IDLE HEIRS - Interview aus FUZE.111

30 JAHRE IN DER SZENE. Sean Ingram ist kein unbeschriebenes Blatt, die Ü40-Generation kennt ihn noch als Sänger COALESCE, auch bei THE DILLINGER ESCAPE PLAN ist er mal kurz am Mikro eingesprungen. Irgendwann wurde es allerdings still um ihn. Nun hat er zusammen mit dem Produzenten Josh Barber ein neues Projekt am Start.

Foto: Chadwick Christopher
Sean, dies ist das erste Mal seit über einem Jahrzehnt, dass du an einem kompletten Album gearbeitet hast. Was hast du in der Zwischenzeit getrieben?
Ich war unglaublich aktiv in der Musikindustrie, allerdings nicht für meine eigene Band, sondern für andere, vor allem im BereichMerchandising. Ich habe hier in Kansas City eine Firma namens Merchtable gegründet, und wir waren für alles verantwortlich, von Hydrahead, von Anfang an bis zur absoluten Mega-Band BOY GENIUS und allen dazwischen. Ich war damit beschäftigt, Nergal dabei zu helfen, BEHEMOTH aus Polen auch in den Staaten an den Start zu bringen, noch bevor er fließend Englisch sprach. Ich hatte das Glück, mit großartigen Künstlern zusammenzuarbeiten, aber irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich mir eingestehen musste, dass ich für mich selbst kreativ sein und endlich die Geschichten erzählen musste, die ich erzählen wollte. Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich meine Firma verkauft, vor allem aus persönlichen Gründen, und es hat nicht lange gedauert, bis sich die Gelegenheit bot, wieder Musik zu machen, nachdem ich freie Kapazitäten dafür hatte.
Du bist schon lange in der Szene, COALESCE wurden 1994 gegründet – wie hat deine bisherige musikalische Karriere IDLE HEIRS beeinflusst?
Nun, speziell bei IDLE HEIRS wusste ich, dass ich mich selbst auf neue Weise herausfordern wollte. Ich wollte mich ausprobieren und sehen, ob ich in der Musik die gleichen Emotionen vermitteln kann wie in den Texten. Das Singen war mir also wichtig, und auch, dass die Songs eine gewisse Länge haben, damit ich in einem Stück leben und dafür genug Raum habe. Ich war einfach begeistert davon, etwas zu machen, das nicht aus einem Guss ist. Ich glaube, das sieht man auch bei den anderen Mitgliedern von COALESCE, ihre neuen Projekte sind Rockbands, die etwas komplett anderes machen. Ich denke, das ist das Markenzeichen von jemandem, der das macht, um kreativ zu sein, man sieht sie überall, wie ein Vielfraß am Buffet, der alles auf der Speisekarte ausprobiert. So geht es mir auch. Bei beiden Bands ist kein Geld im Spiel, also haben wir die Freiheit, einfach zu kommen und zu gehen, wie es uns gefällt, und den Kram auf dem Papier und dann auf dem Band auszuarbeiten und zu sehen, wohin es uns führt. Ich liebe das einfach an dieser Musikszene, in der wir leben: Wenn du dich zur Verfügung stellst und dich selbst nach außen zeigst, kannst du die Welt sehen, unglaublich talentierte Leute treffen und vielleicht auch etwas zu essen bekommen.
Die Geschichte von COALESCE ist voller Trennungen und Lücken, ihr habt auch viele Gastauftritte auf anderen Platten gehabt – wie kommt es, dass IDLE HEIRS die erste „richtige“ Band für dich seit so langer Zeit ist?
Ich denke, das liegt daran, dass es eine Partnerschaft zwischen mir und Josh ist und darüber hinaus mit unseren Freunden, die uns live helfen. Als wir beschlossen haben, es wirklich zu versuchen, hat Josh die Musik geschrieben, ich habe die Texte und Gesangsarrangements beigesteuert, und dann haben wir angefangen, das Ganze zusammenzustellen. Vom kreativen Standpunkt aus gesehen war es viel einfacher, zwei Köpfe mit den Ideen zu haben und sie auszuarbeiten. Wir waren während des gesamten Prozesses auf derselben Seite und so war es ein sehr organischer kreativer Vorgang. Josh ist ein versierter Techniker, und so war es wirklich neu, dass ich in der Lage war, tolle Demos zu erstellen, denn ich musste nicht viel Fantasie aufwenden, um mir vorzustellen, wie sie ausfallen würden. Dass der technische Aspekt mit dem kreativen Engagement mithalten oder es sogar übertreffen konnte, war eine neue Erfahrung, die ich nicht so leicht aufgeben kann. Diesmal gab es keine Boombox mit einem Handtuch darüber, um auf einem Maxell-Tape aufzunehmen.
Es gibt einfach eine ganze Generation, die nicht mit dem Kampf gegen Nazi-Skins in der eigenen Szene aufgewachsen ist, und das merkt man.
Du bist schon so lange dabei, wie blickst du auf die heutige Hardcore-Szene? Betrachtest du dich als aktiven Teil davon?
Also, ich fühle mich eigentlich mit verschiedenen Facetten der Szene nicht mehr verbunden, und zwar aus mehreren Gründen. Der Hauptgrund ist, dass ich schon so lange raus bin, dass sich die meisten Leute nicht mehr an meine Aktivitäten erinnern oder sich dafür interessieren. Ich glaube auch, dass es unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was Hardcore ausmacht. Zum Beispiel die Szene um das Furnace Fest oder die Straight-Edge-Bands und ihr Umfeld – dafür bin ich einfach nicht der Typ. Wenn wir von der Welt von DEAD GUY, CONVERGE, CHATPILE oder HARVEY MILK sprechen, dann ja, da fühle ich mich zugehörig. Auch das Subterranean Dissonance Festival, wo wir mit IDLE HEIRS gespielt haben, fühlte sich wie ein Zuhause an. Ich kann es auch so erklären: Sobald in dieser Szene eine andere Philosophie als DIY vorherrscht, dann bin ich einfach nicht interessiert. Mein ältester Sohn ist 18 und liebt Hardcore, alles davon, in alle Spielarten, von denen es heute viel mehr gibt. Er nimmt mich zu einer Menge Shows mit, und ich kann mich mit vielem nicht anfreunden, weil sie auf der Bühne aussehen wie Undercover-Polizisten, die über ihre Unterstützung von Trump und seinen Ideen reden, ob sie sie nun als solche erkennen oder nicht. Es gibt einfach eine ganze Generation, die nicht mit dem Kampf gegen Nazi-Skins in der eigenen Szene aufgewachsen ist, und das merkt man. Das ist traurig. Es ist klar, dass Nazi-Skins oder irgendeine neue Form von ihnen in den nächsten vier Jahren zu den Shows zurückkehren werden, und wir alle werden es wieder auf die harte Tour lernen müssen, aber jede Umarmung des amerikanischen Konservatismus in der heutigen Szene ist nicht nur ein No-Go für mich, sondern widerspricht meiner Meinung nach allem, was Punk und Hardcore überhaupt ausmacht. Ich denke, zu sagen, dass Politik nichts mit Musik zu tun hat, ist nur eine Ausrede. Sie hat diese Musikszene schon immer durchdrungen, und jetzt, da der Faschismus in Amerika als Realität geworden ist, sollte sie unbedingt in alles einfließen, was irgendwer in welcher Form auch immer kreativ zum Ausdruck bringt. Aber faschistisches Gedankengut als Macho-Kulisse zu verwenden, um im Pit zu crowdkillen oder möglichst extrem zu wirken? Das sollten wir sofort unterbinden.
Dennis Müller
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