So bringst du dein Gehirn durch die nächste Krise
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über Erkenntnisse, die dir dabei helfen, bei all den Krisen nicht den Verstand zu verlieren.
Wir haben ein Problem. Von Geburt an ist unser Gehirn in einer dunklen, stillen Blackbox gefangen: unserem Skelett.
Weil das Gehirn von sich aus gesehen also keinerlei Berührungspunkte mit der Außenwelt hat, muss es die Daten und Informationen von draußen anders empfangen. Das tut es über unsere fünf Sinne: Unser Gehirn sieht mit unseren Augen, es hört mit unseren Ohren, es riecht mit unserer Nase, es schmeckt mit unserer Zunge und es tastet mithilfe der Haut.
Nun ist es aber so: Unsere Sinnesorgane sind gut – aber dann doch wieder nicht soo gut. Deswegen können diese Informationen, die von außen reinkommen für unser Gehirn ziemlich verwirrend sein. Vor allem, weil sie meistens nicht eindeutig sind. Trotzdem muss unser Gehirn in diesem Trubel jederzeit entscheiden, was es als Nächstes tun soll. Das Gute: Es kann sich dabei selbst helfen. Denn die direkte Verbindung zur Außenwelt ist nicht die einzige Informationsquelle, die das Gehirn hat. Es gibt noch eine weitere: unser Gedächtnis.
Das funktioniert dann so: Unser Gehirn fragt sich ständig, was passiert ist, als es das letzte Mal in dieser oder jener Situation war. Aber auch: Das letzte Mal, als ich in dieser Situation war, wie habe ich mich dabei gefühlt? Und was habe ich damals als Nächstes gemacht? Und: War diese Reaktion hilfreich?
Wenn jemand mit uns spricht oder wir etwas, berechnet unser Gehirn in Echtzeit, welches Wort wahrscheinlich das nächste sein wird. Das passiert auch jetzt gerade bei dir, während du diese Zeilen isst.
Hä? Während du diese Zeilen isst? Das stimmt doch so nicht!
Dein Gehirn hat gerade ein Fehlersignal ausgelöst, weil das Wort, was es vorhergesagt hat, nicht gekommen ist. Das ist erstmal kein Problem, unser Gehirn liebt es Fehler zu entdecken! Zum Problem wird es erst, wenn du keine Vorhersagen mehr treffen kannst, weil nichts mehr vorhersagbar ist. Denn diese ganze Vorhersagerei – beim Zuhören, beim Musikhören, bei allem, was wir tun – hat vor allem einen Sinn: die Minimierung unserer Ungewissheit.
Und es gibt kaum etwas, was bei uns so viel Unsicherheit erzeugt wie Krisen. Wir fragen uns:
Wie gefährlich ist dieses komische Virus wirklich?
Kommt es auch bei uns bald zu einer Sturmflut?
Kann ich nächstes Jahr meine Heizkosten noch bezahlen?
Gibt es bald auch bei uns Krieg?
Sind meine jüdischen Freund:innen in Berlin noch sicher?
Alles Fragen, auf die wir selbst keine Antwort haben, auf die es aber auch in vielen Fällen noch überhaupt keine Antwort gibt. Wenn eine Pandemie über uns hereinbricht oder ein Krieg, ist es verdammt schwer, seriöse Vorhersagen zu treffen. Weil sich die Lage ständig verändert. Und so trifft unser Gehirn bald Voraussagen, die sich als falsch herausstellen. Und wir? Erleben einen Kontrollverlust.
Was macht dieser Kontrollverlust mit unserem Gehirn? Kurz gesagt, zwei Dinge: Wir bekommen Angst und wir empfinden Stress. Beides hat Auswirkungen auf uns. Jeden Tag. Wie wir das verhindern können, erkläre ich heute.
Angst und Stress machen uns dümmer
Wenn wir Angst haben, schaltet unser Steinzeitgehirn automatisch in den Überlebensmodus. Uns bleiben nur noch drei Reaktionen: kämpfen, flüchten oder erstarren. Wenn wir Angst haben, sind Hirnregionen, die für Kreativität zuständig sind, blockiert (Opens in a new window). Und auch solche, die für langfristiges Planen verantwortlich sind, zum Beispiel der präfrontale Kortex.
Aus Sicht der Evolution ergibt das natürlich Sinn: Wenn unsere Vorfahren einem Säbelzahntiger gegenüber standen (ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum Säbelzahntiger in der Hirnforschung ständig eine so große Rolle spielen), dann sollten wir nicht kreativ sein oder an unsere Zukunft in drei Jahren denken, sondern an unsere Zukunft in 10 Sekunden. Und die sollte möglichst weit weg von dem Tiger stattfinden.
Angst killt unsere Kreativität, damit der Tiger uns nicht killt. Denn eins ist klar: Derjenige, der beim Aufeinandertreffen mit einem Säbelzahntiger erstmal nach kreativen Lösungsmöglichkeiten gesucht hat, gehört ganz sicher nicht zu unseren Vorfahren.
Nun ist es aber so, dass diese vielen Krisen, die täglich auf uns einprasseln, keine Angriffe von Säbelzahntigern sind. Unser Gehirn reagiert aber immer noch wie vor zwei Millionen Jahren: mit Angst und Stress. Aber Weglaufen hilft in den meisten Fällen halt wenig. Wenn wir beim Bild mit dem Säbelzahntiger bleiben: Krisen sind so, als würden wir permanent von Angesicht zu Angesicht mit dem Tiger stehen und daran nicht das Geringste ändern können.
Der Tiger steht und starrt und steht und starrt und wir wissen nicht, wohin mit uns.
Das hat Folgen: Egal, ob auf unserer individuellen Ebene oder auf kollektiver Ebene – durch Stress treffen wir unsere Entscheidungen irrational und unsystematisch. Stress beeinträchtigt unser Arbeitsgedächtnis. Stress lenkt uns ab. Stress macht es uns schwerer, Informationen zu verarbeiten. Studien haben gezeigt: Unter Angst und Stress lösen wir Aufgaben schlechter. Mann kann also sagen, dass uns Angst und Stress gewissermaßen dümmer machen.
Unsere Lösungen werden zum Problem
Und was machen wir dagegen? Wir versuchen, die Kontrolle zurückzugewinnen! Und wie bekommt man Kontrolle zurück? Indem man wieder vorhersagen kann, was als Nächstes passiert! Und wie kann man vorhersagen, was als Nächstes passiert? Durch Informationen! Wissen ist Macht! Wissen ist Vorhersage! Also lesen wir News, schauen fern und hören die News-Podcasts, die uns detailliert erklären, was gerade passiert ist: in der Ukraine, in Israel, beim aktuellen Waldbrand.
Als am 11. September 2001 das World Trade Center angegriffen wurde, haben Erwachsene im Durchschnitt 8,1 Stunden Fernsehberichterstattung gesehen, Kinder immerhin 3 Stunden.
Mehrere Studien zeigen einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Konsum dieser TV-Berichterstattung, und einem erhöhten Risiko von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und klinischen Depressionssymptomen. Ob man sich nun im direkten Umfeld des betroffenen Gebietes befunden hat oder nicht, spielte dabei nicht unbedingt eine Rolle.
Das belegen weitere Studien: Als es 2013 einen Anschlag auf den Boston Marathon gab, waren z.B. diejenigen, die den Anschlag im Fernsehen verfolgt haben, gestresster als die Personen, die live vor Ort dabei waren.
Der Grund für diesen schier unstillbaren Nachrichtendurst ist simpel: Wir wollen endlich wieder valide Vorhersagen treffen können, wir wollen die Kontrolle zurückgewinnen! Aber weil in Krisen niemand wissen kann, was als Nächstes kommt, passiert das genaue Gegenteil: Die vielen News überfordern unser Gehirn. Deswegen macht es dicht. Studien zeigen: Wir sind dann noch gestresster, als wenn wir keine Nachrichten konsumiert hätten.
Das ist schlecht. Denn bei Stress stellen wir höhere Anforderungen an Gehirn und Körper als wir Ressourcen zur Verfügung haben. Wenn wir permanent in diesem Alarm-Zustand sind, kommt die Erholung logischerweise zu kurz. Auch hier zeigen Studien, dass damit die Gefahr für psychische und andere chronische Krankheiten steigt.
Was du bei der nächsten Krise tun kannst
Wir wissen jetzt, was Krisen mit dem Gehirn machen. Also wissen wir auch, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen: Wir müssen Stress und Angst reduzieren, um wieder Vorhersagen treffen zu können, die stabil sind.
Fünf Dinge, die man direkt aus der Forschung ableiten kann, können uns dabei helfen. Wenn das nächste Mal eine Krise ausbricht, kannst du diese Liste nehmen – sie wird dir helfen.
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