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ANTI-FLAG Interview (ungekürzt aus FUZE.80)

Wie man sich denken konnte, haben ANTI-FLAG im Moment wirklich viel zu erzählen. Da wir nicht alles in das aktuelle Heft pressen konnten, bekommt ihr hier die ungekürzte Version des Interviews mit Schlagzeuger Pat, welches Marcus für uns geführt hat.

2020: RÜCKSICHT, VORSICHT, KLARSICHT. Fünf Stunden vor dem Interview musste mein Onkel unsere Hündin einschläfern lassen, einen Tag nach ihrem 13. Geburtstag. So entsetzt wie wir über die unerwarteten Diagnosen Knochenkrebs und Knochenschwund waren, so entsetzt sind ANTI-FLAG seit 2016 über die amerikanische Politik. „20/20“ steht laut Urban Dictionary für „completely seeing the truth“ und in der amerikanischen Augenmedizin für ein fast perfektes Sehvermögen. Was es darüber hinaus mit „20/20 Vision“ auf sich hat und was die Band aus Pittsburgh sonst erschüttert, erklärt uns Schlagzeuger Pat Thetic.

Mit Chris und Justin habe ich für eure letzten Platten „American Fall“ und „American Reckoning“ jeweils ein Interview gemacht. Du bist der letzte, der mir von euch noch fehlt. Bei den anderen beiden habe ich das Gespräch jeweils mit den Pittsburgh Penguins begonnen ...

Eishockey ist mir ziemlich egal, haha. Viel spannender ist die Arbeitergeschichte in Pittsburgh. Ende des 18. Jahrhunderts spielte die Stahlproduktion eine große Rolle. Hier gab es einige der größten Arbeiterstreiks. Ein anderer interessanter Fakt ist, dass Menschen, die aus aller Welt in die USA kamen, verschlug es nach Pittsburgh und sie arbeiteten in den Stahlwerken. Diese Leute wurden im Laufe der Zeit zu den ersten Arbeitsrechtsaktivisten und bekämpften die Tyrannei der Stahlindustrie und Ausnutzung. Das ist der Teil Pittsburgh, der mich interessiert.

Es gibt also eine reiche Historie des Politaktivismus in Pittsburgh.

Genau. Es gibt eine Geschichte des politischen Aktivismus, aber auch ein konservatives, rückwärts gerichtetes Gefühl hier in Pittsburgh. Im Hinblick auf Arbeitsrechte ist Pittsburgh sehr progressiv. Im Hinblick auf LGBTI*-Menschen ist alles eher rückwärtsgewandt. Pennsylvania wurde bei der letzten Wahl von Trump gewonnen.

Pennsylvania gehört doch bei jeder Wahl zu den Swing States, richtig?

Genau. Wie interessant, dass jemand in Deutschland das Konzept eines Swing States in den US-Wahlen versteht.

Als sie noch liefen, war ich ein großer Fan der „Daily Show“ mit Jon Stewart und von „The Colbert Report“.

Das ist cool. Dort haben viele junge Menschen ihre politischen Ansichten her. Es ist witzig, dass du diese Quellen auch hast. Das ist ein positiver Aspekt in einer globalen Gesellschaft, dass Menschen Zugang zu Informationen haben, den sie ohne eine globale Kultur nicht hätten.

Mittlerweile gibt es in Deutschland die „Heute Show“, quasi eine Kopie der „Daily Show“. Immerhin haben wir jetzt politische Satire im TV.

Politsatire ist ein sehr wichtiger Teil der Kultur, um Ideen in den Mainstream zu tragen, ohne mundtot gemacht zu werden. Denn manche Dinge kannst du nicht einfach so öffentlich äußern, ohne massiv Gegenwind zu bekommen, aber wenn es Comedians witzig verpacken, geht es. Sie sind also ein wichtiger Bestandteil des politischen Dialogs. Es gibt hier in den USA aktuell definitiv eine Lücke, seitdem Stewart und Colbert nicht mehr laufen.

Was ist mit John Oliver?

Nein, das hat nicht ganz funktioniert. Das lag am Sender und dem Format seiner Show „Last Week Tonight“.

Foto: Karo Schäfer / cateyephotography.com

Aber zurück zum Thema. Wenn ich richtig liege, befasst sich „20/20 Vision“ mit dem Ausblick auf die US-Wahlen im November 2020. Fass bitte erst einmal die letzten drei Jahre zusammen.

Donald Trump wurde zum Präsidenten gewählt. Er hat Angsttaktiken und rassistische Ideen genutzt, um seine Macht auszuweiten. Außerdem versucht er die Demokratie in den USA zu untergraben.

Inwieweit spürst du den politischen Klimawandel, wenn du 2016 und 2019 vergleichst?

Auf einigen Ebenen war er sehr effektiv, wie bei der Ernennung einiger Richter. Diese Richter werden für lange Zeit ihr Amt ausüben. Er hat sehr konservative Richter ernannt. Das wird also einen nachhaltigen Effekt darauf haben, wie Gerichtsfälle und Debatten über Meinungsfreiheit entschieden werden. Es gab außerdem einen Rückschritt in der Umweltpolitik. Er hatte wiederum nicht genug Macht, um politische Strukturen zu verändern. Weil es ziemlich schwer ist, dass politische System zu ändern, konnte Trump es nicht stärker zu seinen Gunsten beeinflussen.

Er konnte also nicht so tief in die Verfassung eingreifen wie die Machthaber in der Türkei, Ungarn oder Polen?

Oder wie es Putin in Russland oder Xi Jinping in China taten. Sollte Trump wiedergewählt werden, gibt es aber Grund zur Sorge, dass dies passieren könnte, weil er sich theoretisch nicht um eine dritte Amtszeit scheren müsste.

In vielen Ländern verschiebt sich das Mächteverhältnis nach rechts. Was fiel euch auf Tour in solchen Ländern wie Brasilien auf? Habt ihr dort auch Veränderungen gespürt?

Uns fiel auf, dass es Menschen gibt, die diese Entwicklung täglich bekämpfen. Das ist inspirierend. Wenn wir zu Hause die Nachrichten sehen, denken wir natürlich, dass die Welt am Arsch ist und es niemanden interessiert. Glücklicherweise können wir weltweit Shows spielen und mit verschiedenen Aktivist*innen interagieren. Dadurch realisiert man, dass diese Menschen sich dem schwierigen Kampf stellen und nicht aufgeben. Das fällt uns am meisten auf. In den Nachrichten hören wir natürlich, dass der ungarische Ministerpräsident Orbán ein komplettes Arschloch ist. Aber wir haben tolle Menschen in Ungarn kennen gelernt, von denen wir wissen, dass sie das Regime bekämpfen.

Ihr habt also keinen immensen Paradigmenwechsel gespürt. Euch stachen eher vermehrt Menschen ins Auge, die sich diesem Wechsel entgegenstellen.

Absolut! Wir sind auf Tour solchen Paradigmenwechseln nicht direkt ausgesetzt. Wir verfolgen es in den Nachrichten. Was wir auf den Shows sehen, sind Leute, die das bekämpfen.

Welche Veränderungen hast du in deinem Umfeld in den letzten drei Jahren festgestellt?

Es betrifft alle unsere internationalen Freund*innen, die in den USA leben. Sie haben Angst, dass ihr Aufenthaltsstatus bedroht ist. Es gibt eine Zunahme an Hassverbrechen. Verschiedene Minderheiten werden attackiert. Hier in Pittsburgh ballerte vor etwa zwei Monaten ein Stück Scheiße in einer Synagoge herum. Politische und wirtschaftliche Flüchtende werden zurück in chaotische Krisengebiete und Gewalt gedrängt. Das sind die greifbaren Sachen. Das war in den Vierziger Jahren nicht akzeptabel, als Menschen aus Europa flüchteten. Es ist 2019 nicht akzeptabel, wenn Menschen aus Süd- und Zentralamerika fliehen.

Wie beeinflusste diese Zunahme an Gewalt „20/20 Vision“?

Es wird in den Songs angesprochen, wie Kinder in Käfige gesteckt werden. Wie die Moral versagt. Wie Rassismus, wirtschaftliche und sexuelle Unterdrückung oder Polizeigewalt gegenüber unbewaffneten dunkelhäutigen Menschen toleriert werden. Darum geht es unter anderem in „Un-American“.

(Öffnet in neuem Fenster)

Meiner Meinung nach habt ihr nicht nur textlich, sondern auch musikalisch eine Schippe draufgelegt. Stimmst du dem zu?

Wir wollten es nicht bei Andeutungen zu belassen. Trump ist ein Stück Scheiße. Wir haben sein Gesicht auf das Cover gepackt, weil wir glauben, dass er das Symptom einer politischen Strömung ist, die versucht, uns in eine fürchterliche Richtung zu lenken. Wir wollten nicht drumherum reden. Die Menschen, die er repräsentiert, sind Rassist*innen. Damit möchten wir nichts zu tun haben. Solche Menschen sollten unserer Meinung nach keine Macht haben.

Das Album hört sich wieder mehr nach Punk an. Ein Ausdruck von Wut?

Es gibt etwas mehr Metal-Einschlag bei einigen Songs, was wir zuletzt nicht so viel hatten. Es geht auch mehr nach vorne und ist aggressiver als das letzte Album.

Also wenn Trump eine zweite Amtszeit bekommt, werden wir dann in vier Jahren eine Hardcore-Platte von ANTI-FLAG hören?

Vielleicht, haha! Ich weiß nicht, was der nächste Schritt für uns wäre, was wir als Nächstes sagen würden. Hoffentlich werden wir nicht in dieser Position sein. Selbst wenn Trump nicht wiedergewählt wird, leben wir in einer Welt, in der Milliardäre Präsident werden können, das Einkommen der Arbeitenden weit von dem der Unternehmensbesitzenden entfernt ist und Umweltpolitik nicht dem Wohl der Bevölkerung dient. Es wird also unabhängig von Trump Themen geben. Es könnte aber natürlich noch aggressiver werden, falls er wiedergewählt wird. Es war das reinste Schmierentheater in den letzten fünf Jahren. Es gibt vieles, was getan werden müsste. Doch es scheint, als hätte das rationale Denken in den USA eine viereinhalbjährige Pause eingelegt. Das ist traurig.

Kannst du dir Justin und Chris vorstellen, wie sie ins Mikro shouten?

Es könnte passieren, haha. Man weiß nie.

Und die Saiten auf Drop A stimmen.

Wir spielen dann Drop C, haha!

Ich fände ein richtig aggressives Hardcore-Album von euch super!

Man weiß nie. Es passieren seltsame Dinge, wenn wir vier in einem Raum sind, haha.

Vorhin sprachen wir über die letzten drei Jahre. Was wird in den nächsten zwölf Monaten passieren?

Kommt darauf an, ob ich ein Optimist oder Pessimist bin.

Sei ein Realist.

Ich denke, es wird ein desaströser Wahlkampf. Es wird Lächerlichkeiten geben, von denen niemand profitiert. Ich habe die Angst, dass Trump versuchen wird, die Wahl als nicht akkurat darzustellen. Es gibt durchaus die Sorge in der Bevölkerung, dass dieser Präsident seine Macht nicht hergibt, wenn er abgewählt wird. Wenn er gewinnt, ist es mindestens genauso furchteinflößend.

Chris meinte im Interview zu „American Fall“, dass die Demokraten jede andere Person als Hillary Clinton hätten aufstellen können und sicher gewonnen hätten. Wer wird statt ihr 2020 kandidieren?

Das ist mir ziemlich egal. Sie werden dann immer noch von den gleichen Unternehmen und Eliten dominiert. Jeder, der gewählt wird, ist besser als Donald Trump.

PROPAGHANDI meinten einst zu mir, dass vielleicht irgendwann Kid Rock Präsident wird.

Alles ist möglich, haha! Wie wäre es mit Kanye? Die Bevölkerung toleriert ja Inkompetenz.

Was muss passieren, um eine zweite Amtszeit Trumps zu verhindern?

Menschen müssen sich organisieren und ihre Stimme erheben. Wie wir es in Hongkong sehen. Ich denke generell nicht, dass es gut ist, wenn Regierende zu lange an der Macht bleiben, wie es zum Beispiel bei euch in Deutschland mit Merkel der Fall ist. Ideen werden alt. Energie verbraucht sich. Man braucht konstant neue Leute dafür.

Vor allem in Anbetracht von Globalisierung und Digitalisierung. Vieles ändert sich so rapide, dass auch ich nicht mit allem mitkomme oder es verstehe. Wie sich dann wohl Menschen fühlen, die dreißig Jahre älter sind als ich?

Ja, tritt ab und lass es jemand anderes machen.

Danke für das Gespräch. Ihr seid super angenehme Interviewpartner. Man gibt euch ein Stichwort und ihr redet und redet.

Wenn wir alle gleichzeitig ein Interview geben, ist es anstrengend, weil wir alle viel sagen und hinzufügen, haha!

Daher mag ich auch keine Interviews mit allen Mitgliedern einer Band. Jeder sagt letztlich was und ich muss vieles kürzen, damit es ins Heft passt. Andererseits lieber so, als dass alles in einem Satz beantwortet wird. Kürzen ist besser als strecken müssen. Bei euch habe ich das Gefühl. dass ihr im Vergleich zu anderen Bands tatsächlich etwas zu sagen habt.

Wir sind eine Band, weil wir glauben, dass wir etwas zu sagen haben. Wir haben ziemlich lange durchgehalten.

(Öffnet in neuem Fenster)

Ja, euch gibt es fast seit dreißig Jahren.

Justin und ich sind zusammen aufgewachsen. In unserer Jugend gab es die Band mal und dann wieder nicht. Das offizielle Gründungsjahr ist 1994.

Wer hätte gedacht, dass eine melodische Polit-Punkband so lange durchhält? Und das ohne große Wechsel der Mitglieder ...

Tja, wer hätte es gedacht? Wir hatten viel Glück, dass wir es immer noch gerne tun und daran glauben.

... und in der Lage seid, alles Persönliche, was hier und da sicher in den Weg kommt, zu überwinden.

Das ist das Interessante in einer Band. Wie bekommt jeder, was er braucht, um weitermachen zu können?

Das ist generell die große Frage, wenn man eine Gruppe ist. Was sind die Bedürfnisse des Einzelnen? Was können Einzelne ablegen, um die Gruppe zu fördern? Und was kann die Gruppe für den Einzelnen tun?

Ich würde darüber gern mal eine Studie verfassen, wie Bands überleben. Alle Gruppen beschäftigt diese Frage, wie du es treffend sagst, aber bei Bands ist es noch einmal etwas spezifischer. Als Band brauchst du gewisse Meilensteine, wenn du eine Karriere einschlägst. Jede Hürde muss genommen werden und jede Band muss sich kreative Wege einfallen lassen, um ihre Probleme zu bewältigen, seien es Abhängigkeit, Drogen, Erfolg, Scheitern.

An welche Meilensteine denkst du?

Nicht jede Band, die sich gründet, wird davon leben können. Wie führen sie ihr Leben, um ihrer Leidenschaft nachzugehen, obwohl es an Geld fehlt? Wie wird damit umgegangen, wenn man dann doch bezahlt wird? Hat man dann genügend Geld, um den Lebensstil zu pflegen, den man sich vorgestellt hat? Wie steht man dabei im Vergleich zu den Menschen um einen herum da? Was ist man bereit zu opfern? Irgendwann kommen Beziehungen, Kinder, Familien. All das sind Hürden für einer Band.

Auch die persönliche Entwicklung wird irgendwann ein Thema. Man fängt an zu hinterfragen, ob dieses Bandding wirklich das wert ist, was man reinsteckt, vor allem im Vergleich zu dem, was man vielleicht in einem anderen Berufsfeld haben könnte.

Das Interessante für uns ist, dass wir das, was wir tun, nirgendwo anders bekämen. Es sind die Elemente des Aktivismus und der Musik und der Aufregung. Die Möglichkeit zu haben, mit anderen Aktivist*innen in Kontakt zu kommen, ist weniger gegeben, ohne Musik zu spielen.

Vermutlich wäre die einzige Chance, mit und zu so vielen Leuten zu sprechen, eine politische Karriere, am besten als US-Präsident zu kandidieren.

Bei einer Band wird es begrüßt, wenn sie so kreativ und interessant und anders wie möglich ist. In der Politik dagegen dreht sich alles um Anpassung. Das hat niemanden von uns je interessiert.

Marcus Buhl

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