Wird deine Aufmerksamkeit wirklich immer schlechter?
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über Goldfische, Aufmerksamkeit und wie du sie verbesserst.
Vor zehn Jahren sprachen auf einmal alle über Goldfische. Sie selbst hatten herzlich wenig dazu beigetragen. Sie schwammen und blubberten vor sich hin wie sie es die Jahrhunderte vorher auch getan hatten. Aber plötzlich berichteten die großen Medienhäuser dieser Welt über sie. Zum Beispiel das Time Magazine:
„Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne des notorisch unkonzentrierten Goldfisches liegt bei neun Sekunden, aber laut einer neuen Studie der Microsoft Corp. verlieren die Menschen im Allgemeinen bereits nach acht Sekunden die Konzentration, was die Auswirkungen eines zunehmend digitalisierten Lebensstils auf das Gehirn verdeutlicht.“
Wow. Acht Sekunden! Wir können uns nicht mal so lange konzentrieren wie Goldfische. Und Goldfische sind darin schon absolute Loser. Smartphones und Social Media haben uns endgültig zerstört. Wahrscheinlich sollte ich diesen Newsletter an dieser Stelle abbrechen, weil bis hier hin kann ja sowieso niemand lesen, die Lesezeit übersteigt ja jetzt bereits mehrfach die acht Sekunden menschlicher Aufmerksamkeitsspanne. Bis nächste Woche!
Ah, du bist ja immer noch hier. Sehr gut. All die verschiedenen Artikel über die Goldfische gehen auf einen Bericht des Consumer Insights-Teams von Microsoft Kanada aus dem Jahr 2015 zurück. Das hatte 2.000 Kanadier befrag und außerdem die Gehirnaktivität von 112 Personen bei der Ausführung verschiedener Aufgaben untersucht. Die Zahl, die alle aufgeschnappt haben, die acht Sekunden, stammt jedoch nicht von Microsofts Forschung. Sie wird in dem Bericht zwar erwähnt, aber mit einem Verweis auf eine andere Quelle namens Statistic Brain.
2017 wollte der BBC-Journalist Simon Maybin (Opens in a new window) von dem Unternehmen wissen, welche Belege sie für ihre Aussage liefern können. Und siehe da: Sie konnten es nicht. Und nicht nur das. Nicht mal die Aussage zu den Goldfischen stimmte (die armen Tiere!). Tatsächlich weiß niemand, wie man die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs messen kann – oder hättest du eine Idee? Man kann ihnen ja schlecht vorlesen und prüfen, was sie behalten haben.
Die 8-Sekunden-Aufmerksamkeitsspanne ist nicht der einzige Mythos über die menschliche Aufmerksamkeit. Mehrere Autoren behaupten, dass die Aufmerksamkeitsspanne nach 10 bis 15 Minuten rapide abnimmt. Deshalb sollten Präsentationen und Vorträge nicht länger als 10 bis 15 Minuten dauern. Länger hört eh niemand zu.
Es ist also höchste Zeit dem Thema Aufmerksamkeit mal mehr Aufmerksamkeit zu geben. (Sorry.) Also: Was ist Aufmerksamkeit überhaupt? Wird sie bei Menschen wirklich immer schlechter? Und wie kannst du deine Aufmerksamkeitsfähigkeit verbessern? Das Leben des Brain ist zurück aus der Winterpause – let´s go!
Was ist Aufmerksamkeit überhaupt?
William James, der US-Amerikaner, der als Begründer der wissenschaftlichen Psychologie gilt, hat das mal so zusammengefasst (Opens in a new window):
„Jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist. Sie besteht darin, dass der Verstand in klarer und lebendiger Form eines von mehreren gleichzeitig möglichen Objekten oder Gedankengängen in Besitz nimmt. Die Fokussierung, die Konzentration des Bewusstseins gehört zu ihrem Wesen. Sie bedeutet, sich von einigen Dingen zurückzuziehen, um sich effektiv mit anderen zu beschäftigen.“
Das ist zwar über 100 Jahre her, aber recht hatte er. Aufmerksamkeit bezieht sich auf die kognitiven Prozesse, die die Auswahl, die Konzentration und die anhaltende Verarbeitung von Informationen ermöglichen. In der Regel ist nur eine Sache im Fokus der Aufmerksamkeit, und der Aufmerksamkeitswechsel geschieht seriell (obwohl vieles im Gehirn sonst parallel abläuft). Unsere Aufmerksamkeit ist begrenzt und das ist ja auch logisch und gut so. Wenn unser Gehirn ständig alles bewusst wahrnehme würde, was um uns herum so passiert, wäre es total überfordert. Es hat gar keine andere Wahl als immer wieder zu sagen: Das interessiert mich. Das interessiert mich nicht. Lass mich damit in Ruhe.
Wie lange können wir uns denn nun konzentrieren?
Unsere Fähigkeit, aufmerksam zu sein, hängt von der jeweiligen Aufgabe und einer Reihe von externen und internen Faktoren ab. Es gibt nicht einen Wert allein (Opens in a new window), der unsere „Aufmerksamkeitsspanne“ messen kann. Deshalb kommen bei den Studien, die es zu dieser Frage gibt, auch Werte raus, die meilenweit auseinander liegen, von 125 Millisekunden bis zu einer halben Stunde. Es kommt eben drauf an. Aber worauf?
Ein Faktor ist die Hingabefähigkeit. Also wie sehr interessiert mich das, was ich da sehe oder mache? Ein zweiter Faktor ist die Frage, wie groß die mentale Herausforderung ist. Wenn ich zum Beispiel die Steuererklärung machen muss, ist meine Hingabefähigkeit so niedrig, wie sie überhaupt sein kann. Im Keller. Oder noch weiter unten. Gleichzeitig ist dieses bescheuerte Elster-Programm einfach nur ätzend. Die mentale Herausforderung ist also groß. Und das ist eine schwierige Kombination. Wenn jetzt etwas um mich herum passiert, das meiner Aufmerksamkeit schöne Augen macht, bin ich raus. Andererseits, wenn ich diesen Newsletter schreibe, steckt da viel Hingabe drin. Und ehrlicherweise ist es oftmals auch eine große mentale Herausforderung. Ich lasse mich aber wegen der Hingabe lange nicht so schnell ablenken wie bei der Steuererklärung.
Bei den meisten Studien geht es nun darum, wie lange wir diese Phasen fokussierter Aufmerksamkeit aufrecht erhalten können. Da gab es zum Beispiel ein Experiment vom Psychologen Norman Mackworth in den 1940er Jahren. Dabei mussten die Versuchspersonen zwei Stunden lang auf eine Art Uhr gucken. Auf dieser war ein roter Punkt, der ungefähr im Sekundentakt immer einen Schritt weiter springt. Wenn er statt einen Schritt zwei Schritte weitergesprungen ist, sollten die Proband:innen einen Knopf drücken. Das Ergebnis: nach ungefähr einer halben Stunde übersehen die Versuchspersonen immer öfter, wenn zwei Schritte gemacht wurden.
Hat da gerade etwa mein Handy vibriert?
Das war aber 1940. Heute ist es doch bestimmt viel schlimmer, oder? Gloria Mark ist Psychologieprofessorin an der University of California. Sie beschäftigt (Opens in a new window) sich schon seit Anfang der 2000er Jahre mit dieser Frage. Damals hat sie Kameras in Büros aufgehängt und die Aufnahmen ausgewertet. So hat sie herausgefunden, dass die Menschen in den Büros sich ungefähr etwas mehr als zwei Minuten lang auf einen Text konzentrieren können, bevor sie abgelenkt wurden. Inzwischen liegt die Aufmerksamkeitsspanne bei konzentrierter Arbeit am Bildschirm (wichtig! Es gibt ja nicht eine allgemeingültige Spanne) nur noch bei durchschnittlich 47 Sekunden. Und das liegt an den veränderten Bedingungen mit denen wir täglich zu tun haben. Denn es gibt immer mehr Kontextwechsel.
Damit ist der Prozess gemeint, der in unserem Gehirn geschieht, wenn wir von einer Aufgabe zu einer anderen wechseln. Wenn ich also diesen Newsletter schreibe und mir gerade die wichtigsten Studien zum Thema Aufmerksamkeit durchlesen und plötzlich ruft meine Freundin aus der Küche irgendwas Unverständliches durch die Wohnung: Kontextwechsel. Oder ich übertrage gerade alle Daten auf mein neues Handy (gerade tatsächlich gemacht) und dann ruft ein Kollege an und möchte mit mir besprechen, wann sein neuer Artikel erscheint: Kontextwechsel. Oder wenn ich egal was tue und mein Handy vibriert. Das ist immer ein Kontextwechsel. Selbst am Handy selbst, wenn ich gerade einen Artikel lese und oben eine Nachricht aufploppt.
Unser Leben ist voller Kontextwechsel und heute mehr als jemals zuvor. Dass wir so leicht abzulenken sind, war allerdings schon immer so. Schon vor Millionen Jahren schlenderten wir durch den Wald auf der Suche nach Pilzen und unser schöner Fokus auf essbare oder nicht essbare Pilze wurde ständig unterbrochen durch alles mögliche, was im Wald so passiert ist. Warum? Es könnte ja gefährlich sein und unser Leben bedrohen. Dass wir unseren Fokus verlieren, wenn etwas anderes, vermeintlich Wichtiges passiert, ist eigentlich ein evolutionärer Hack. Heute ist nur jede neue Nachricht, die aufploppt, etwas vermeintlich Wichtiges. Unser Gehirn hatte noch gar keine Chance, sich diesen neuen Gegebenheiten anzupassen. Evolution dauert ewig lang. Aber irgendwann wird sich das Gehirn angepasst haben.
Vielleicht können wir uns dann tatsächlich nicht mehr so lange konzentrieren wie früher. Vielleicht sind wir dafür aber viel besser darin, schnell zwischen verschiedenen Aufgaben zu wechseln. Eine Fähigkeit, die in der heutigen Welt immer wichtiger werden könnte.
So bleibst du fokussiert
Bleibt die Frage, was du tun kannst, um deiner Aufmerksamkeit wieder auf die Sprünge zu helfen. Ich habe vier ganz konkrete Tipps gefunden, die dabei helfen.
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