Warum Hunger in Deutschland noch Thema ist.
Was wir essen ist auch eine Geldfrage.
Hier geht es um unser Ernährungssystem. Um das, was wir essen und warum. ess.sozial ist ein Newsletter. Für alle, die über den Tellerrand schauen und Ernährung in ihrem gesellschaftlichen Kontext sehen wollen. Hier bekommst du jeden Monat frische Perspektiven – direkt in dein Mailpostfach.
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Was wir essen, ist nicht nur eine individuelle Entscheidung, sondern wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. So auch vom Geld. In der zweiten Ausgabe von ess.sozial schauen auf Ernährungsarmut. Warum ist Hunger in einem reichen Land wie Deutschland noch Thema? Und zwar eines, das gerne mal vergessen wird?
„Millionen Menschen im Sudan droht der Hungertod“, berichtet die Tagesschau. Arte zeigt eine Doku über den „Teufelskreis von Dürre und Armut“. Die ZEIT titelt: „Erhöhung der Flüchtlingszahlen: Welternährungsprogramm warnt vor Kürzungen bei der Entwicklungshilfe“.
In den Nachrichten sehen wir Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die aus riesigen Töpfen Reis verteilen. Wir sehen Kinder mit Hungerbäuchen. Wir sehen, Dürre, Flut und zerbombte Städte – Krisenregionen. Hungersnöte sind eine – und die schlimmste – Form von Hunger. Er kommt aber noch in anderen Formen daher, über die jedoch weit weniger berichtet, ja geredet wird.
„Satt sein ist nicht genug“ – so steht es auf dem Cover eines roten Buches, der Autor ist Hans Konrad Biesalski. Biesalski ist Mediziner. Zeitweise auch Leiter des Instituts für biologische Chemie und Ernährungswissenschaft an der Universität Hohenheim. Dort hat er unter anderem dazu geforscht, was passiert, wenn es dem Körper an wichtigen Mikronährstoffen fehlt.
Mangelernährung ist ein Problem, das in Deutschland gut und gerne übersehen wird. Biesalski versucht das zu ändern – er berät die Politik, auch den Bürgerrat zu Ernährung, hält Vorträge –, aber das ist gar nicht so einfach. „Weil nicht sein kann was nicht sein darf“, wie er sagt.
Was nicht sein darf: Dass jedes vierte Kind in Deutschland ein Risiko für eine Mangelernährung hat. Denn jedes vierte Kind in Deutschland ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Zu Mangelernährung kommt es unter anderem dann, wenn das Geld für eine ausreichende Ernährung nicht reicht. Wir sprechen dann von Ernährungsarmut. In Deutschland sind 3,8 Prozent der Bevölkerung (also rund 3 Millionen Menschen) von Ernährungsarmut betroffen.
Die gesundheitlichen Folgen.
Wieso Ernährungsarmut nicht sein darf: Sie hat gravierende Folgen. Sind Kinder mangelernährt, kommt es zu Störungen des Wachstums und der Entwicklung. Folgen, die die Kinder ein Leben lang mit sich tragen.
In England haben vier- bis fünfjährige in Blackburn und Darwen viermal so häufig auffällig klein für ihr Alter, im Vergleich zu Gleichaltrigen im Londoner Stadtteil Richmond. Blackburn und Darwen sind sozial benachteiligte Gegenden. Stunting – also eine im Verhältnis zum Alter auffällig geringe Körpergröße – steht in engem Zusammenhang zum Wohnort, und zum sozialen Status (Orr et al. 2021).
Die Entwicklungsstörungen betreffen nicht nur die Körpergröße, sondern auch das Gehirn. Für die USA wurde gezeigt: Die Entwicklung bestimmter Hirnareale von Kindern aus armen Verhältnissen hängt der von Kindern aus normalen, aus mittelständischen deutlich hinterher. Warum? Eltern mit höheren Einkommen können mehr Geld für nährstoffreiche Lebensmittel ausgeben – das mag ein Grund für den Zusammenhang sein, vermuten die Autoren. Andere: Sie können ihren Kindern bessere Voraussetzungen fürs Lernen, bessere Kinderbetreuung und eine gesündere Umgebung bieten (Noble et al. 2015).
Und wie ist die Lage in Deutschland? Dazu gibt es fast keine Zahlen, sagt Biesalski. Zwar gebe es „riesige Erhebungen“, wie die Nationale Verzehrstudie, nur „habe da nie jemand nachgeschaut, wie die Ernährung von Leuten aussieht, die wenig Geld haben. Der soziale Effekt spielt keine Rolle.“
Warum satt sein nicht genug ist.
Was auch nicht sein darf: Dass der soziale Effekt auf Ernährung keine Rolle spielt. Denn wie viel Geld wir für Ernährung ausgeben können, beeinflusst unsere Lebenschancen entscheidend.
Wer Bürgergeld bezieht, hat 2024 im Monat 563 EUR für den sogenannten Regelbedarf zur Verfügung. Damit müssen neben Nahrungsmitteln auch Ausgaben für Kleidung, Körperpflege, Gesundheit, Hausrat, Strom und Gas gedeckt werden. Für den Regelbedarf eines Kindes werden – je nach Alter des Kindes – 357-471 EUR veranschlagt. Welcher Betrag genau für eine gesunde Ernährung vorgesehen ist, dazu gibt es keine Angabe.
Für das Jahr 2022 hat der wissenschaftliche Dienst des Bundestags ermittelt: Je nach Alter des Kindes brauche es 4,50 oder 5,50 EUR für eine gesunde Ernährung. Deutlich weniger als damals vorgesehen, nämlich unter 3 EUR, beziehungsweise unter 5 EUR. Zwar wurde das Bürgergeld erhöht, die Erhöhung gleicht jedoch nur die Inflation aus – das Problem besteht also weiter.
Und wie kommt der im Bürgergeld vorgesehene Betrag zustande? “ Er leitet sich aus dem Ernährungsverhalten der entsprechenden Gruppe ab”, erklärt Biesalski, “das ist geradezu absurd. Man hat überhaupt nicht geprüft, was eine gesunde Ernährung kostet.“ Wer zu wenig hat, bekommt also auch nicht mehr.
Was tut die Politik dagegen?
Dass nicht mehr ist, was nicht sein darf, dafür hat sich unter anderem der Bürgerrat für Ernährung eingesetzt. Von September bis Januar ging es unter anderem um Fragen zum Gesundheitsschutz, zur Klimabilanz der Nahrungsmittelproduktion, zur Lebensmittelkennzeichnung – kurz: um die Frage, welche Verantwortung der Staat für Ernährung trägt. Die wichtigste Empfehlung des Rats an die Bundesregierung: „Kostenfreies Mittagessen für alle Kinder als Schlüssel für Bildungschancen und Gesundheit“. Am 14. Januar stellte der Bürgerrat seine Empfehlungen vor, passiert ist seither nichts. „Da muss man die Bürgerräte daran erinnern, was Frau Paus bei der Eröffnung gesagt hat: Sie würde dafür sorgen, dass die Empfehlungen auch umgesetzt würden. Die Bürgerräte dürfen sich das nicht bieten lassen. Sie haben viel Zeit geopfert um jetzt festzustellen: es passiert nichts, gar nichts“, sagt Biesalski.
Dabei wäre die Politik sogar gesetzlich zum Handeln verpflichtet: Es gibt ein Recht auf eine ausreichende Ernährung, sie ist ein Grundbedürfnis. Das legten die Vereinten Nationen schon auf der Welternährungskonferenz 1974 fest. Außerdem will das Grundgesetz Chancengleichheit garantieren.
Ernährungsarmut betrifft sozial schwächer gestellte überproportional, ist also eine strukturelle Ungleichheit. Gleichzeitig verfestigt sie bestehende Ungleichheiten – Biesalski spricht vom „Hungerkarussell“. Die gesundheitlichen Folgen von Mangelernährung sorgen dafür, dass Betroffene schlechtere Bildungschancen haben, dadurch schlechter bezahlte Jobs ausüben und ein niedrigeres Einkommen zur Verfügung haben. „Wenn Sie so wollen, geht es auch um das ökonomische Potential“, sagt Biesalski, „wenn die Kinder körperlich schwach sind, und wenn sie in der Schule nicht entsprechend vorankommen, hat das Konsequenzen für ihre spätere Arbeitsleistung.“
Die schlechteren Lebenschancen von Kindern aus ärmeren Verhältnissen sind natürlich nicht allein auf Ernährungsarmut zurückzuführen. Eine Tatsache, die die Politik gerne als Ausrede nutzt: „Ernährungsarmut wird von den Verantwortlichen kleingeredet, nach dem Motto: Die Leute müssen erstmal lernen, was gesunde Ernährung ist. Aber was nutzt mir die beste Ernährungsbildung, wenn ich das Geld nicht habe?“ Biesalski streitet nicht ab, dass Bildung, Verhalten, Umfeld oder Kultur durchaus eine Rolle spielen, wenn es darum geht, warum wir essen, was wir essen – die sei aber „sekundär“.
Und: Anders als andere soziale Ungleichheiten könne das Geld-Problem schnell aus der Welt geschafft werden: „Wenn es um das Thema Finanzierung von Kinderernährung geht, das können wir innerhalb einer Woche ändern, wenn wir wollen. Die sozialen Verwerfungen, die Probleme einer Familie, das können wir nicht in einer Woche ändern“, so sieht es Biesalski.
Was jetzt?
Dass die Probleme tatsächlich innerhalb einer Woche gelöst werden, damit rechnet er aber nicht: „Ich meine, ich beobachte die Situation jetzt seit zwanzig Jahren und es hat sich eigentlich nichts getan.“ Biesalski ist ernüchtert.
Ernährungsarmut ist eine Dimension sozialer Ungleichheit, die so leicht aus der Welt geschafft werden könnte – mit Geld. Und den Willen dazu bekundet die Politik auch in Teilen, nur gehandelt wird noch nicht. „Es gibt lokale Einzelinitiativen. Die sind zwar begrüßenswert, lösen aber das Problem nicht.“
Wenigstens eine positive Veränderung mag Biesalski bemerkt haben: Heute werde schon mehr über Ernährungsarmut geredet. Auch in den Medien finden sich vereinzelt Berichte: „Wenn gesundes Essen zu teuer ist“, heißt es beim Deutschlandfunk, „Risiko Ernährungsarmut: Zu wenig, zu ungesund“, beim ZDF. Damit sich mehr ändert, „muss einfach Druck aufgebaut werden“, schließt er. Und dafür muss der verborgene Hunger zuerst einmal wahrgenommen werden.
Danke fürs Lesen!
Eigentlich sollte diese zweite Ausgabe im Juni erscheinen. Jetzt kommt sie fast einen Monat später. Wieso? Ich war krank. Außerdem: Dass über Ernährungsarmut so wenig geredet, so wenig geforscht wird, hat sich auch bei der Suche nach Experten gezeigt. Die hat sich gezogen, bis Hans Konrad Biesalski zusagte. Wenn du auch findest, dass mehr über Ernährungsarmut geredet werden sollte, dann empfiehl doch diesen Newsletter weiter. Ich würde mich freuen!
Hast du Fragen, Anregungen oder Themen, denen ich nachgehen soll? Dann lass es mich wissen, per Mail oder dm.
Transparenzhinweis: Die Quellen.
FAO (2024): https://de.wfp.org/stories/die-5-stufen-von-ernaehrungssicherheit-zur-hungersnot (Öffnet in neuem Fenster)
Ergebnisse des Bürgerrats: https://dserver.bundestag.de/btd/20/103/2010300.pdf (Öffnet in neuem Fenster)
Orr, Joanna et al. (2023): Regional differences in short stature in England between 2006 and 2019: A cross-sectional analysis from the National Child Measurement Programme, PLOS Medicine, 18/9, S. X
Noble, Kimberly et al. (2015): Family income, parental education and brain structure in children and adolescents, Nature Neuroscience, 18/5, S. 773-778.
Statistisches Bundesamt (2024): https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/07/PD24_N033_63.html (Öffnet in neuem Fenster)
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags (2022): Kosten einer Ernährung nach den Empfehlungen der DGE, WD 5 - 3000 - 143/22.
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Biesalski, Hans Konrad (2013): Der verborgene Hunger: Satt sein ist nicht genug.
Rücker, Martin (2022): Ihr macht uns krank – Die fatalen Folgen der deutschen Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby.