Was wird es denn?
Sascha Verlan und Almut Schnerring
Menschen sind neugierig und dabei manchmal unbeholfen, unsicher, vielleicht auch gehemmt. Und deshalb kommt so oft die Frage: „Was wird es denn?!“, weil die im ersten Kontakt mit einer schwangeren Person so unverfänglich scheint, oder vielleicht doch nicht? „Was wird es denn?“ – Diese Frage scheint auf den ersten Blick offen für alle möglichen Antworten, also wo ist das Problem, antworten wir doch einfach: Vielleicht Bundeskanzlerin, vielleicht Hausmann (Öffnet in neuem Fenster)? Vielleicht empathisch, bestimmt neugierig, eventuell geduldig… hoffentlich glücklich und zufrieden!
Mädchen oder Junge: Was sagt diese Frage über das Kind aus?
In Wirklichkeit ist diese Frage kein bisschen offen, denn sie erlaubt nur eine aus zwei möglichen Antworten: Mädchen oder Junge. Spitzer Bauch? Junge! Mutter mag plötzlich Gurken? Garantiert ein Mädchen! Also Hand aufs Herz: Was bringt uns die Antwort? Was sagt sie aus über das Kind? Denn eigentlich wissen wir danach ja immer noch nichts. Maximal bekommen wir Auskunft über die äußeren Geschlechtsorgane, denn alles andere zeigt sich erst im Lauf des Lebens. Aber weil wir doch neugierig sind und so gar nichts wissen, füllt die Phantasie die Lücke und bedient sich all der unbewussten Rollenerwartungen und klischeehaften Vorstellungen, die wir alle über die Jahre verinnerlicht haben.
Tatsächlich konnten Studien zeigen, dass sich das Verhalten der Erwachsenen verändert, sobald sie meinen, Gewissheit zu haben: Mit einem vermeintlichen Mädchen (Öffnet in neuem Fenster) wird mit mehr Worten und in höherer Stimmlage durch die Bauchdecke gesprochen, mit Jungen weniger, dafür mit tieferer Stimme. Bewegungen werden klischeehaft interpretiert: Tritt er viel? Dann wird er bestimmt mal Fußballer! Ach, ein Mädchen? Na, dann eine Ballerina.
Ultraschalluntersuchung: Es entsteht eine klischeehafte Vorstellung
Mit der ultraschallgestützten (Öffnet in neuem Fenster) Antwort auf die Frage, was es denn wohl wird, scheint die Offenheit zu verschwinden. Da ist plötzlich kein unbekanntes, noch zu entdeckendes Wesen mehr, sondern bei vielen entsteht schnell eine konkretere, meist klischeehafte Vorstellung, und ab dem Moment steht die Rosa-Hellblau-Falle bereit: Die einen versuchen sie vorsichtig zu umschiffen, aber auch sie leben ja nicht auf einer Insel. Wer also keine Antwort hat oder geben möchte auf diese wiederkehrende Frage nach dem Geschlecht, löst damit Unverständnis aus, bisweilen sogar Ärger. Die anderen sind erleichtert, dass die Großeltern nicht mehr in Blassgelb sondern in Rosa oder Hellblau häkeln und einkaufen, und sagen sich „Sind ja bloß Farben!“
Aber wäre es nicht schön, diesem neuen Leben ganz unbedarft begegnen zu können und zu erfahren, wie es sich entwickelt, aus sich heraus? Leider lässt sich dieser Wunsch nicht erfüllen, denn man kann nicht nicht sozialisiert werden. Und was mit der unterschiedlichen Ansprache durch die Bauchdecke beginnt, setzt sich nach der Geburt fort, das haben die vielen sogenannten Baby-X-Studien gezeigt: weint ein Säugling, vermutet die Mehrheit der Erwachsenen als Ursache Wut oder Ärger, wenn ihnen das Kind als Junge vorgestellt wurde.
Unterbewusst trauen Eltern Jungen anderes zu als Mädchen
Bei einem Mädchen dagegen tippen sie auf Angst. Ein und dasselbe Baby wird schwerer und kräftiger eingeschätzt, wenn Erwachsene es als Junge lesen. Vermuten sie ein Mädchen, schätzen sie es leichter und zarter ein. Mädchen werden länger getröstet und zur Vorsicht ermahnt, Jungen dagegen werden schneller wieder losgeschickt und sollen sich gleich noch einmal versuchen; Jungen wird ein deutlich größerer Krabbelradius zugestanden, während Mädchen häufiger angehalten werden, sich am Platz zu beschäftigen … und später stellen viele fest, dass Mädchen häufig feinmotorisch geschickter sind, früher schreiben können, lieber lesen, und Jungen sich Raum nehmen, lauter und wilder sind. Und die meisten sind dann überzeugt: „Also wir haben da nichts beeinflusst, also muss es in der Natur liegen!“
Die Rosa-Hellblau-Falle (Öffnet in neuem Fenster) beginnt also schon vor der Geburt, und sie lässt sich nur bedingt und mit viel Selbstreflexion und täglicher Mühe umgehen. Diese Gesellschaft, die so viel Wert legt auf die binäre Unterteilung in männlich und weiblich, macht es Eltern und Familien nicht gerade leicht, ihren Kindern Wahlfreiheit und ein Leben jenseits der beiden vorgegebenen Schubladen zu ermöglichen.
Die Kinder als Individuen sehen
Ein erster Schritt wäre, sich selbst die „Was wird es denn“-Frage zu verkneifen. Und beim Blick in einen Kinderwagen zu überlegen, ob die Antwort auf ein „Was ist es denn?“ wirklich Erkenntnis bringt oder nur den Gesprächseinstieg erleichtert. Und für die werdenden Eltern beginnt die langjährige Aufgabe, das Kind als Individuum zu sehen und nicht als Teil der Gruppe der Hellblauen oder Rosafarbenen – was schon beim Einkauf von Schnullern (Öffnet in neuem Fenster), Tragetüchern oder Kinderwägen ein Ding der Unmöglichkeit scheint, denn auch die Werbung liebt die Geschlechtertrennung; von Baggern und Puppen fangen wir an der Stelle gar nicht erst an.
Dass es sich lohnt, die Kategorie Geschlecht möglichst oft außer Acht zu lassen, zeigt sich, wenn ein Kind älter wird. Da es in so vielen Momenten seines Alltags darauf hingewiesen wird, was einen „echten“ Jungen und was ein „typisches“ Mädchen ausmacht, ist es dankbar, wenn es auch Erwachsene gibt, die es genau so richtig finden, wie es ist, nämlich als Marie oder Serkan, als Elif oder Luka.
Dieser Text ist zuerst im Buch WOW MOM: Der Mutmacher für deine Schwangerschaft (Öffnet in neuem Fenster), erschienen - Danke an Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim