Skip to main content

Ist Mathe blau?

Zur emotionalen Diskussion über Heftfarben, Zufälle, die keine sind und binäre Sortiermethoden im Schulalltag.

Jeden Tag werden Kinder in Jungs und Mädchen, in Blaue und Rote, in Brave und Wilde sortiert, weil Erwachsene das praktisch finden und ihren Gender Bias nicht reflektieren. In der Schule richten sie die Sitzordnung danach aus, teilen Gruppen danach ein, sortieren Listen nach Geschlecht, vergeben rote und blaue Namensschildchen, bestimmen Reihenfolgen danach und brauchen "Drei Starke Jungs", um zwei Tische zu bewegen. Bei Mädchen wird Unruhe früher sanktioniert, bei Jungs wird Unleserlichkeit länger entschuldigt. Nachsichtigkeit bei den einen, Ungeduld bei den anderen, und die Linie verläuft immer wieder binär zwischen männlich und weiblich, auch wenn Geschlecht in den meisten Fällen das am wenigsten geeignete Einteilungskriterium ist. (Studien* dazu, s.u.) Aber - es ist einfach so praktisch! 

Welche Farbe hatte Dein Matheheft? … das deiner Kinder?

Mädchen wird öfter der rote Material-Schuber und Jungen der blaue zugewiesen. Und wenn dann obendrein Mathehefte blau und Deutschhefte rot sein sollen - warum augerechnet? - und wenn Jungs in der Regel als begabter in Mathe und Mädchen als sprachbegabter gelten, dann müssen wir endlich aufhören, an Zufall oder angeborene Fähigkeiten zu glauben!

Als wir dieses Thema auf Insta (Opens in a new window) und Twitter aufgegriffen und die Ergebnisse präsentiert haben, meinten manche:

"Blau ist eben kalt und Rot warm, dass das zu den Fächern passt, liegt nur an der Wirkung der Farben"  oder

"Mathe ist sachlich, Sprachen emotional, mit Geschlecht würde ich das jetzt nicht in Verbindung bringen"

Verzeihung, wenn es hier ungemütlich wird, aber wir sprechen vom "unbewussten" Bias. Ich würde das auch nicht so gern in Verbindung bringen, weggucken wäre jetzt schön. Aber auch mit geschlossenen Augen spielt Farbpsychologie eine Rolle, wenn Farben Fächern zugeordnet werden. Die Eigenschaften "sachlich", "klar" sind männlich konnotiert, während "emotional", "warm" eher Frauen zugeschrieben wird. Und nicht zufällig hält sich die Überzeugung, Frauen seien besser in emotionalen Care-Berufen und Männer besser im sachlich Technischen. 

Bei uns war es genau andersherum: Mathe rot, Deutsch blau. 

Glückwunsch! Eine der vielen kleinen Rosa-Hellblau-Fallen umschifft. Interessant bleibt, dass die beiden Farben häufig auf ausgerechnet diese beiden Fächer verteilt werden. 

Wie wär's mit Mathe gelb, Deutsch hellblau?

Blaue Mathe-Hefte sind nur ein kleines Beispiel der alltäglichen Rot-Blau-Falle im Alltag von Schüler*innen. Sie verursachen keinen Sexismus, so wie gelbe Hefte das Gesamtproblem nicht lösen. Sie sind trotzdem eines von vielen, kleinen Kennzeichen für unbewusste Zuordnungen und evtl. auch für fehlende Reflexion in  Sachen Rollenstereotype. Besser wär's, in den beiden Fächern nicht ausgerechnet diese beiden geschlechtlich konnotierten Farben zu nutzen.

Denn die Farben Rot und Blau können, sobald sie in 2er-Kombination auftreten, nur schwer ohne geschlechtliche Konnotierung wahrgenommen werden. Es gibt nun mal eine gesellschaftliche Übereinstimmung bei der Zuordnung. Die auch Kindern nicht verborgen bleibt ¯\_(ツ)_/¯

Der Insta-Post über die Mathe-Hefte-Farbfrage, den wir im August 2021 veröffentlicht haben, erfährt immer mal wieder eine Aufmerksamkeitswelle, sobald ihn jemand teilt oder sich besonders emotional dazu in den Kommentaren äußert. Und die lebhafte Diskussion darum bietet sich an, um auf ein paar weitere rosa-hellblaue Punkte einzugehen, die in dem Kontext gerne vorgebracht werden.

Wichtig vorneweg !

Wir wollen damit niemanden persönlich angehen, der folgende Kommentar ist deshalb anonymisiert, und unsere Antworten richten sich nicht an die Absender*in! Es sind Aussagen darin, die auch an vielen Stellen in der Literatur und Forschung zur gendersensiblen Pädagogik aufgegriffen werden, denn sie sind sehr verbreitet. Und da sie hier auf so engem Raum versammelt sind, bot es sich an, sie alle nacheinander zu beantworten. Also nix für Ungut!

❓"Kinder denken ja nicht, Mädchen lesen lieber und Jungs sind besser in Mathe"

❗️Es geht hier um Prägung, Sozialisation, verinnerlichte Denkmuster und stereotype Vorbilder! Das meiste dazu läuft weitgehend unbewusst ab und entwickelt sich langsam, am Anfang fast unmerklich. Aber natürlich hat all das Einfluss - auch auf Lesekenntnisse, Mathefähigkeiten, auf Interessen generell!

https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/pisa-studie-geschlechter-klischees-entmutigen-jungs-beim-lesen-16652115.html (Opens in a new window)

❓"Erstklässer denken nicht so in Schubladen"

❗️"Wenn Kinder in die Schule kommen, haben sie bereits Vorstellungen über Weiblichkeit und Männlichkeit entlang der geltenden gesellschalichen Normen entwickelt, die für sie handlungsleitend sind und ihre Wahrnehmung strukturieren. Ein kritischer Blick auf die Organisation Schule und das Verhalten der Lehrpersonen zeigt, dass darin die Kategorie Geschlecht subtil eingewoben ist, auch wenn »Geschlechtsneutralität« proklamiert wird."

(Angelika Paseka : Geschlecht lernen am Schauplatz Schule, Uni HH)

Das Gegenteil ist also der Fall:

"Im Verlauf des Kindergartenalters nimmt die Tendenz zur Geschlechtertypisierung deutlich zu und führt dazu, dass viele Kinder zu Beginn des Volksschulalters sehr rigide Vorstellungen von Geschlechtszuordnungen vertreten."

Josef Christian Aigner et. al.

https://lef-wue.de/lef-downloads/projekte/vaeter-in-der-familienbildung/projektunterlagen/220-elementar-maenner-in-der-paedagogischen-arbeit-mit-kindern/file.html

Deshalb ist die Verantwortung von Erwachsenen in dieser Phase besonders groß, Kindern vielfältige Angebote zu machen und enge Rollenbilder in Frage zu stellen. Ziel sollte sein, normiertes, binäres Denken aufzubrechen und Toleranz  zu vermitteln, dass "anders" nicht gleich "falsch" ist. Aber wie soll das gehen, wenn man die eigene Prägung nicht reflektiert hat?

❓"glaube ich nicht", "Kann ich nicht bestätigen", "Ich habe den Eindruck…" -

❗️Können wir bitte Fakten mehr Gewicht geben als der anekdotischen Evidenz?! Das ist wirklich kein Thema, bei dem man sich (als Lehrkaft) aufs Bauchgefühl berufen sollte! 

❓"Rot würden die wenigsten Kinder als Mädchenfarbe bezeichnen … Blau als Jungsfarbe schon eher".

❗️Rot war vor rund 10 Jahren noch keine reine "Mädchenfarbe", so wie Violett in den 90ern noch für alle da war. (Während Rot seit Jahrhunderten als Farbe der Mächtigen galt, während Blau noch im Mittelalter der Himmelsgöttin Maria zugewiesen wurde). Aber ein Blick auf die Marketingmethoden im Spielwarenbereich, die Aufteilung von Schulranzen oder Kinderschuhen in den Regalen zeigt, das das heute anders ist. Rote Schuhe werden an der Kita-Garderobe inzwischen Mädchen zugeordnet, und es gehen irritierte bis vorwurfsvolle Kommentare an Eltern, die es wagen, Jungs rot zu kleiden und damit Fremde an der Nase herumzuführen. Blau und v.a. Türkistöne dagegen reichen allerdings in den Bereich, der für/von Mädchen akzeptiert wird (siehe Disneys Elsa).

https://twitter.com/fuchswinter/status/1106875226489610240?s=21&t=nGgrVaIa6FG29fhJ-xXdpA (Opens in a new window)

❓ "Da gibt es wichtigere Bereiche…"

❗️Ja, die Farbe der Mathehefte sind der Krümel auf der Oberfläche der Geschlechtertrennung! Aber zu gendern nervt ja auch irgendwie, und ich mag nun mal meinen Winnetou, und überhaupt, "Es sind doch bloß Farben! Lasst mich, ich kümmere mich nämlich um die wirklich wichtigen Dinge."

Wahlfreiheit jenseits von Stereotypen lässt sich nun mal nicht durch nur eine Maßnahme ermöglichen! Das ist ja das Schwierige: Die Fülle an kleinsten, geschlechtszuordnenden Botschaften JEDEN Tag von morgens bis abends im Alltag von Kindern. Warum also die Farbwahl bei Materialien auschließen aus den Bemühungen?

Uns ist bewusst, dass wir immer ungeduldiger werden in dem Thema über die Jahre. Und dass freundlich-gelassen bleiben schwerer fällt, weil die Einwände und Gegenfragen sich so sehr wiederholen, wie wenn kein Vorankommen möglich wäre. Das tut uns leid. Aber wenn uns die Rosa-Hellblau-Falle nicht auch emotional und biografisch betreffen würde, hätten wir das Thema längst gegen ein anderes eingetauscht.

Es ist außerdem erschreckend, dass ein solcher Beitrag Neues enthält für manche  Lehrkraft (die sich auf 20 Jahre Berufserfahrung beruft). Warum gehört das Basiswissen über gendersensible Pädagogik nicht zur Grundausrüstung der Ausbildung? Ja, es hat sich viel getan, und wer heute studiert, trifft auf ein größeres Angebot als früher. Aber ist es Pflicht für Lehrer*innen, sich damit zu befassen? Leider meistens nur auf dem Papier.

-------

Also sprecht ruhig die Lehrkräfte Eurer Kinder, v.a. in der Grundschule darauf an bzw. als Lehrkraft, bitte informiert Euch über den 'Stereotype Threat', reflektiert Eure Prägung und greift das Thema mit Eltern auf. Es gibt leider kein gleich behandeln. Sobald Erwachsene das Geschlecht wissen, behandeln sie Kinder unterschiedlich, das ist in vielen Studien in allen möglichen Ländern nachgewiesen worden. Das muss wirklich nicht beim Korrigieren von Hausaufgaben und Austeilen von Materialien im Unterricht noch verstärkt werden. Und damit wollen wir niemandem Schuld zusprechen und "falsches" Handeln unterstellen, sondern hier geht es um gesamtgesellschaftliche Prägung. Die Frage ist, ob man bei sich selbst anfängt und dagegen vorgeht, oder ob man alles von sich weist und so tut, als gäbe es sie nicht. 

Nochmal: es geht nicht um Schuld und falschen Unterricht, sondern darum, ehrlich sich selbst gegenüber zu sein und Kindern Wahlfreiheit und eine faire Ausgangslage zu ermöglichen. 

Alles Gute dafür! 🙌

---

P.S. Mehr Details zum Bias im Unterricht findet ihr im Kapitel 8  in unsrem Buch 'Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees': >>Hilfe für Bildungsverlierer. Allein oder zusammen - wie Schulen weiterführen<<

*Studien und wissenschaftliche Artikel zum einleitenden Absatz:

  • Seemann, Malwine und Jösting, Sabine (2006) Gender und Schule: Geschlechterverhältnisse in Theorie und schulischer Praxis. BIS Verlag.

http://oops.uni-oldenburg.de/504/ (Opens in a new window)
  • Heyder, Anke/Kessels, Ursula (2013): Is school feminine? Implicit gender stereotyping of school as a predictor of academic achievement. In: Sex Roles, 69. 605-617

  • IQB-Bildungstrend:

https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/iqb-bildungstrend-kinder-sind-zufrieden-mit-ihrer-schule-aber-zu-viele-sind-aengstlich/ (Opens in a new window)
  • Faulstich-Wieland, Hannelore/Weber, Martina/Willems, Katharina (2004): Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen. Weinheim: Juventa

  • Hannover, Bettina/Kessels, Ursula (2011): Sind Jungen die neuen Bildungsverlierer? Empirische Evidenz für Geschlechterdisparitäten zugunsten von Jungen und Erklärungsansätze. In: Zeitschrift für Pädagogik 25 (2). 89–103

  • Ann-Katrin Denn, Miriam Lotz, Caroline Theurer, Frank Lipowsky

    „Prima, Lisa. Richtig“ und „Psst, Max. Hör auf zu stören!“ Eine quantitative Studie zu Unterschieden im Feedback-verhalten von Lehrkräften gegenüber Mädchen und Jungen im Mathematikunterricht des zweiten Schuljahres:

https://www.budrich-journals.de/index.php/gender/article/download/21908/19169 (Opens in a new window)

--

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of Almut & Saschas Newsletter aus der Wort & Klang Küche and start the conversation.
Become a member