ fingen die Gegner damit an, diese Ermittlungsmaßnahme in „Großer Lauschangriff“ umzubenennen. Das bekommt sofort einen negativen Touch und auf dieser Ebene wurde weiterdiskutiert. Ich denke, der Gesetzgeber muss dem Bürger auch erklären, warum er bestimmte Maßnahmen nicht anordnet. Es ist z.B. nie diskutiert worden, dass der „große Lauschangriff“ auch eine erhebliche Zeugenschutzmaßnahme ist. Eine in die Enge getrieben kriminelle Gruppierung wird definitiv versuchen, Beweismittel zu manipulieren. Und einen Zeugen kann man Drohen, ihn bezahlen. Wenn ich eine akustische Aufnahme habe von dem Gespräch, dann brauche ich den Zeugen nicht. Dann macht es auch keinen Sinn für die Gruppierung, sich an dem Zeugen zu vergreifen, schon weil die nicht neue Schlachtfelder aufmachen wollen.  Ein objektives Beweismittel zu manipulieren ist viel schwieriger.

Frage: Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Ländern rund um Deutschland und Europol aus bei der Bekämpfung der OK? Sind wir auf einem guten Weg?

Kamstra: Wir sind auf dem Weg. Auf gutem Weg würde ich erst sagen, wenn absehbar deutliche  Verschnellerungen zu erwarten wären.  Das ist nicht der Fall. Die internationale Zusammenarbeit könnte deutlich besser werden. Wir haben allerdings in den letzten Jahren Instrumentarien gefunden, die tatsächlich in den einzelnen Kriminalitätsbiotopen eine bessere Zusammenarbeit ermöglichen: Joint Investigation Teams, z.B. zwischen polnischen und deutschen Staatanwälten bei Autoverschiebungsdelikten und Enkeltrick-Fällen. Das wurd zunehmend mehr, aber aus meiner Sicht könnte es schneller gehen. Ein Hemmschuh für eine effektive internationale Kriminalitätsverfolgung ist m.E. immer noch die internationale Rechtshilfe, die vielleicht doch noch ein bisschen mit der Postkutsche fährt.

Frage: Was würden Sie ihren jungen Kollegen, die schon hier sind oder noch kommen werden, wie sie besonders gut hier im Haus klarkommen und ihrem Beruf erfüllen können?

Kamstra:Das muss jeder individuell für sich entscheiden. Wenn man die juristisch feinsinnige Auseinandersetzung sucht, gehe ich vielleicht eher in die Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Wenn sie eher so mitten im Leben stehen, gehen sie lieber vielleicht in die OK. Man muss einfach Spaß an dem Beruf finden, man muss eine Haltung dazu haben, dass man sagt: Strafrecht ist wichtig.  Man muss nicht die Haltung haben, je mehr Freiheitsstrafen ich raushole, umso ein besserere Staatsanwalt bin ich. Man muss wissen, dass man als Staatsanwalt mit beteiligt sein kann, bestimmte Missstände mindestens einzugrenzen. Irgendwelche Sümpfe trockenzulegen, diesen Anspruch sollten sie als Staatsanwalt nicht haben und es wird ihnen nicht gelingen.

Frage: Hätten Sie gern noch länger als Staatsanwalt hier gearbeitet?

Kamstra: Ich bin schon ein ein halbes Jahr über den Zenit und hatte noch verlängert. Ich habe aber keine Bange darum, dass hier Lücken gerissen werden, die andere nicht ausfüllen können. Es gibt genug gute Staatsanwälte, die nachfolgen können. Und wenn ich sage, mir reichts, dann nicht, weil der Beruf mir keinen Spaß macht, sondern weil ich sage: Es gibt noch ein Leben nach dem Beruf und neben dem Beruf.*

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