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100 Ausgaben FUZE - SUICIDE SILENCE und ALL SHALL PERISH

Im Sommer 2011 geisterte ein Schlagwort durch die Szene: Deathcore. Was ist das eigentlich und wie fanden Bands, die wir heute sofort zu diesem Genre zählen würden, damals diese Genrebezeichnung? In FUZE.29 sprachen wir mit dem mittlerweile verstorbenen Mitch Lucker von SUICIDE SILENCE und Ben Orum von ALL SHALL PERISH über diese Thematik, beide Bands waren damals auch auf unserem Cover zu sehen. Was insofern bemerkenswert ist, als das zwei Jahre später der Sänger von ALL SHALL PERISH, der hier Mitch Lucker gegenübersteht, diesen bei SUICIDE SILENCE ersetzen sollte und ALL SHALL PERISH damit letztendlich auch nicht wirklich weitermachten. Hier nun das Interview von damals mit Mitch und Ben.

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Dennis

SUICIDE SILENCE Bandlogo

UND TOT BIST DU. Über kaum etwas können sich Wikipedia-Autoren so sehr streiten, wie über die Frage, zu welchem Genre eine Band gehört. Musik objektiv zu beschreiben, ist schwierig genug, trotzdem wird sie in immer kleinere Schubladen gepackt – und Deathcore ist sicherlich eine der fragwürdigsten. Wo hört Death Metal auf, wann fängt Deathcore an? Und: Gibt es Deathcore inzwischen überhaupt noch? Zusammen mit ALL SHALL PERISH und SUICIDE SILENCE versuchen wir, diese Fragen zu beantworten – indem wir die musikalischen Karrieren beider Bands nachzeichnen.

Ben Orum von ALL SHALL PERISH war in der sechsten Klasse, als er in einer Bücherei in Oakland, Kalifornien eine Kassette von PANTERA entdeckte. „Du meine Güte, schon allein aufgrund der Tatsache, dass im Titel eines Songs das Wort ,fucking‘ vorkam, wollte ich mehr davon“, erinnert er sich. So führte ihn sein Weg direkt in den nächsten Plattenladen und zu CANNIBAL CORPSE und von da an zu so ziemlich allem, was auf Relapse, Nuclear Blast, Century Media, Metal Blade oder Earache veröffentlicht wurde. „Mein damals bester Freund und ich waren die Beavis und Butt-Head unserer Schule. Abhängen und Metal hören, das war genau unser Ding.“

Mitch Luckers musikalische Sozialisation begann im Alter von zehn Jahren und fand ebenfalls durch Kassetten statt. Allerdings kamen diese nicht wie bei Ben Orum aus einer Bibliothek, sondern aus dem Knast: Der Vater des späteren SUICIDE SILENCE-Sängers arbeitete im Gefängnis und brachte seinem Sohn regelmäßig neue Musik mit nach Hause. Den Anfang machten die Debütalben von KORN und DEFTONES. „Ich blieb dann meist die ganze Nacht wach und saß vor meiner Stereoanlage. Aber wehe, mein älterer Bruder und ich hörten Rap, dann schrie mein Dad sofort: ,Macht die Scheiße aus!‘ Bei uns zu Hause gab es nur Metal. Ich habe alles meinem Vater zu verdanken. Ich weiß gar nicht, zu wie vielen METALLICA-Shows er uns mitgenommen hat. Er ist der Hammer. Obwohl er gerade 57 geworden ist, sieht er immer noch aus wie vierzig.“

Cover von FUZE Ausgabe 29 mit SUICIDE SILENCE und ALL SHALL PERISH

ALL SHALL PERISH gingen 2002 aus einer Band namens END OF ALL hervor. Von der ursprünglichen Besetzung ist heute nur noch Gitarrist Ben Orum übrig, der davor bei ANTAGONY spielte. Die wurden zwar nie gesignt, brachten es aber dennoch auf drei oder vier Veröffentlichungen, auf denen „überwiegend Grind und experimentelles Zeug“ zu hören war. Bei ALL SHALL PERISH war Orum allerdings vor allem von New York Death Metal und Bands wie SUFFOCATION oder INTERNAL BLEEDING beeinflusst, die Death Metal mit Hardcore verbanden. Und natürlich von DYING FETUS: „Eine der ersten Death-Metal-Bands, die ich kannte, die Breakdowns in ihre Musik einstreuten.“ Andere in seiner Band waren direkter von Hardcore geprägt und bezogen sich beispielsweise auf HATEBREED.

Auch SUICIDE SILENCE entstanden im Jahr 2002 aus verschiedenen kalifornischen Bands – gut sieben Autostunden von Oakland und ALL SHALL PERISH entfernt, in Riverside. In den Jahren zuvor sang Mitch Lucker bei DYING DREAMS, saß Tag und Nacht vor seinem Computer und verschickte E-Mails, um an Auftritte zu kommen: „Ganz in der Nähe gab es einen Laden namens ,Showcase‘. Ich habe so lange auf den Besitzer eingeredet, bis er mir versprach, uns bei jedem guten Konzert mitspielen zu lassen. Als aus DYING DREAMS irgendwann SUICIDE SILENCE geworden war, bekamen wir die größten und besten Shows in der Gegend. Und alles nur, weil ich mich so reingehängt hatte.“ Gitarrist Mark Heylmun kann dies nur bestätigen. „Bevor ich 2006 in die Band einstieg, hatte ich sie schon vor GOD FORBID, THE BLACK DAHLIA MURDER und BETWEEN THE BURIED AND ME gesehen.“

Wie ALL SHALL PERISH sind natürlich auch SUICIDE SILENCE von klassischen Death-Metal-Gruppen wie CANNIBAL CORPSE und SUFFOCATION beeinflusst. Mark Heylmun erwähnt im Interview darüber hinaus die eher obskure spanische Band WORMED, deren Sound von manchen als Slam Death Metal bezeichnet wird, eine Weiterentwicklung des New York Death Metal, bei der Breakdowns eine besonders wichtige Rolle spielen. Musikalisch ist es von hier nur noch ein sehr kleiner Schritt zu Deathcore, nicht zuletzt, da beide Genrebezeichnungen ähnlich umstritten sind. SUICIDE SILENCE hatten damals allerdings nicht wirklich Breakdowns im Sinn, sie bezogen sich in den langsameren Passagen ihrer Songs vielmehr auf die doomigen Elemente einer Band wie CROWBAR. „Wir wollten einfach langsames hartes Zeug schreiben und dann als Kontrast das komplette Gegenteil machen, also so schnell spielen wie möglich. Das hat damals keiner gemacht“, so Lucker. „Ich denke, das ist der Unterschied zwischen einer Band wie ALL SHALL PERISH, die Death Metal und Hardcore kombinierten, und dem, was wir gemacht haben: Wir wollten einfach nur wahnsinnig hart sein. Der eine Teil bei ,Bludgeoned to death‘, das ist kein Breakdown ...“ – „... und auch nicht Stoner Metal“, ergänzt Heylmun, „sondern einfach nur krass.“ Wenn man den beiden Musikern dabei zuhört, wie sie begeistert Teile ihre Lieder nachsingen und dabei headbangen, dann spürt man: Breakdowns waren damals nicht nur reiner Selbstzweck. „In einer Zeit, in der jeder Metalcore spielte, sagten wir uns: ,Das ist bescheuert, lasst uns einfach nur harte Musik machen.’“

https://youtu.be/k27N-jRofrM (Öffnet in neuem Fenster)

„Den Begriff ,Deathcore‘ hörte ich zum ersten Mal, als JOB FOR A COWBOY groß wurden“, erinnert sich Ben Orum. „Wir selbst haben ALL SHALL PERISH nie als Deathcore bezeichnet, aber wenn ich mir Bands aus dem Genre anhöre, dann verstehe ich, warum sie uns als einen Einfluss angeben. Wir waren nicht die ersten, die so einen Sound spielten, aber viele haben versucht, so zu klingen wie wir.“ Auch SUICIDE SILENCE sehen ihr Debütalbum als Wegbereiter für Deathcore. „Unser erstes Album ist der Grund, warum es vieles von dem gibt, was man Deathcore nennt“, ist sich Mitch Lucker sicher. „Nachdem wir ,The Cleansing‘ veröffentlichten, brachte jede Band ein Album raus, das genauso klang.“ Wie ALL SHALL PERISH bezeichnen sie ihre Musik jedoch nicht als Deathcore, sondern nennen sie einfach nur Metal. „Ich habe keine einzige Band getroffen, die darüber glücklich ist, dass ihre Musik Deathcore genannt wird“, berichtet Ben Orum. „JOB FOR A COWBOY, WHITECHAPEL ... Sie alle mögen diesen Begriff nicht. Das kommt alles von den Medien.“ Mark Heylmun stimmt dem zu: „Es war wie mit Nu Metal und Metalcore: Nicht die Bands haben das Genre erfunden, Deathcore war einfach nur eine Möglichkeit für Magazine, Musik in eine Schublade zu stecken.“ – „Es hatte aber auch viel mit den jüngeren Fans zu tun“, findet sein Band-Kollege. „Die denken sich doch ständig irgendwelche neue Subgenres aus.“

Es ist ein zweischneidiges Schwert: Ohne den Deathcore-Hype stünden wahrscheinlich weder ALL SHALL PERISH noch SUICIDE SILENCE da, wo sie heute sind. „Wären wir nicht als Teil dieses Genres wahrgenommen worden, wären wir nicht so im Gespräch gewesen“, gibt Mark Heylmun zu. Andererseits lehnten genau deshalb viele „richtige Metaller“ Deathcore von vornherein ab – wie zuvor Nu Metal und Metalcore. „Das war doch schon immer so. Die Leute mochten ALICE IN CHAINS nicht, weil sie angeblich Grunge machten, dabei ist das eine verdammte Metal-Band.“ – „Sobald etwas erfolgreich ist und auch von anderen Leuten gemocht wird, hat sich die Sache für viele Metal-Fans erledigt. Das ist eben die Mentalität vieler Metalheads“, pflichtet Ben Orum bei. „Das Einzige, was mich wirklich ärgert, ist, wenn jemand sagt: ,ALL SHALL PERISH? Machen die nicht Deathcore? Dann höre ich mir die nicht an.‘ Eine Band zu beurteilen, bevor man sie gehört hat – das nervt echt.“

All Shall Perish Band Logo

Es gab aber natürlich auch gute Gründe, eine Abneigung gegenüber Deathcore zu entwickeln. Jedes größere Metal-Label nahm plötzlich eine Band des Genres unter Vertrag – darunter richtig gute wie WHITECHAPEL, vor allem aber viel Mittelmaß. „Hinter den Kulissen der Metal-Szene betreiben Labels einen riesigen Marketingapparat. Wenn eine Band gehypet wird, dann pushen Plattenfirmen all diese kleinen Bands, die sich genauso anhören, um das schnelle Geld zu machen. Man ist Trends hilflos ausgeliefert. Wer wie ich die Mechanismen der Szene seit so vielen Jahren kennt, ist davon mit der Zeit echt genervt. Wer Geld hat, dessen Bands werden gehört. Die anderen nicht – egal, wie gut sie sind“, so Ben Orum. „Ist das, was ein Genre tötet, nicht der ganze Müll, der darauf folgt?“, fragt sich Mark Heylmun. „Der Grund, warum Metalcore langsam verschwindet, ist doch bei den ganzen Scheiß-Bands zu suchen, die die Szene überflutet haben.“ Bezogen auf Deathcore formuliert es Orum so: „Es gibt zwei oder drei Riffs, die alle Bands verwenden. Dazu kommt der Tanzstil und der ganze andere Mist. Es ist eine Modenschau geworden. Es gibt zwar ein paar Deathcore-Bands, die wirklich großartige technische Musik machen, aber eigentlich sollte man sie nicht Deathcore nennen, nur weil ein paar Breakdowns darin vorkommen.“

https://youtu.be/sQ5-NbE09vo (Öffnet in neuem Fenster)

Für ALL SHALL PERISH gab es nur eine Konsequenz: Sie mussten sich weiterentwickeln, wollten sie in der Masse an ähnlich klingenden Bands nicht untergehen: „Uns wurde klar, dass wir nicht noch einmal dasselbe Album machen konnten. Angesichts so vieler Klone mussten wir uns etwas einfallen lassen, um hervorzustechen.“ Für „Awaken The Dreamers“, das dritte Album der Band, hieß das: weniger Breakdowns, mehr Abwechslung, mehr Melodien – und keine Pig Squeals mehr. Bei SUICIDE SILENCE hatte es diese Art zu singen ohnehin nie gegeben („Man vermittelt keine Botschaft, sondern macht nur Geräusche und klingt wie ein Idiot.“), trotzdem wurden auch sie von ihren Nachahmern kreativ beflügelt: „Sie waren es erst, die uns dazu gebracht haben, ein Album wie ,No Time To Bleed‘ zu machen. ,The Cleansing‘ war sehr einfach gestrickt, deswegen waren die Songs so leicht zu kopieren. Manche davon haben wir in nicht einmal einer Stunde geschrieben. Bei ,No Time To Bleed‘ haben wir dann einen draufgesetzt und Sachen gemacht, die andere nicht gewagt hätten, weil es nichts mehr mit Deathcore zu tun hatte.“

Bei ihrem neuesten Album sind SUICIDE SILENCE jetzt sogar noch einen Schritt weitergegangen. „Wir haben alles über Bord geworfen“, sagt Mitch Lucker. Die Band hat nie einen Hehl daraus gemacht, auch Nu Metal zu mögen, spielte beispielsweise einen Song der DEFTONES nach oder ließ sich von Shawn Crahan von SLIPKNOT remixen, aber so deutlich wie auf „The Black Crown“ war dieser Einfluss noch nie – und das nicht nur, weil Jonathan Davis von KORN bei einem Song einen Gastauftritt hat. „Unbewusst war Nu Metal immer in meinem Kopf. Angesichts des Alters, in dem ich Mitte der Neunziger war, hatte diese Musikrichtung natürlich große Wirkung auf mich. Jonathan Davis ist der Grund, warum ich Sänger wurde.“

Angesichts von Bands wie EMMURE, die ebenfalls schon mit Nu Metal experimentierten, oder manchen Veröffentlichungen auf Victory Records in letzter Zeit (OTEP, TAPROOT, ILL NIÑO) könnte man also fast von einem kleinen Revival sprechen. „Es ist nicht wirklich ein Revival“, findet Mark Heylmun. „Die Kids, die früher auf Nu Metal standen, machen inzwischen eben selbst Musik, und dieser Einfluss kommt jetzt durch. Jeder, der heute zwischen zwanzig und dreißig ist, wurde davon beeinflusst, ob man dieses Genre damals nun mochte oder nicht. Außerdem ist es ja nicht so, dass wir uns wie eine Nu-Metal-Band anhören. KORN klingen wie KORN, DEFTONES wie DEFTONES und wir wie SUICIDE SILENCE. Deshalb heißt die neue Platte ja auch ,The Black Crown‘: Wir sind die Anführer von dem, was gerade abgeht.“ Einen Namen hat das, was gerade abgeht, noch nicht, aber irgendjemand wird sich schon so etwas Dummes wie „Nu Death Metal“ dafür einfallen lassen. SUICIDE SILENCE wäre das egal, ihnen ist angeblich nur wichtig, sich ständig weiterzuentwickeln: „Wir lieben Bands wie MASTODON, bei denen sich nicht jedes Album gleich anhört. Manchmal ist zwar eine Platte dabei, bei der die Leute sagen: ,Was zum Teufel habt ihr da gemacht?‘ Aber letztendlich klingt alles so, wie wir es wollten und wie uns unsere Einflüsse eben klingen lassen.“

Auch Ben Orum von ALL SHALL PERISH sieht die Tendenz zum Nu Metal in der Extreme-Metal-Szene, will mit seiner Band allerdings der melodischen und gleichzeitig brutalen Ausrichtung des aktuellen Albums „This Is Where It Ends“ treu bleiben: „Keiner in unserer Band steht auf Nu Metal. Ich weiß, dass das bei SUICIDE SILENCE anders aussieht, was vielleicht auch daran liegt, dass sie etwas jünger sind als wir. Als Death-Metal-Kid habe ich KORN in den Neunzigern zwar dafür respektiert, dass sie etwas Neues machten, aber sie haben danach doch ziemlich schnell abgebaut. Es ist eine interessante Richtung, die SUICIDE SILENCE da einschlagen, aber für uns wäre das nichts.“ Auf „This Is Where It Ends“ reißen ALL SHALL PERISH sogar die einzige Parallele ein, die man bisher zwischen ihnen und Nu Metal konstruieren konnte: Anstatt wie bisher siebensaitige Gitarren zu spielen, wie sie unter anderem von KORN populär gemacht wurden, greifen sie bei vier der neuen Songs auf Instrumente zurück, die eine Saite mehr haben – um damit einen Sound zu erzielen, der „die Eingeweide zum Schwingen bringen“ soll.

Halten wir fest: Alle Bands, die Deathcore begründet haben sollen, sind musikalisch inzwischen weitergezogen und sagen zu ihrer Musik Death Metal beziehungsweise einfach nur Metal. Trotzdem ist Deathcore nicht tot, schließlich gibt es noch genügend Bands, die ihre Musik so nennen. Es bleibt ein Satz, den Mitch Lucker in fast jedem Interview sagt: „Metal wird es immer geben.“ Und letztendlich ist es vollkommen gleichgültig, wie man die gerade aktuellen Strömungen nun nennt. „Es gibt nur zwei Arten von Musik: gute und schlechte“, soll Louis Armstrong in diesem Zusammenhang einmal gesagt haben. SUICIDE SILENCE schwören im Moment zum Beispiel auf THE DEVASTATED, die ihren Sound als „gross grimy groove“ bezeichnen – und damit nicht nur bei Wikipedia für hitzige Debatten sorgen dürften. „Ich fürchte, diese Band übersteigt den Horizont der meisten Leute. Sie klingt wie keine andere“, findet Lucker. Die meisten Kids im Internet sagen vorerst trotzdem einfach Deathcore dazu.

Thomas Renz

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https://steadyhq.com/de/fuzemagazine/posts/bf8ada8b-49fe-4454-87b2-89697839ab4c (Öffnet in neuem Fenster)
Kategorie Interviews

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