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Der Bücherschrank.

Über meinen Großvater, einen Koffer voller Noten, Wünschelruten und ein Familiengeheimnis.

von Katharina Burkhardt

Mein Vater wuchs in Leipzig auf. Die Vorzeigesiedlung mit schmucken Doppelhäusern, großen Gärten und modernen Badezimmern mit Wanne und Wasserklosett entstand in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Der Krieg kam, alles lag in Trümmern, auch in der Siedlung. Nichts war mehr vorzeigbar. Die Leute bauten vieles wieder auf, neuer und moderner, so gut das in der DDR eben möglich war. Nur das Haus meiner Großeltern blieb, wie es war. Mein Großvater war ein Freigeist, ein Mensch, der sich für Bücher und Musik interessierte, nicht aber für Haus und Garten. Von Zeit zu Zeit strich er die Zimmerwände und den Gartenzaun, grundlegende Sanierungen fanden nie statt.

Die Fassade war rissig, der Keller ein feuchtes kohlenstaubgeschwärztes Loch, vor dem ich mich als Kind gruselte. Meine Großmutter kochte auf einem Kohlenherd, der neben dem Kachelofen im Wohnzimmer die einzige Wärmequelle im ganzen Haus war. Das blieb so, bis das Haus Anfang der neunziger Jahre verkauft wurde. Wenn wir zu Besuch waren, wusch meine Mutter uns Kinder in der Küche, mit Wasser aus einer Plastikschüssel. Der Braunkohlestaub lag schwer auf der ganzen Stadt, im Sommer, wenn wir barfuß liefen, waren unsere Füße rußgeschwärzt. Ich erinnere mich, dass ich einmal, als ich wohl noch sehr klein war, in der uralten freistehenden Badewanne saß. Wie ein Ungeheuer spie der Badeofen dampfendes Wasser aus, an dem ich mich fast verbrannte. Im Garten wuchsen Stachelbeeren, die wir direkt von den Sträuchern naschten, von den Birnen kochte meine Großmutter Kompott, das wir zum Nachtisch aßen, und morgens liefen wir durch die Siedlung zum Bäcker, bei dem wir für ein paar Pfennige Brötchen kauften, die knusprig waren und kräftig schmeckten, nicht so pappig wie die Brötchen bei uns im Westen.

Eine Holztreppe führte vom Erdgeschoss in den ersten Stock hinauf und weiter bis unters Dach. Dort befanden sich zwei Kammern, die früher als Kinderzimmer gedient hatten. Jetzt bewohnte den einen Raum meine Tante, die nie ausgezogen war. Mein Vater und sein Bruder waren deutlich älter, sie war eine Nachzüglerin, ein Kriegskind, wie mein Großvater entschuldigend sagte. In dem anderen Zimmer standen noch die Möbel meines Vaters, die er bei seiner Flucht in den Westen nicht hatte mitnehmen können. Wir Kinder übernachteten hier manchmal.

Wir liebten es, uns rittlings auf das breite Treppengeländer zu setzen und vom ersten Stock ins Erdgeschoss zu rutschen. Meine Großmutter schimpfte, wir machten es trotzdem wieder. Hatte man die Treppe erklommen, lief man direkt auf einen schweren dunklen Schrank zu. Er hatte drei Türen, die mit Ornamenten verziert waren. In die mittlere Tür war eine Glasscheibe eingelassen, hinter der ein grüner Vorhang hing. Manchmal öffnete mein Großvater den Schrank, ich erhaschte einen Blick auf Bücher und Klaviernoten, die sich in wildem Chaos stapelten. Der Schrank war genauso geheimnisumwoben wie Opa Ottos Zimmer, das niemand je betreten durfte. Erst nach seinem Tod half ich meiner Mutter beim Entrümpeln des Raums – und war verblüfft, wie wenig geheimnisvoll er in Wahrheit war.

Wir Kinder liebten den Vater unseres Vaters, er erwiderte diese Liebe mit ungelenker Herzlichkeit. Er roch nach China-Öl und in seiner Jackentasche trug er stets eine kleine Blechdose mit Pfefferminz- oder Salmiakpastillen, die er freigiebig verteilte, sie schmeckten scharf und unangenehm. Ein- bis zweimal im Jahr kam er uns im Westen besuchen, als Rentner durfte er jederzeit aus der DDR ausreisen. Am Revers seines Mantels steckte ein Parteiabzeichen der CDU, das muss den Grenzern wie eine Ohrfeige vorgekommen sein. Aber er war zu alt und unwichtig für den sozialistischen Staat, niemand schien ihm je Schwierigkeiten zu bereiten. Bei seinen Besuchen spielte er Brettspiele mit uns, bis er in seinem Sessel einschlief, übte mit uns Kindern das kleine Einmaleins, erzählte skurrile Geschichten und erfüllte das Haus mit seinem Klavierspiel. Die Noten schleppte er in seinem Koffer mit, er liebte die Klassik, Beethoven verehrte er besonders.

Genau wie sein Idol war er altersbedingt schwerhörig, am Ende fast taub. Unternommen hat er dagegen wenig, er hatte ein Hörgerät mit einem Taschenverstärker, das er hin und wieder benutzte. Ein Knopf im Ohr war über ein Kabel mit dem Verstärker verbunden, der auf dem Tisch lag. Mein Großvater drehte an einem Regler, aber viel schien das Hörgerät nicht zu bewirken, es landete rasch wieder in der Jackentasche. Da half nur lautes Reden, das im Laufe der Jahre zu einem Brüllen anschwoll. Beim Essen rauschte die Unterhaltung unserer großen Familie über meinen Großvater hinweg, er saß versunken in leicht gekrümmter Haltung am Tisch, was meinen Vater dazu veranlasste, von Zeit zu Zeit ein energisches »Gerade sitzen!« in die Runde zu schmettern, mit dem er nicht nur uns Kinder, sondern auch seinen Vater ermahnte. Dann straffte Otto grinsend den Rücken – um gleich darauf wieder zusammenzusacken und in seine Gedankenwelten abzutauchen. Irgendwann, während meine Mutter uns gerade nach unseren Hausaufgaben fragte und mein Bruder sich über seinen Englischlehrer aufregte, rief mein Großvater, der kein Wort davon mitbekommen hatte: »Napoleon hatte Kinder von drei verschiedenen Frauen, mit denen er nicht verheiratet war. Habt ihr das gewusst?« Wir Kinder kicherten, meine Eltern wechselten peinlich berührte Blicke und Opa Otto holte zu weitschweifenden Untermalungen seiner Behauptung aus.

Wenn er bei uns war, lud meine Mutter manchmal eine Diakonisse aus der Nachbarschaft ein. Schwester Ella hatte riesige Füße und schneeweiße Haare und trug eine perfekt sitzende graue Schwesterntracht. Sie schenkte uns Schokolade, die so schmeckte, als habe sie unzählige Weihnachts- und Osterfeste in einer Schublade verbracht, bis Schwester Ella fand, nun sei es an der Zeit, auszumisten. Ich fürchtete mich vor der alten Diakonisse, nicht nur wegen der Schokolade, für die wir uns artig bedanken mussten, sondern auch, weil sie uns Kinder so streng ansah wie eine Lehrerin. Mein Großvater hatte keine Angst vor ihr, er mochte Schwester Ella. Nach einem gemütlichen Plausch bei Kaffee und Kuchen (damals wurde noch nicht gebrüllt) setzte er sich ans Klavier und spielte Volkslieder, zu denen sie mit ihrer kräftigen Altstimme inbrünstig sang, die meisten Texte konnte sie auswendig. Wir Kinder lauschten höflich, bis meine Mutter uns erlöste und wir uns in unsere Zimmer verkriechen durften.

Meine Großmutter lernte ich als ruhige, in sich gekehrte Frau kennen. Möglicherweise war sie nicht immer so gewesen. Auf alten Fotos posiert sie mit einem Pelz, der um ihre nackten Schultern liegt, fast ein wenig gewagt. Wie sie und mein Großvater zueinander fanden, weiß ich nicht. Sie heirateten 1929, da war ihr erstes Kind bereits ein Jahr alt – für die damalige Zeit ein Skandal. Wir erfuhren auch erst davon, als meine Mutter nach dem Tod der beiden die Heiratsurkunde entdeckte und über das Datum stolperte. Sie mutmaßte, mein Großvater sei nicht der leibliche Vater meines Onkels, sondern habe großzügig darüber hinweggesehen, dass seine Braut ein uneheliches Kind mit in die Ehe brachte. Allerdings bestand zwischen beiden Brüdern und ihrem Vater eine starke Ähnlichkeit, was wiederum dafür sprach, dass sie dieselben Eltern hatten. Mein Vater schien von der ganzen Geschichte genauso überrascht wie wir zu sein, jedenfalls ließ er uns Kindern gegenüber nie etwas anderes verlauten. Was damals wirklich geschah, bleibt eins der Geheimnisse, die meine Großeltern mit ins Grab nahmen.

Ihre Ehe schien insgesamt schwierig zu sein. Ob das an den alten Geschichten lag, die an ihnen nagten, oder an ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, vermag ich nicht zu sagen. Meine Großmutter schlief allein im Schlafzimmer, während mein Großvater sich auf der anderen Seite des Flurs in sein kleines Zimmer neben dem Bad zurückzog. Ich erinnere mich an Streitereien, wenn wir zu Besuch waren. Oma Elise warf ihrem Mann vor, unzuverlässig zu sein. Er ging tatsächlich lieber ins Kino oder Theater, als sich um Familie, Haus und Garten zu kümmern. Selbst wenn der seltene Westbesuch da war, schaffte er das nicht recht. Meine Großmutter wiederum hat vermutlich an Depressionen und Angststörungen gelitten, auch darüber sprach niemand. Ich weiß nur noch, dass sie uns nicht besuchte. Der Krieg hatte sie nachhaltig traumatisiert, sie verließ Leipzig nie, selbst zu ihren Verwandten nach Dresden schaffte sie es kaum.

Ihr Mann reiste dafür umso lieber. Otto war ständig unterwegs, meistens in der DDR, gelegentlich auch im sozialistischen Ausland. Er schickte uns eng beschriebene Postkarten von seinen Reisen, die er mit »Euer Pa- und Opa Otto« unterschrieb. Mit seiner Voigtländer hielt er seine Eindrücke fest. Er war ein leidenschaftlicher Fotograf, der seine Motive mit abenteuerlichen Verrenkungen einfing, bei denen er sich bemerkenswerterweise nie den Rücken verzerrte. Leider war er auch so ziemlich der schlechteste Fotograf, den man sich denken kann. Kaum ein Bild, das nicht unscharf war oder auf dem die wichtigsten Elemente nicht abgeschnitten waren. Oft war auf den Bildern ein kahlköpfiger Mann zu sehen, mal stand er windschief in einer Ecke, mal fehlte der halbe Kopf, meistens war er so klein, dass man ihn kaum erkennen konnte. Der Peter war ein Freund meines Großvaters, mit dem er viel unternahm. Erst nach seinem Tod begriffen wir, dass Peter sein Nachname und nicht der Vorname gewesen war. Er starb, weil er eines Tages, wie uns Opa Otto mit dramatischer Stimme erklärte, auf dem Klosett zu fest gepresst habe, da sei eine Arterie geplatzt. Ich traute mich daraufhin jahrelang kaum noch auf die Toilette, weil ich fürchtete, mich könnte dasselbe Schicksal ereilen. Überhaupt erzählte mein Großvater gern Geschichten von sonderbaren Unglücksfällen und seltsamen Begebenheiten, wir wussten nicht recht, ob sie wirklich alle stimmten.

Otto kam 1903 zur Welt. Er erlebte zwei Weltkriege und das DDR-Regime. Er wurde im Zweiten Weltkrieg nicht eingezogen, angeblich, weil er eine kriegswichtige Arbeit hatte und vor Ort gebraucht wurde. Er war Ingenieur und arbeitete für das Leipziger Wasserwerk. Manchmal erzählte er von einer Telefonzentrale, in der er während des Kriegs arbeitete, und in der vermutlich Rohrbrüche und ähnliche Probleme gemeldet wurden. Aus Briefen geht hervor, dass er während der Kriegsjahre teilweise nicht in Leipzig lebte und meine Großmutter mit den Kindern allein war. Was genau er in dieser Zeit tat, bleibt unklar.

Otto befasste sich nicht nur beruflich mit Wasser. Er war ein Esoteriker, lange bevor dieses Wort salonfähig wurde. Er lief regelmäßig mit einer Wünschelrute umher und spürte Wasseradern auf. Mein Vater, der Schulmediziner, verdrehte die Augen, während meine Mutter mit Otto durch unseren Garten lief und fasziniert beobachtete, wie sich die beiden Drähte in seinen Händen plötzlich wie von selbst nach innen bogen. »Da kreuzen sich zwei Wasseradern«, verkündete er. »Wenn auf so einer Kreuzung ein Haus steht, kommt es häufig zu Krebserkrankungen, das ist wissenschaftlich erwiesen.« Mein Vater rollte noch mehr mit den Augen, aber meine Mutter überlegte ernsthaft, ob sie ihr Bett umstellen sollte. Unter Ottos Bett in seinem Zimmer in Leipzig lag ein großer Magnet, der ihn vor Erdstrahlen und Wasseradern schützen sollte. Er hatte die Zeitschrift für Radiästhesie abonniert, die sich mit Wünschelrutenforschung und Pendelkunde befasste. Soweit ich weiß, erschien die Zeitschrift nur in der BRD. Wie sie den Weg nach Leipzig fand, bleibt eins der vielen Rätsel, die mein Großvater hinterlassen hat.

Er bekam öfter riesige Präsentkörbe für irgendein Jubiläum – 40-jährige Betriebszugehörigkeit, 65. Geburtstag, 70. Geburtstag, 50-jährige Betriebszugehörigkeit. Otto arbeitete nach dem offiziellen Ruhestand einfach weiter, angeblich, weil er dringend gebraucht wurde. Möglicherweise hatte er aber bloß keine Lust, zu Hause zu bleiben. Auf Produktivität schien es im Sozialismus ohnehin nicht anzukommen, Hauptsache die Leute waren beschäftigt und kamen nicht auf dumme Gedanken.

Meine Großmutter starb Anfang der achtziger Jahre. Danach verlor ihr Mann zunehmend die Kontrolle über sein Leben. Er lebte weiterhin in dem kleinen Haus, zusammen mit meiner Tante, bei der sich eine psychische Beeinträchtigung offenbarte, die nie behandelt wurde und über die auch nie jemand sprach. Sie war genauso wenig in der Lage, den Haushalt zu führen wie mein Großvater. Der Garten verwilderte, die Farbe blätterte von Zäunen und Wänden, im Haus stapelten sich leere Flaschen und alte Zeitungen. Meine Tante zog ins Wohnzimmer, quer durch den Raum spannte sie eine Wäscheleine, auf der sie im Winter die Wäsche trocknete. Die Räume in den oberen Etagen blieben bis auf das Zimmer meines Großvaters unbewohnt und wurden zu Abstellkammern degradiert. Otto, der zeitlebens ein Film-Fan gewesen war und irgendwann begann, das Drehbuch zu seiner eigenen Familiengeschichte zu schreiben, ging jeden Nachmittag ins Kino, hauptsächlich, weil er dort ein warmes Plätzchen für seinen Mittagsschlaf fand. Wenn er zu uns kam, roch er nach altem Mann und trug einen verschlissenen Mantel. Statt Wäsche zum Wechseln befanden sich in seinem Koffer fast nur noch Notenbücher. Meiner Mutter war das peinlich, sie bat meinen Vater, mit ihm neue Kleidung zu kaufen.

Mein Großvater starb nach kurzer Krankheit. Das Haus vermachte er meiner Tante, weil er sie versorgt wissen wollte. Mein Vater und sein Bruder gingen leer aus. Meine Tante verkaufte das Haus und löste sich danach buchstäblich in Luft auf. Niemand hörte oder sah je wieder etwas von ihr.

Mein Vater holte einige Möbelstücke, die ihm gehörten, nach Hamburg. Auch den Bücherschrank, der all die Jahre im Flur im ersten Stock gestanden hatte, nahm er mit. Rund zehn Jahre später landete er bei mir. Ich war gerade in meine erste eigene Wohnung gezogen, vorher hatte ich in Lüneburg in einer Studentinnen-WG gelebt. Alles war neu und sauber, die ganze Wohnung war saniert worden, es roch noch nach Farbe. Fehlten nur die Möbel. Mein Vater hatte den Schrank in einer Tischlerei aufarbeiten lassen, zwei Männer schleppten ihn in den ersten Stock hinauf in mein Wohnzimmer. Ich putzte die Scheiben und entfernte den verblichenen grünen Vorhang. Hinter das Glas stellte ich Gläser und Vasen, in den Seitenteilen verstaute ich Bücher und Fotoalben.

Der Schrank stand bei mir immer an derselben Stelle, mit Blick aus dem Fenster, hinaus in die Welt, dreiundzwanzig Jahre lang. Wenn ich renovierte, legten wir Pappen unter die Füße und schoben ihn ein Stück von der Wand weg. Der Schrank hatte Gewicht. Er wurde von meinem Urgroßvater gebaut, der war Schreiner. Vermutlich schenkte er ihn meinen Großeltern zur Hochzeit. Jedenfalls war der Schrank fast hundert Jahre alt. Er trug Erinnerungen in sich wie das Regalbrett, auf dem mit Bleistift in altdeutscher Schrift »Rudi« und »Hansi« stand, dazwischen ein Trennstrich. Mein Vater und sein Bruder erhielten je eine Hälfte des Fachs für sich. Oder der Stempel in der Tür: Ing. Otto Burkhardt Leipzig. Und der Geruch nach Bücherstaub und jahrzehntealten Erinnerungen.

Der Schrank war ein Monument, etwas Unverrückbares, er war immer da, und mir schien, dass er auch weiterhin immer da sein würde. Doch ich fand das Holz manchmal etwas dunkel und ärgerte mich über die hin und wieder abfallenden Halterungen für die Regalbretter. Mehr als einmal waren die Bretter samt Büchern und Ordnern zusammengekracht, zum Glück wurden die Vasen und Gläser nie in Mitleidenschaft gezogen. Als mein Umzug anstand, war daher schnell klar, dass ich den Schrank nicht mitnehmen würde. Er hatte seine Zeit bei mir und meiner Familie hinter sich.

Doch wohin mit etwas, das den Herzschlag von vier Generationen einer Familie in sich trug? Das nicht alt genug war, um als antike Kostbarkeit zu gelten, und nicht zeitlos genug, um in einem modernen Haushalt Platz zu finden? Als die Nachbarin aus dem Stock über mir mich auf den Schrank ansprach, erschien mir das wie eine Fügung. Sie wollte mir Geld geben, ich überließ ihn ihr als Dauerleihgabe, wohlwissend, dass die Betonung auf Dauer lag, nicht auf Leihgabe. Es gab nur ein Problem: Der Schrank musste irgendwie zu ihr hinauf gelangen. Wir beide konnten ihn unmöglich tragen, er war viel zu schwer.

Ich fragte herum, aber niemand traute sich zu, den alten Schrank zu schleppen – »zu schwer, zu kompliziert«, winkten alle ab. Professionelle Möbelpacker waren zu teuer, das kam nicht infrage. Völlig überraschend fand ich bei nebenan.de (Öffnet in neuem Fenster), einem Nachbarschaftsnetzwerk, zwei Männer, die sich bereit erklärten, es wenigstens mal zu probieren. Und sie schafften es! Wildfremde Menschen schleppten für ein herzliches Dankeschön Opa Ottos Schrank von meinem Wohnzimmer die Treppe hinauf. Ich konnte nicht glauben, dass es wirklich noch Leute gibt, die so selbstlos sind. Die Freude meiner Nachbarin war unbeschreiblich, ich sah das Glück in ihren Augen und überließ ihr den Schrank voller Dankbarkeit. Es erfüllte mich nicht nur, dass ich jemanden beschenkt hatte. Mich beseelte auch der Gedanke, dass ein Stück von mir in dem Haus zurückblieb, das mir über zwei Jahrzehnte Heimat gewesen war.

Mein Großvater starb im November 1989. Die politischen Veränderungen bekam er noch mit, den Fall der Mauer nicht mehr. Als wir zur Beerdigung nach Leipzig fuhren, waren die Grenzer ungewohnt entspannt. Sie benahmen sich nicht wie Roboter, sondern sprachen freundlich mit uns – eine völlig neue Erfahrung. Den Kofferraum hatten wir mit Kränzen und Gestecken beladen, die wir im Namen unserer Ostverwandtschaft gekauft hatten. Blumen waren in der untergehenden DDR gerade Mangelware. Bei der Beerdigung gaben die Sangesbrüder des Männergesangvereins, in dem mein Großvater Mitglied gewesen war, ein Ständchen. Es war die würdevolle Verabschiedung eines Mannes, den viele Menschen geschätzt hatten, vielleicht gerade, weil er nicht so angepasst wie die meisten anderen gewesen war.

Wir schliefen nach der Beerdigung im ehemaligen Schlafzimmer meiner Großmutter im ersten Stock des mittlerweile völlig verwahrlosten Hauses. Es war bitterkalt, wir behielten unsere Kleidung an, damit wir unter den klammen Decken nicht zu sehr froren. Nachts wurde ich von einem Geräusch geweckt. Es schien mir, dass jemand durch das Haus lief, die Treppe und die Dielen knarzten. Aber das konnte nicht sein. Weder mein Vater noch meine Schwester, mit denen ich das Schlafzimmer teilte, hatten den Raum verlassen. Meine Tante schlief im Erdgeschoss. Dort war es vollkommen still. Keine Tür klappte, keine Toilettenspülung wurde betätigt. Ein eisiger Schauer erfasste mich, reglos starrte ich in die Dunkelheit. Ich war mir sicher, dass mein Großvater durch das Haus geisterte. Vielleicht war er noch einmal in sein Zimmer zurückgekehrt, in dem er so viele Geheimnisse gehütet hatte. Wer weiß.

Ich erzählte nie jemandem davon – bis ich kürzlich mit meiner Schwester darauf zu sprechen kam. »Hattest du damals eigentlich auch das Gefühl, dass Opa nachts durchs Haus geschlichen ist?«, fragte ich beiläufig. »Ja«, sagte sie mit großer Klarheit. Mein Großvater war zeitlebens ein unruhiger Geist gewesen, neugierig und nicht abgeneigt, das Undenkbare zu denken. Es überrascht mich nicht, dass er nach seinem Tod nicht sofort Ruhe fand, sondern noch ein Weilchen in seinem Haus herumspukte. Als ich viele Monate später ein letztes Mal dorthin zurückkehrte, war er verschwunden. Geblieben waren nur unendlich viele Dinge, die von einem bewegten Leben zeugten.

Ein ähnliches Erlebnis hatte ich übrigens, als die Mutter meiner Mutter starb. Doch das ist eine andere Geschichte.

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