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Die Macht der Gewohnheit

Über die Karthographie eines Hauses, seltsame Dialekte und ländliche Stille

von Katharina Burkhardt

In meiner Wohnung fand ich mich blind zurecht. Wie viele Schritte es vom Bett bis zum Bad oder in die Küche waren, vermag ich nicht zu sagen, ich habe sie nie gezählt. Mein Körper kannte die Entfernungen auch so. Die Abstände zwischen den Zimmertüren und Möbelstücken, die Höhe des Nachttischs und die Breite der Duschwanne, die Entfernung zwischen Schreibtisch und Fenster, vom Herd zum Kühlschrank zum Handtuchhaken. Jeder Schritt, jeder Handgriff saß. Ich könnte die Wege vermutlich auch jetzt noch mit geschlossenen Augen bewältigen, hätte ich die Möglichkeit, mich zurück in die Wohnung zu beamen.

In meinem neuen Zuhause dauerte es lange, bis sich dieser Automatismus einstellte. In dem alten Häuschen gibt es im ersten Stock, wo sich das Schlafzimmer befindet, kein Bad. Ein Albtraum! Lange fürchtete ich, im Halbschlaf auf dem Weg zur Toilette die Treppe runterzufallen – nicht ganz abwegig, ich bin bereits einmal sehr böse auf dieser Treppe gestürzt, und das am helllichten Tag. Mittlerweile habe ich mir den Weg verinnerlicht. Ich bleibe bewusst vor der obersten Stufe stehen und mache konzentriert den ersten Schritt, selbst mitten in der Nacht. Und auch im Schlafzimmer taste ich mich im Dunkeln nicht mehr mit weit ausgestreckten Armen vorwärts. Neuerdings finde ich den Weg. Wie von selbst gehen meine Beine am Fußende des Bettes vorbei, ohne dass ich mich stoße. So wie einst meine Wohnung hat mein Körper nun auch dieses Haus für sich kartographiert und innerlich vermessen. Zwei Jahre hat er dafür gebraucht. Zwei Jahre, in denen ich ununterbrochen hier gewohnt habe. So lange? Ja.

Küchentisch aus hellem Holz mit zwei Stühlen, kleine gelbe Vase mit violetten Blumen darauf. Im Hintergrund Balkontür und Kühlschrank.

Bis wir Gewohnheiten angenommen haben, kann viel Zeit vergehen. Ganz allmählich brennen sie sich uns ein, verselbständigen sich und finden automatisch statt, ohne dass wir darüber nachdenken. Ich nehme mir oft vor, jeden Tag Gymnastik zu machen. Klappt super – für ein paar Tage oder Wochen, dann siegt die Gewohnheit, faul zu sein. Zu meinem Hamburger Leben gehörte zumindest der regelmäßige Gang ins Fitnessstudio und Schwimmbad dazu, er war immer Teil meines Alltags. In meinem neuen Leben gehörte Sport nie zum Alltag, ich zog während der Pandemie um, da war das alles komplizierter. Jetzt ein Sportprogramm zu etablieren, egal ob zu Hause oder im Verein, fällt mir wahnsinnig schwer.

Auch andere Gewohnheiten sind verschwunden. Ich bin früher häufig mittags essen gegangen, es tat mir gut, die einsame Schreibtischarbeit zu unterbrechen und die Wohnung zu verlassen. Manchmal traf ich mich zum Essen mit Freunden oder Kollegen, oft genoss ich es auch einfach, still die anderen Gäste zu beobachten. Diese Zeit draußen gab mir Energie, sie war eine Art Selbstfürsorge. Jetzt gehe ich stattdessen mittags mit dem Hund spazieren. Das ist auch erholsam und die Bewegung tut mir zweifellos gut. Aber das Gefühl von »Erleben« ist ein völlig anderes.

Kürzlich erzählte ich meiner Physiotherapeutin, dass ich Neu-Saarländerin bin. »Und Sie sprechen immer noch kein Saarländisch?«, fragte sie scherzhaft. Nein. Das werde ich wohl auch nie. Vielleicht haue ich mal ein beherztes »Ei jo« oder »Ei gudd« raus, das muss reichen. Ich bin schon froh, wenn ich alles verstehe – was längst noch nicht der Fall ist. Einen Dialekt muss man lernen wie eine Fremdsprache. Ich vermute, es ist sogar noch schwieriger, man muss ihn leben. Viele Begriffe haben mit regionalen Besonderheiten zu tun, die auch auf Hochdeutsch schwer zu verstehen sind. Vielleicht liegt es auch nur an mir und meiner Sprachunbegabung, dass ich mich damit schwer tue.

Ich habe nie gesächselt, obwohl meine Eltern beide aus Sachsen stammten. Aber sie bemühten sich, Hochdeutsch zu reden, was meinem Vater besser gelang als meiner Mutter, die gern die weichen und harten Konsonanten durcheinanderbrachte - »auf Fietersehen«. Immerhin weiß ich, was ein Muzel ist und ein Heeßer und eine Bemme. Begriffe, die hängen blieben, genau wie Griebsch und eiforbibbsch (wie in vielen Dialekten gibt es hier verschiedene Schreibweisen). Ich weiß auch, was ein Frostköttel ist und eine Nuckelpinne und was es heißt, wenn sich jemand bedötscht fühlt - stammt alles aus dem Ostwestfälischen, wo ich aufwuchs. Gesprochen habe ich den Dialekt nie, aber meine Stimme nahm wohl seine Klangfarbe an und auch ich sagte Kiache statt Kirche. Bis ich nach Hamburg zog. Mein Vokabular erweiterte sich um Wörter wie moin und Deern, hökern und Buddel. Und meine Aussprache wurde im Laufe der Jahre weicher, verschliffener, norddeutsch irgendwie. Jedenfalls sagen das Leute, die nicht aus dem Norden stammen. Doch ich spreche weder Hamburger Platt noch Niederdeutsch oder Missingsch.

Und nun also Saarländisch, das in jedem Dorf anders klingt. Hier mischen sich rheinfränkische, moselfränkische und elsässische Dialekte - weswegen in gefühlt jedem Wort ein sch vorkommt. Hascht, fescht, bischt. Ich weiß mittlerweile, was ein Dauerschreiber ist (ein Kugelschreiber), dass mit Weste eine Strickjacke gemeint ist und mit Grund (Blumen-)Erde. Ich wundere mich nicht mehr, wenn jemand Verben falsch dekliniert und sagt: »Isch hann gedenkt.« (Ich habe gedacht.) Und ich respektiere, dass man hier höflich »Guten Tag« statt lässig »Moin« sagt und viel zurückhaltender damit ist, Leute zu duzen, als ich es gewohnt bin.

Woran ich mich nicht gewöhnen werde, ist die Versächlichung der Frau. Die wird im Saarländischen nämlich nicht mit dem Personalpronomen sie oder dem weiblichen Artikel versehen, sondern zum es. »Es Katharina hat gedenkt, es hört nicht recht.« Hallo?! Gehts noch? Das ist übrigens kein Alte-Leute-Ding, das machen alle so, außer sie sprechen reines Hochdeutsch. Sprache prägt eine Gesellschaft und die geringe Wertschätzung der Frauen ist im Saarländischen und anderen Dialekten noch tief verankert.

Woran ich mich hingegen immer besser gewöhne, ist das langsame Tempo. Egal, wo man hinkommt, die Leute scheinen alle Zeit der Welt zu haben. Ob beim Arzt oder Bäcker, immer gibt es noch ein Schwätzchen, ungeachtet der langen Schlange, die sich hinter einem gebildet hat. Das kenne ich aus Hamburg nicht. Erstens, weil in der Großstadt ein anderes Tempo herrscht, zweitens, weil die Norddeutschen nicht so geschwätzig sind.

Einmal nahm ich an einem Autorentreffen in Saarbrücken teil. Ich kannte diese Treffen aus Hamburg als konzentrierte, moderierte Veranstaltungen, die nach zwei, spätestens drei Stunden vorbei waren. Die Leute haben schließlich noch anderes zu tun, in der Hektik des Großstadtlebens ist Zeit kostbar und wird knapp kalkuliert. Entsprechend hatte ich geplant – und war dann leicht irritiert, dass die saarländische Runde deutlich gemütlicher unterwegs war, herzlich und begleitet von viel Gelächter, aber völlig planlos. Nach zwei Stunden überlegten die Ersten, sich was zu essen zu bestellen, und die Gespräche kamen gerade erst richtig in Gang. In Hamburg wären wir da längst mit allen Themen durch gewesen und nach Hause gegangen. Was ich auch diesmal tat, begleitet von erstaunten Blicken – »Wie, du gehst schon?«

Mittlerweile schiele ich nicht mehr ungeduldig auf die Uhr, sondern lasse die Zeit einfach verstreichen, in der Schlange beim Bäcker genauso wie bei beruflichen oder privaten Treffen. Ich werde ja auch älter, da kann man ruhig einen Gang runterschalten. Andererseits schafft man dadurch nicht so viel. Da sind wir wieder beim Motto der Saarländer angelangt: »Hauptsach gudd gess, geschafft hann mir schnell.« Ich gestehe, dass ich an dem zweiten Teil des Satzes gewisse Zweifel hege. Aber was weiß ich schon?

Woran ich mich übrigens ruckzuck gewöhnt habe, ist die Stille. Wir wohnen direkt am Wald, in unsere kleine Stichstraße fahren nur die Autos der drei Nachbarn, jeder Fremde fällt sofort auf. Wenn ich mittags mit dem Hund im Wald spazieren gehe, treffen wir manchmal keinen Menschen. Im Frühling sitze ich gern vor dem Haus, mit Blick auf die Straße, weil es dort in dieser Jahreszeit am sonnigsten ist. Ab und zu kommt jemand mit seinem Hund vorbei oder eine Katze schleicht durchs Gebüsch. Ansonsten: Ruhe. Himmlische Ruhe.

Im Schwimmbad habe ich immer Platz zum Schwimmen, selbst im Hochsommer im Freibad. Ich brauchte eine Weile, bis ich das herausfand, in den ersten Jahren traute ich mich nicht hin, weil ich bei knalliger Sonne und Schulferien Massenanstürme wie in den Hamburger Freibädern fürchtete. Doch wundersamerweise dümpeln im Schwimmerbereich nie Kinder mit Schwimmflügeln oder toben übermütige Jugendliche mit Bällen herum. Es ist Platz für alle da. PLATZ! Ein Fremdwort für Großstädter.

Sommerlicher Garten mit Bananenstauden und anderen Grünpflanzen, Teich und weißem Sonnenschirm.

Überhaupt die Sommer. Ich liebe sie. Vorbei sind die Zeiten, in denen ich sorgenvoll den Wetterbericht anschaute, weil schon wieder irgendein Sturmtief von Westen aufzog und die eigentlich wärmsten Tage des Jahres verregnen ließ. Im Saarland ist Sommer. Garantiert. Und Sommer ist für mich Draußenzeit. Da fängt der Tag im Garten an, ich frühstücke in der Morgensonne auf der Terrasse, laufe barfuß über den Rasen und begutachte meine Kräuter und Blumen in den Beeten. Das ist wie Urlaub, jeden Morgen neu. Die Ruhe ist unglaublich, der kleine Garten, in dem Palmen und Bananenstauden wachsen, verstärkt mein Urlaubsgefühl noch. Fehlt nur der Blick aufs Meer. Ich begnüge mich mit dem winzigen Goldfischteich.

Abends sitzen wir draußen, bis wir müde werden. Der Fernseher bleibt in dieser Jahreszeit meistens aus, die Winter sind lang genug, um auf dem Sofa zu hocken. Wir trinken Wein und lauschen den Tieren im Wald. Ein Fuchs schleicht die Straße entlang, eine Maus huscht über die Gartenmauer, Fledermäuse flattern um die Straßenlaterne. Auf den Steinen in der Einfahrt krabbeln Käfer und andere Insekten. So viel Leben, das erst in der Dämmerung erwacht. In diesen Momenten bin ich angekommen, lebe im Jetzt und vergesse, wo ich hergekommen bin. Da spüre ich, dass nicht nur mein Körper das Haus vermessen hat, sondern auch meine Seele das Leben drumherum. Dass ich neue Gewohnheiten verinnerlicht und alte abgelegt habe.

Nur manchmal vermisse ich den Hafen, meine Lieblingscafés, meinen Sportverein und vor allem meine Freunde und Familie. Dann spüre ich, dass es etwas gibt, an das man sich nicht gewöhnen kann, so sehr man sich auch anstrengt. Doch das ist eine andere Geschichte.

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