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Kinderarmut bekämpfen? «Wünschenswert, aber nicht möglich»

Eigentlich wollte ich einen Brief an Christian Lindner schreiben. Süß, nicht wahr? Nach so vielen Jahren als politische Journalistin und Autorin habe ich doch tatsächlich noch immer kurze Momente der Naivität. Dabei müsste ich es eigentlich besser wissen. 

Für mein Buch «WIE VIEL (Öffnet in neuem Fenster)» schrieb ich Christian Lindner im vergangenen Jahr eine E-Mail. Ich fragte ihn, wie er das Ziel der Weltgemeinschaft einhalten will, bis zum Jahr 2030 extreme Armut auf der Welt zu beenden. Seine Büromanagerin antwortete, Christian Lindner hätte keine Zeit. Zeitglich sah ich auf Twitter, dass er einer Userin eine Direktnachricht sendete, die über seine möglichen Schönheitsoperationen schrieb. Während dieser Zeit, in all diesen Krisen, schrieb also der Finanzminister lieber eine Twitter-Direktnachricht zu seinen möglichen Schönheitsoperationen statt eine Antwort auf eine Mail-Anfrage zur Abschaffung von Armut auf der Welt. 

Seine Prioritäten scheinen klar, auch jetzt wieder. Heute morgen machte eine Nachricht die Runde: Laut SPIEGEL Online (Öffnet in neuem Fenster) sieht Christian Lindner im Bundeshaushalt «kaum Spielraum für die von den Grünen geforderte Kindergrundsicherung». Lindner sagt: «Für Familien mit Kindern ist bereits viel passiert». Er verweist auf die Erhöhung des Kingergelds. Und sagt: Mehr sei zwar «immer wünschenswert, aber nicht immer möglich».

https://twitter.com/Mareicares/status/1642420515976429568?s=20 (Öffnet in neuem Fenster)

Was im Artikel vergessen wurde: Die Kindergrundsicherung wurde zwar von den Grünen eingebracht, ist aber Teil des gemeinsamen Koalitionsvertrags von SPD, Grünen und, ja, auch FDP. Denn diese drei Parteien haben sich auf genau diesen Koalitionsvertrag (Öffnet in neuem Fenster) geeinigt, in dem auf Seite fünf steht: «Wir wollen Familien stärken und mehr Kinder aus der Armut holen. Dafür führen wir eine Kindergrundsicherung ein.»

Von der Erhöhung des Kindergelds kommt bei vielen Kindern, die von Armut betroffen sind, gar nicht an.  So kritisiert zum Beispiel die Geschäftsführerin des Verbands für Alleinerziehende: «Das Problem ist das Zusammenspiel mit dem Unterhaltsvorschuss und dem SGB II. Hier kann die Kindergelderhöhung keine Wirkung entfalten. Das Kindergeld wird erhöht, aber zu hundert Prozent auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet, der sich dann entsprechend reduziert».

Die Erhöhung des Kindergelds läuft für die ersten beiden Kinder auf ungefähr 31 Euro mehr im Monat heraus. Für das dritte Kind sind es rund 25 Euro. Wer in letzter Zeit mal Lebensmittel einkaufen war, wird schnell merken, dass es eigentlich nur eine Anpassung an die Inflation ist.

Der neue Kinderzuschlag (Öffnet in neuem Fenster) erreicht nach Angaben der Bundesregierung schätzungsweise nur etwa jedes dritte anspruchsberechtigte Kind. Viele Familien wissen bis heute nicht,  dass sie überhaupt einen Anspruch auf Kinderzuschlag haben. Geplant war, den Kinderzuschlag und andere staatliche Leistungen für Kinder in der Kindergrundsicherung zusammenzuführen. Mit Christian Lindner als Finanzminister wird das aber wohl nichts. 

Stattdessen hat er eine andere Idee, was er mit Geld machen möchte. In der vergangenen Woche wurde von einem Betrag von 2,2 Milliarden Euro berichtet, der aus einem nationalen Fonds zur Bankenrettung kommt. Lindners Ministerium erklärte, dass «die Rückerstattung an die ursprünglich Abgabepflichtigen» zulässig wäre – und meint damit die Banken (Öffnet in neuem Fenster). Lindners Motto scheint also zu sein: Erst Banken, dann E-Fuels, dann lange nichts und irgendwann, zuletzt, Kinder. 

Mal kurz ein paar Zahlen: In Deutschland ist aktuell jedes fünfte Kind von Armut betroffen. Ein Argument, das die FDP gern gegen die Kindergrundsicherung anführt: Es würde den Anreiz zur Erwerbsarbeit reduzieren. Deshalb nochmal andere Zahlen: Besonders von Armut gefährdet sind Ein-Eltern-Familien. 71 Prozent aller Alleinerziehenden sind berufstätig. Rund der 43 Prozent der Alleinerziehenden sind einkommensarm. Diese Eltern arbeiten und sind gleichzeitig von Armut betroffen.

Und in Kürze das Konzept der Kindergrundsicherung (Öffnet in neuem Fenster): Leistungen wie Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag und Teile des Bildungs-und Teilhabepakets sowie Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch sollen gebündelt werden. Es soll einen festen Grundbetrag geben und einen flexiblen Zusatzbetrag. Der Grundbetrag soll mindestens dem heutigen Kindergeld entsprechen und alle zwei Jahre angepasst werden. Dieser Grundbetrag soll nicht mit Sozialleistungen wie zum Beispiel dem Bürgergeld der Eltern verrechnet werden, so dass wirklich jedes Kind diesen «Garantiebetrag» bekommt.

Der Zusatzbetrag soll abhängig vom Einkommen der Eltern sein. Wer wenig Einkommen hat, bekommt mehr als die, die viel Einkommen haben. Bekommen sollen die Kindergrundsicherung alle Kinder ab Geburt bis zum Alter von 18 Jahren. Wer eine Ausbildung macht, kann die Kindergrundsicherung bis zum 25. Geburtstag bekommen. Studierende sollen bis zum 27. Lebensjahr unterstützt werden. Das Konzept der Kindergrundsicherung wurde maßgeblich von der Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Öffnet in neuem Fenster) (Grüne) entwickelt. Sie sieht darin «das wichtigste zentrale sozialpolitische Projekt» der Koalition.

Die geplante Kindergrundsicherung könnte die Lage von Familien, die von Armut betroffen sind, deutlich verbessern. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten des ifo-instituts. Das Fazit im Gutachten lautet: «Der Reformvorschlag bietet insbesondere für Familien mit Kindern in den unteren Einkommensdezilen signifikante Verbesserungen hinsichtlich des verfügbaren Haushaltseinkommens. Damit lässt sich auch das Armutsrisiko deutlich reduzieren.»

Ich stelle mir einen kleinen Christian vor, irgendwo in Deutschland, vielleicht in Wermelskirchen. Dieser Christian kommt aus der Schule und gibt seiner Mutter den Zettel für die kommende Klassenfahrt, auf die er sich schon seit drei Jahren freut. In der ersten Klasse gab es noch keine Klassenfahrt, dann kam Corona, er war viele Wochen allein mit seiner Mutter in der Einraumwohnung. Seitdem hat sich viel für ihn verändert. Er hat nicht mehr viele Kontakte zu anderen Kindern, hat manchmal Panikattacken, wenn er zur Schule muss und bleibt seitdem oft zu Hause. Seine Mutter kann deshalb nur noch Teilzeit arbeiten, in ihrem Job, der schon in Vollzeit nur knapp reichte. Seine Mutter liest sich den Klassenfahrtszettel durch. Sie seufzt. Dann sagt sie zu ihrem Sohn: «Das ist zwar wünschenswert, aber nicht möglich.»

Foto: christian-lindner.de/biografie

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