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Liebe Leserin, lieber Leser,

quasi modo geniti infantes, wie Neugeborene, sollen wir - so heißt es im Introitus zum heutigen Weißen Sonntag - nach der „unverfälschten, geistigen Milch“ (1 Petr 2,2) verlangen. Wie bereits in den vergangenen Folgen dieses Newsletters betont wurde, ist nicht nur der Glaube, sondern auch das Wissen schwer zu haben oder nur um den Preis des Nicht-Wissens zu erlangen. Der menschlichen Erkenntnis bleibt häufig nur der radikale Zweifel; der Verzicht auf ein „fundamentum inconcussum,“ ein unerschütterliches Fundament wie es der Philosoph René Descartes (1596-1650) später einfordern wird. Auch die häufig beschworene Realität, die wirklich wahre Wirklichkeit, bietet keine derartige Sicherheit. Darauf weist das heutige Evangelium in kaum übertroffener Deutlichkeit hin:

II)

Im Anschluss an Jesu Begegnung mit Maria Magdalena versammeln sich die Jünger am Osterabend hinter verschlossenen Türen. Dieses Hindernis hält den Messias aber nicht davon ab, endlich in ihrer Mitte zu erscheinen und sie mit seinem Geist zu segnen. Allerdings ist sein wunderhaftes Erscheinen nicht unmittelbarer Beweis seiner Identität:

„Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite.“ (Joh 20,20)

Erst die fleischlichen Zeichen seiner Kreuzigung beglaubigen die Identität Jesu. Aber diese durch Erzählung vermittelte sinnliche Gewissheit ist Thomas, der bei der Erscheinung nicht zugegen war, nicht genug:

„Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ (Joh 20,25)

Nur die fleischliche Berührung, nur das Betasten der Wunde kann den am Jünger nagenden Zweifel vertreiben. Etwa eine Woche später kommt der Messias dieser Sehnsucht durch ein erneutes Erscheinen nach:

„Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (Joh 20,27)

Erst diese unmittelbare Einsicht in das Wunder der Auferstehung verwandelt einen,ungläubigen Thomas‘ in einen Gläubigen oder gar einen Wissenden. Trotz dieser geradezu ethische Züge annehmende Umwendung zum Wissen gibt Jesus in einer kurzen Antwort an Thomas Folgendes zu bedenken:

„Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20,29)

Caravaggio, Incredulità di San Tommaso, 1601-1602 (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Le_Caravage_-_L%27incr%C3%A9dulit%C3%A9_de_Saint_Thomas.jpg)

Einerseits weist uns Jesus so auf die bestehende Notwendigkeit sinnlicher Erkenntnis hin: Manchmal ist nur das, was uns vor Augen tritt oder mit einem anderen Sinn greifbaf wird, überzeugend - das Fleisch triumphiert möglicherweise in Konkurrenz mit den häufig unzuverlässigen Zeichen. Andererseits sensibilisiert der Heiland hier für eine tiefere Form des Wissens, eine spezifische Form der Blindheit, die das unmittelbar Sichtbare zugunsten des nur vermittelt Sichtbaren übersteigt und uns damit den Neugeborenen ähnlich werden lässt.

III)

Der heute zumeist als Herold des Atheismus und Biologismus apostrophierte italienische Philosoph Giordano Bruno (1548-1600) deutet im vierten Dialog des zweiten Teils seines in italienischer Sprache verfassten Werks De gli eroici furori (1585) (Giordano Bruno: Von den heroischen Leidenschaften, Hamburg 1989) wiederum an, dass diese Blindheit in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach menschlicher Erkenntnis per se verhandelt werden muss. Im Stil eines platonischen Dialogs zwischen den Protagonisten Severino und Minutolo präsentiert uns der Nolaner einen „Vortrag der neun Blinden […], die neun verschiedene Ursachen und Gründe ihrer Blindheit anführen“ (S. 182). An dieser Stelle müssen wir uns allerdings auf die Erklärungen des dritten Blinden, der Thomas auf eine gewisse Weise ähnelt, beschränkt:

„Es folgt der nächste, der sagt, blindgeworden zu sein, weil er plötzlich aus der Finsternis in großes Licht geführt worden sei. Ihm, der nur an die Betrachtung gewöhnlicher Schönheiten gewohnt war, wurde plötzlich eine himmlische Schönheit, eine göttliche Sonne vor Augen gestellt. Die Sehkraft wurde ihm zerstört und das doppelte Licht gelöscht, das am Bug der Seele leuchtet (denn die Augen sind wie zwei Scheinwerfer, die dem Schiff die Richtung weisen) – wie es wohl einem geschieht, der in cimmerischer Finsternis aufgewachsen ist und seine Augen unmittelbar auf die Sonne heftet.“ (S. 191)


Das plötzliche Einbrechen des Lichts in die Dunkelheit, der Glanz der Wahrheit, hat die Augen dieses Mannes zerstört. Nur an die Betrachtung profaner Dinge gewohnt, verliert er im Angesicht des Göttlichen diese allzu irdische Erkenntnisfähigkeit. Bruno bemüh  Zeilen des Propheten Jesaja, um diesen Verlust auf eine sich „ohne Maß in der Bewegung und der Zeit“ (S. 191) ereignende Wahrheit zurückzuführen: „Meine Augen blicken ermattet nach oben […]“ (Jes 38,14). Wie ein Neugeborener muss auch Brunos Blinder wieder von vorne beginnen und abseits sinnlicher Gewissheit nach Wahrheit suchen.

IV) Gastbeitrag (Alexander Schnickmann)

Es ist vielleicht nicht ganz passend, aber ich denke an einen Country-Song. Die Geschichte geht so: In einer Januarnacht 1947 fährt Hank Williams nach einem Konzert mit seiner Band heim nach Montgomery, Alamaba. Seine Mutter sitzt am Steuer, der Sänger schläft betrunken auf dem Rücksitz. Als sich ihr Auto der Stadt nähert, scheinen plötzlich die Lichter des Flughafens durch das Fenster. „I just saw the light,“ soll die Mutter da gesagt haben und Hank Williams wachte auf - Ich habe das Licht gesehen. Der Song, den er daraufhin schreibt, ist das Zeugnis einer euphorischen Umkehr, schaut her, mir ging es schlecht, aber dann habe ich das Licht gesehen,und was für ein Licht das war.

„I wandered so aimless, life filled with sin/I wouldn’t let my dear savior in/Then Jesus came like a stranger in the night/Praise the Lord, I saw the light.“ Wie ein Fremder in der Nacht kommt Jesus hier, in etwas amerikanischem Eifer; „wie ein Dieb in der Nacht“ kündigt Paulus uns im Brief an die Thessalonicher das Kommen des Herrn an (1 Thess 5,4); unerkannt, als Fremder kommt er an den Jakobsbrunnen in Samarien (Joh 4,5-6) und hier, heute, am Ende des Johannes-Evangeliums, wieder ist es Abend, sitzen die Jünger verängstigt in ihrem Haus hinter verschlossenen Türen und kommt Jesus genau in ihre Mitte.

Immer scheint er dorthin zu gehen, wo man ihn nicht erwartet, sein Kommen selbst, das Kommen des Anderen, von einer ganz anderen Zukunft zu künden, als der des Planens, des Erwartens und der vermeintlichen Gewissheiten. Und auch die Türen und Mauern kümmern ihn nicht. Vielleicht denke ich jetzt gar nicht mehr an einen Country-Song, sondern an ein Problem von etwas größerer Reichweite, an Gemeinschaft, unsere sozialen Körper, Familien, Städte und Staaten, das Spiel von communitas und immunitas. Überall stehen wir an Orten, deren Türen wir verschlossen halten, und die ihre Ordnung über große und kleine Politiken des Einschließens und Ausschließens gewinnen. Doch diese Ordnungen, das wissen wir, haben keinen Bestand, sie sind immer dann prekär, wenn sie sich verschließen, wenn man glaubt, sich selbst zu genügen, wenn man aus Furcht in der Nacht die Türen verschließt. Gemeinschaft, das lese ich im Evangelium, besteht nicht im Eigenen, sondern erst im Kommen des Anderen, der plötzlich in unsere Mitte tritt.

Zuletzt gilt mein besonderer Dank wieder denjenigen Mitgliedern, die diesen Newsletter nun seit knapp einem Monat finanziell mit Scherflein, Gabe oder Geschenk unterstützen, sowie allen interessierten Leserinnen und Lesern oder Kommentatorinnen und Kommentatoren auf Twitter.

Herzlichst 

Louis Berger

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