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Wahrnehmungsschule

Wen wollen wir verantwortlich machen, wenn wir eine wichtige Botschaft nicht erkannt haben, nicht hören wollten, obwohl jemand extra auf eine Bühne gegangen ist, um sie uns zu vermitteln? War der Dialekt wirklich zu stark, die Gesten zu groß, der Rock zu kurz? Man kann vieles behaupten: Um ernsthaft gehört zu werden, sei Greta Thunberg zu jung, Franziska Giffeys Stimme zu hoch, Anton Hofreiters Haare zu lang, Angela Merkel zu ›Mutti‹, Eva zu nackig. Irgendwas ist immer. 

Zwischen all den Regeln für den ›perfekten Auftritt‹ und ›souveränen Vortrag‹ klafft eine große Lücke, es fehlt die Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung. Wie wäre es also, wenn wir uns zwischendurch an die eigene Nase fassten? Wenn wir selbst nicht merken, dass wir uns beim Wahrnehmen, Denken und Urteilen irrational beeinflussen lassen, spricht man von einer ›kognitiven Verzerrung‹. Dabei geht es um eine Form der Beeinflussung, die uns ziemlich unangenehm sein sollte, Ursache sind nämlich Vorurteile und eine enge Erwartungshaltung.

Unbewusste Vorurteile

Zur kognitiven Verzerrung gehören zuallererst der bias blind spot, nämlich die Tendenz, sich für unbeeinflusst zu halten, und der confirmation bias, die Neigung, vor allem die Dinge besonders gut zu hören, die unsere eigene Erfahrung bestätigen. Relevant für Vorträge, Referate und Reden ist außerdem der correspondence bias, ein ›Attributionsfehler‹, der darin besteht, dass wir die Ursachen für bestimmte Verhaltensweisen eher in den Charaktereigenschaften einer Person suchen, statt sie auf äußere, veränderbare Faktoren zurückzuführen, die die jeweilige Situation beeinflussen.

Eine besondere Form der kognitiven Verzerrung ist der gen­der bias. Wichtiger als die häufig gestellte Frage, ob Frauen denn anders sprechen als Männer, ist die Frage, ob Frauen auf die gleiche Weise Gehör finden wie Männer. Werden Männer und Frauen unterschiedlich wahrgenommen? Tatsächlich sorgt der gender bias dafür, dass Frauen häufiger unterbrochen werden, von Männern und Frauen gleichermaßen, und dass Männer, die in Meetings viel reden, als kompetenter wahrgenommen werden – bei Frauen zeigt sich keine Veränderung bzw. ihre Bewertung wird sogar negativer, wenn sie mehr sprechen. Frauen mit hohem, dünnem Stimmklang werden außerdem als weniger kompetent, weniger gebildet, weniger vertrauenswürdig und weniger attraktiv eingestuft als Männer mit engem, hohem Stimmklang oder Personen mit durchschnittlichem Stimmklang.

Durchsetzungsfähig, klar denkend, rational, realistisch sind Eigenschaften, die Menschen scheinbar eher von einem Mann erwarten, wohingegen die Eigenschaften charmant, furchtsam, sanft und geschwätzig eher mit einer Frau in Verbindung gebracht werden. Bei Bewerbungsgesprächen kann diese Ein- schätzung fatale Folgen haben, und sie hat natürlich auch Einfluss auf die Beurteilung von Redner*innen auf einer Bühne. Es gibt keinen biologischen Unterschied zwischen Frauen und Männern, der eine unterschiedliche Sprechweise bedingen würde, aber es gibt eine Hierarchie in der Wahrnehmung von weiblichen und männlichen Sprecher*innen. Die antike Rhetorik ist seit ihren Anfängen auf den Mann als Redner ausgerichtet. Bis heute werden Frauen mit diesem Rednerideal konfrontiert und nach ihm beurteilt – in der Regel unbewusst.

Fazit: Beurteile die Botschaft, nicht die Person, die sich überbringt. 

Die Sache über die Person zu stellen, also zuzuhören, sich einzufühlen, herausfinden zu wollen, was jemand sagen möchte, auch wenn die Person vielleicht zu Boden blickt, leise spricht, nicht ›gefällig‹ und der Norm entsprechend vorträgt, ist eine positive, in ihrem Wert nicht zu unterschätzende Fähigkeit. Extrovertiertheit ist nicht das Maß aller Dinge, und ein Argument wird nicht falsch, nur weil uns die Person, die es vorträgt, nicht sympathisch ist. Appell also für den Moment, in dem man selbst im Publikum sitzt: Am Ende sollte immer die Botschaft zählen, nicht ihre Verpackung.

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Textauszug aus:

"Überzeugend und sicher präsentieren (Öffnet in neuem Fenster)", Reclam Kompaktwissen XL. Almut Schnerring (Stuttgart, 2020)

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