Fight or Flight?
Heute geht es nicht um Daten oder die Vorhersagen von Analysten. Es geht um meine subjektive Einschätzung der aktuellen Situation an den Finanzmärkten. Es geht um Bauchgefühl und Wahrscheinlichkeiten.
Ja, das ist möglicherweise Hokuspokus. Fakten schlagen Bauchgefühl. Kann sein. Ist auch oft so. Doch wer sich ein bisschen mit emotionaler Intelligenz beschäftigt, weiß, dass Bauchgefühl erlernte Intelligenz bedeutet. Reaktionen des Körpers sind schneller als die sorgfältige Analyse, die im Gehirn stattfindet. Reaktionen des Körpers passieren nicht zufällig. Sie haben eine Ursache, die tief verborgen ist und deshalb scheinbar ohne Grund zu sein scheint. Aber oft ist das Gefühl ein guter Ratgeber.
Was hat das mit den Finanzmärkten zu tun?
Der Endspurt an den Finanzmärkten ist kraftvoll und hat innerhalb weniger Tage sämtliche Widerstandslinien pulverisiert und neue Höchstkurse sind fixiert. Das ist beeindruckend.
Gestern knallten die Champagner-Korken, weil die FED den Leitzins nicht etwa gesenkt hat – nein, der Status quo wurde lediglich bestätigt und Entscheidungen wurden verschoben ins nächste Jahr. Hat sich dadurch etwas geändert an der Gesamtsituation? Nein. Steigen die Kurse? Jaaa.
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Trotzdem fühlt sich für mich der Markt gerade sehr komisch an. Bauchgefühl, is klar. Aber denken wir weiter: Wenn ich etwas komisch finde, dann fühle ich mich nicht wohl in meiner Haut. Dann bin ich im Fight-or-Flight-Modus. Dann möchte ich kämpfen (wie gut stehen meine Chancen?) oder flüchten. Oder ich mache lieber nix bei meiner strategischen Positionierung.
Im Newsletter eines Brokers wurde diese Woche die Frage gestellt, ob der Markt nie wieder fällt. Nach allen Marktregeln kann das natürlich nicht sein. Wird auch nie so sein. Aber wenn sich kritische Betrachter eine solche Frage stellen (und den Mut haben, sich in der aktuellen Partylaune öffentlich zu äußern), dann höre ich genau hin. Was die Masse sagt, interessiert mich nicht. Masse liegt meistens falsch. Ich höre auf die einzelnen Stimmen, die eine abweichende Meinung vertreten.
Ähnlich wie der Autor des erwähnten Newsletters (Ronald Gehrt) bin ich der Überzeugung, dass das, was an den Märkten passiert, im Zusammenhang mit den aktuellen wirtschaftlichen Daten einfach nicht passt. Für mich sieht das aus wie eine Schieflage in der Wahrnehmung. So wie Michael Burry 2006 gegen den Immobilien-Markt gewettet hat und dieser trotzdem zwei Jahre nicht gefallen ist. Wenn etwas nicht passt und die Schieflage in der Wahrnehmung wird größer, dann sind das harte Zeiten für kritische Marktteilnehmer.
Meiner Ansicht nach wird der Markt gerade „künstlich“ stabil gehalten. Das ist eine Situation, die ich nicht mag und deshalb einfach aussitzen muss. Long-Positionen laufen lassen. Buchgewinne sind klasse. Ich freue mich darüber wie jeder andere auch. Als Verkäufer von Optionen stehe ich seit 8 Wochen auf der Put-Seite. Läuft! Aber strategisch positionieren mit den Cashreserven möchte ich mich trotzdem nicht. Geld zusammenhalten. Kapitalerhalt!
Mark Minervini schreibt seit Wochen, dass es aktuell im Bereich Aktien nix gibt, wo er aktuell noch richtig Geld machen kann. Damit meint er das Chance-Risiko-Verhältnis bei Eröffnen von neuen Positionen sowie die Tatsache, dass die Versuche, es trotzdem zu probieren, scheitern, weil Bewegungen in einzelnen Aktien nicht nachhaltig sind.
Das Gold im Kielwasser steigender Aktienindizes die 2000-Dollar-Marke spielerisch nach oben überwunden hat, ist auch etwas, was ich als Kontraindikation betrachte.
So wie ich das sehe, haben wir immer noch einen Cocktail aus Inflation, einer möglichen Rezession und mehreren geopolitischen Krisen (darunter zwei Kriege), die sich ausweiten können. Der Leitzins in den USA und der Eurozone wurde nicht gesenkt. Aussagen, dass 2024 mehrere Zinssenkungen anstehen, verorte ich in die Abteilung public relations. Das sind lediglich Erwartungen, dass es so kommen kann. Aber eben nicht muss. Bei der aktuellen gesamtwirtschaftlichen und politischen Lage passt es einfach nicht, dass die Kurse gerade so hoch stehen und on top noch Zinssenkungen passieren.
Für mich ist das eher erklärbar mit dem psychologischen Phänomen des Herdentriebs. Nicht wenige Marktteilnehmer mit Cash an der Seitenlinie seit Frühjahr und Sommer 2023 wurden auf dem falschen Fuß erwischt durch den starken Anstieg der Kurse in den letzten 8 Wochen.
Wenn du zusehen musst, wie die Kurse steigen und dann auf dein Cash schaust, dann stehst du unter Druck. Das Schlimmste, was Menschen passieren kann, ist die Reue. Reue, etwas verpasst zu haben. Bedauern darüber, nicht mutig gewesen zu sein und long zu sein bei dieser schönen Rallye.
Dieses Gefühl der Reue macht dich so fertig und du grübelst darüber nach, wie du in den Markt reinkommen kannst. Irgendwann wirst du mürbe. Irgendwann bist du so fertig und dann steigst du ein. Du willst auch dabei sein. Nicht am Rande stehen wie der letzte Idiot. Also Feuer frei und kaufen.
Ob das funktioniert, werden wir sehen. Keiner weiß, wie lange das Feuerwerk weitergeht an den Börsen. Aber eins ist sicher – Silvester gibt es auf jeden Fall ein Feuerwerk.