#25 Quarkbällchen grüßt Schnatterbacke
Oft wache ich morgens mit einem Satz auf. Heute: „Die fesche Oma sucht nach einer Schlaghose, mein Lieblingsladen hat aber nur frische Quarkbällchen.“ Sowas. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, mich am Morgen nur um, sagen wir, eine priorisierte Kleinigkeit zu kümmern. Eins von diesen Mach-mal-ebens, die in zehn Minuten umzusetzen wären, sich aber zu Halbtagsprojekten aufpumpen – Ein Anruf bei einer Service-Hotline zum Beispiel. Du kennst das.
Geräusch des Monats (08/24)
Als unsere Spülmaschine auf einer Salatschüssel trommelte (O-Ton, kein Fake)
Ich wollte schon vorher beim Zähneputzen ordnen, was ich zu fragen habe, wenn mich nach ungefähr zehn Minuten Musik verhöhnenden Geschrebbels ein Mensch anspricht. Natürlich genau in dem Moment, in dem ich das Smartphone einhändig über dem erforderlichen Papierkrams, unter einer Jumbotasse voller Kaffee, einen gebutterten Honigtoast in der anderen Hand zum Schreibtisch balanciere. Da muss ich mir den Text wirklich vorher auf die Zunge gelegt haben. Aber statt mich vorzubereiten, denke ich: Oma, Schlaghose, Quarkbällchen? Zahnpasta kleckert aufs T-Shirt. Reload. Start again.
Warum nicht mit einem klassischen Ohrenschmeichler beginnen? Der SWR schreibt über »Das Drama auf der Jagd« von Anton Čechov: »Ein Untersuchungsrichter erscheint in einer Zeitungsredaktion und bringt ein Manuskript. Das Sujet: Liebe und Mord; der Ort der Handlung: ein heruntergekommenes russisches Gut; die Protagonisten: ein attraktiver Untersuchungsrichter, ein verlotterter Graf, ein verwitweter Verwalter und eine aufstrebende junge Försterstochter.« 2004 mit vielen bekannten Stimmen trefflich umgesetzt von Beate Andres. Zu finden in allen Podcast-Playern und hier im Netz. (Öffnet in neuem Fenster)
In meinen Träumen wird unfassbar viel gesprochen. Großes Besteck, viel Personal, sehr dialogfreudig. Mein Nachtbewusstsein, ich nenne es mal „Schnatterbacke“, greift gern zu drastischen Bildern, Tönen und Gerüchen. Die können tagsüber noch lange an mir kleben, wie Spinnweben. Irgendwie da, fühlbar, aber nicht zu greifen, zu fein gesponnen fürs grobe Tagempfinden. Dabei ist die Botschaft oft simpel. Nein, du hast keinen Tumor an der Niere, du liegst nur seit Stunden auf dem Stöpsel deiner Wärmflasche und die Stelle wird dir morgen weh tun, also dreh dich endlich um. Zum Beispiel. Ich kann ihr unbedingt vertrauen, auch wenn ich sie mal wieder nicht verstehe. Schnatterbacke ist nämlich stets auf meiner Seite, nur eben nicht tagespraktisch veranlagt. Wie ist das bei dir?
"Ich muss nicht immer wissen, warum ich etwas mache", sagt manamolotov, die der Medizin den Rücken kehrte und ein Modestudium hinschmiss, um heute als freie Künstlerin und Illustratorin in Köln zu leben. Listen to ›Ohne den Hype – Gespräche mit Kreativen‹. Weblink (Öffnet in neuem Fenster)
Bis sie etwas für erledigt hält, nimmt Schnatterbacke Wiederholungen ins Programm, sendet in Serie, erfindet ständig neue Formate. Ohne Abo, einfach so. Ich denke, mein Gehirn würde es zu schätzen wissen, wenn ich manche Tage mit einem vollständigen Transkript beginnen könnte. Damit Ruhe ist mit dem Gezackel zwischen nächtlichem Filmfestival und Alltagsrealität. Aber das geht nicht. Darum habe ich mir angewöhnt, wenigstens einen kleinen Satz ins Wachbewusstsein mitzunehmen und ihn am Morgen zu notieren. Wundere dich nicht, falls du uns mal besuchst: In unserer Wohnung liegen überall Zettel und Bleistifte. Auch im Smartphone und Tablet flattern Sätze herum. Ich bilde mir ein, dass es Glück bringt, wenn ich sie zufällig wiedertreffe. Weil sie so erfrischend chaotisch sind, frei von Nutzen, Zwang zur Effektivität, Wachstums- oder Zielgelüsten. Ich sag nur: Quarkbällchen. Und schon nimmt mein Tag eine neue Richtung.
Dein Gehirn, das unbekannte Wesen, kann verblüffende Dinge, siehe "A 'science' experiment with a fake hand" auf youtube (Öffnet in neuem Fenster)
Erfahrungen und sinnliches Erleben sind bislang zu komplex, als dass sich Begriffe in den Gehirnen vieler Menschen an gleicher Stelle und in gleicher Form abbilden ließen, sagt die Neurowissenschaft. Super. Solange das nämlich so ist, bleibt der Raum, in dem Schnatterbacke ihre Geschichten erfindet, ein datengeschützter Ort. Vielleicht der letzte überhaupt, und zudem nach innen viel größer, als man es ihm von außen ansieht. Wie das Innere von Hermines Handtasche, falls dir das was sagt. Eine aus allen Wahrnehmungen und Erfahrungen eines Lebens gespeiste Tiefe, die freigibt, was ihr gerade passend scheint, aber keine Weisungsbefugnis kennt. Da kann sich der Verstand noch so aufplustern. Den Einfluss des Unbewussten kontrolliert er nicht.
Apropos Datenschutz: Was sich allein aus den Standortdaten lesen lässt, die die Werbeindustrie trotz DSGVO völlig unkontrolliert von Smartphones absammelt und beliebig weiterverteilt, hat selbst netzpolitik.org (Öffnet in neuem Fenster) überrascht. Im Podcast #283 Off the Record (Öffnet in neuem Fenster) berichten Sebastian Meineck und Ingo Dachwitz von ihren jüngsten Recherchen zu den »Databroker Files«.
Mich beruhigt diese Unwägbarkeit in meinem System, weil sie meine Bereitschaft wach hält, mich zu verändern. Denn mein Tages-Ich irrt sich andauernd. Es dreht sich eifrig im Spiegel der Außenwelt und hält sich selbst dann noch für weise, wenn es, bei Lichte betrachtet, nur Unbequemlichkeiten ausweicht. Obwohl es natürlich auch nur mein Bestes will, mein Wohlsein, meine Sicherheit. Aber was heißt das schon. Sicher ist, dass ich eines Tages nicht mehr bin. Alles andere im Leben kann sich jederzeit ändern. Unsinn, sagt mein Tages-Ich, sei diszipliniert, schaffe und lerne, dann wird das schon. Schnatterbacke kichert. Die beiden kebbeln ständig. Man kennt sich und nimmt die Schwächen des anderen optimalerweise mit Humor.
Für den Ausgleich der beiden bietet sich Reflexion an, als Praxis, die durchaus über Nabelschau hinausgehen kann. Die innere Reflexion, in Stille oder authentischer Bewegung, und die äußere in der Begegnung mit der Welt. Hab ich das richtig ausgedrückt? Verbessere mich gern. Nach meiner Erfahrung läuft es rund mit Schnatterbacke und Tages-Ich, solange ich für Transparenz sorge und meine inneren Kanälchen putze, indem ich lese, schreibe, male, tanze, mich bewusst bewege und, ja, auch mal mit verbundenen Augen einen Baum umarme, um dem gemächlichen Flüstern der Säfte zu lauschen, die ich unter seiner kühlen Rinde ahne.
Beim Schreiben gehört: Carlos Cipa – senna's joy (Live at Mastermix Studio, Munich) (Öffnet in neuem Fenster)
Solche Sätze lösche ich für gewöhnlich, das macht mich unendlich langsam darin, mich schreibend ins Außen zu befördern. Oft geht Schnatterbacke auch zu schnell dazwischen. Geduld ist ihr fremd. Ich schaue aus dem Fenster, um einen Gedanken zu fassen. Ein Wort fehlt mir noch, wo habe ich es nur abgelegt. »Jetzt schau doch nur, wie schön da drüben helle Kringel auf den Wellen tanzen. Was ist das?«, quiekt Schnatterbacke. »Vom Regen ausgewaschene Taubenscheiße auf Dachziegeln«, knurrt mein Tages-Ich. Ach ja. Wo war ich gleich?
Später in der U-Bahn pruste ich los wegen des Mannes, der eine urkomische Schnute zieht unter einer Nase, die groß wie eine Aubergine mitten in seinem Gesicht über Hasenzähnen knallrot leuchtet. So lustig! Aber macht man doch nicht, sowas. Auch wenn ich mich nur am Nothaltegriff neben der Wagentür freue. Wenigstens ein Fahrgast grinst in sich hinein, vielleicht, weil es einfach schön ist, jemanden lachen zu hören. Andere haben die 112 in den Fingern.
Zu abstrakt? Anderes Beispiel für einen Perspektivwechsel. Nimm dies, mit Dank an den unbekannten Designer:
Da ich generell wenig Filter gegen abwertende Gedanken habe, sowohl gegen die eigenen, als auch gegen die anderer, habe ich mir angewöhnt, Menschen im öffentlichen Raum anzulächeln, sollten sich unsere Blicke zufällig treffen. Kein breites Grinsen, nur kurz freundlich leuchten. Wenn jemand mein Signal erwidert, kann das einen schlechten Tag zumindest neutralisieren, wovon die an meinem Zielort Beteiligten profitieren werden, aber das nur am Rande. Mir fällt auf, dass manche Menschen erschrecken, wenn ich sie beiläufig anleuchte, als müssten sie sich gegen einen Angriff wappnen. Besonders bei Menschen, die nicht mit käseweißer Haut gestraft sind*, scheint ein Alarm aufzuploppen: Was will die? Nichts Böses, wird ein kurzer Scan meiner Person ergeben. Doch der Moment ist schon vorbei.
* Ich weiß, das Bild hängt schief, aber: »Menschen mit Migrationshintergrund« – WTF? Den ausgeleierten Begriff erhellen Jens Brodersen und Patrick Breitenbach in der ersten Folge ihres Podcasts ›Schweigen ist Zustimmung‹. Weblink (Öffnet in neuem Fenster)
Die meisten gucken nicht mal hoch von ihren mobilen Hirnvakuumierern, und wo soll das hinführen? Demokratie braucht Begegnung, darauf hat der Soziologe Rainald Manthe 2021 in der Pandemie hingewiesen. (DLF Beitrag dazu hier) (Öffnet in neuem Fenster) Man solle sich also ruhig mal in die Augen gucken, auch als Fremde, im Café, in der Kneipe, auf dem Sportplatz oder eben in der Straßenbahn. Ohne unbeschwerte Begegnung kein Austausch, und der ist nun mal überlebenswichtig für soziale Wesen (sage ich als zertifizierte Sozialphobikerin), sonst reden wir bald nur noch unbeschwert mit Tieren oder Pflanzen. Falls es die dann noch gibt.
Mein Tipp: DLF Doku, Durch die Blume hören – Sounds auf Pflanzenbasis. Ein Stück über die akustischen Dimensionen der Pflanzenwelt von Julian Kämper. Hier im Netz (Öffnet in neuem Fenster) und über die üblichen Podcast-Player erhältlich.
Ich schicke Schnatterbacke jetzt mal in den Mittagsschlaf, das ist ja nicht zum Aushalten! Ich kann aber auch mit Struktur: Habe noch Plätze für Textredaktion und Textcoaching frei, bitte weitersagen.
Ich schau dir in die Augen!
Aiga
PS. Auf bald bei Instagram (Öffnet in neuem Fenster), Mastodon (Öffnet in neuem Fenster) oder Linkedin (Öffnet in neuem Fenster)?