Trump, Neuwahlen, Winter
9 ½ Lifehacks für Diktatur-Anfänger: Wie Sie Westdeutschen jetzt Mut machen können
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Trump ist nicht Gorbatschow. Dennoch erschüttert der Machtwechsel in den USA neben dem Weltgefüge auch viele Menschen, die bisher an sogenannte westliche Werte oder die ewige Westbindung glaubten.
Manche fürchten den faschistischen Umsturz auch bei uns, andere nur um ihren Wohlstand. Sonst eher selbstbewusste Journalisten wie der ZEIT-„Redakteur für besondere Aufgaben (Meinung)“ Bernd Ulrich zweifeln angesichts der Niederlage „liberaler Kräfte im Westen“ – auf X und überhaupt (Opens in a new window) – sogar schon an der eigenen Haltung: „Alles, was bisher gemacht, gedacht und gesagt wurde, steht auf dem Prüfstand.“
In diesen schweren Tagen kommt es darauf an, die verunsicherten Landsleute mit ihren Sorgen und Ängsten nicht allein zu lassen. Jeder, der schon einmal eine echte Zeitenwende überstanden hat, kann dabei helfen. Denn nicht nur unter labilen Meinungsführern sind Entsetzen und Ratlosigkeit groß. Bestimmt haben Sie in Ihrer Umgebung auch einfache Leute aus dem Westen, die jetzt Beistand brauchen – Ihren Chef zum Beispiel oder den Vermieter.
Für alle Fälle hat unsere Serviceredaktion “Psychologie gestern” neuneinhalb Tipps für die behutsame Seelsorge zusammengetragen.
1. Haben Sie Mitgefühl
Es ist erst mal ein Schock, na klar: Noch mal vier Jahre Trump. Die kaputte Fortschritts-Ampel. Der Winter. Damit konnte im Westen niemand rechnen. Und dann noch alles auf einmal!
Um zu verstehen, was in vielen entfernt verwandten Landsleuten jetzt vorgeht, muss man sich vielleicht einen SED-Genossen im Herbst 1989 vorstellen: Sein Bild von der Welt wackelt schon seit Monaten. Der Siegeszug des Sozialismus stockt. Obwohl die Partei- und Staatsführung nach wie vor glaubt, in aller Welt Vorbild zu sein, gilt sie zu Hause immer weniger. Statt die einzig richtige Partei zu wählen, vertrauen die Menschen nicht mal mehr dem Wetterbericht im Staatsfernsehen. Dann untergräbt auch noch Ungarn die Ostbindung. Scheinbar ewig gültige Wahrheiten zerbröseln zu Staub. Und vom großen Bruder in Moskau oder Washington ist auch keine Hilfe mehr zu erwarten.
2. Geben Sie der Trauer Zeit
Nach den ersten Trauerphasen der Leugnung und Verdrängung schlägt die Realität umso härter zu. Viele Westdeutsche fühlen sich plötzlich allein, schutzlos ausgeliefert, ungerecht behandelt, oft verbunden mit radikaler Selbstkritik: „Aber wir wollten doch … Wir lieben doch … Wir sind doch mehr!“
Von außen mag dieses Wehklagen nur jämmerlich wirken. Überhebliche Floskeln wie „halb so schlimm“ oder „Kopf hoch!“ sind dennoch heikel. Hören Sie lieber geduldig zu! Erklären sie ehemaligen Welterklärern nicht die Welt. Das provoziert nur unnötige Abwehrreflexe und Rückfälle. Erfahrungsgemäß kommen die meisten Deutschen nach ein paar Wochen mit jeder noch so repressiven Regierungsform zurecht.
3. Machen Sie sich nicht lustig
Seien Sie nachsichtig, falls es noch unbeholfen wirkt, wie Westdeutsche in der Diktatur auftreten. Bis auf die Ältesten unter ihnen kennen sie nur, dass es immer laut und polternd aufwärts geht. Auch Leisetreten will gelernt sein.
Zeigen Sie Respekt für ihre Lebensleistung, selbst wenn es nur ein Erbe oder geografisches Glück nach dem letzten Weltkrieg war. Dafür können sie nichts.
4. Tolerieren Sie etwas Nostalgie
Die Sehnsucht nach der scheinbar „guten alten Zeit“ kommt in Wellen. Westalgie ist selten hilfreich, aber ein harmloses Ventil. Solange es Ihre Gesprächspartner nicht übertreiben und auf überwundene Relikte wie Meinungsfreiheit oder die Musik von den Scorpions bestehen, lassen Sie sie ruhig etwas schwelgen! Geben Sie in feinen Dosen zu: Es war nicht alles schlecht. Vielleicht kann man ja sogar ein paar westdeutsche Errungenschaften übernehmen: Ärztehäuser zum Beispiel oder das gute Kita-Gesetz. Die Landsleute brauchen jetzt etwas, auf das sie stolz sein dürfen.
5. Suchen Sie das Gute im Schlechten
Trump mag kein feinsinniger Reformer sein, aber wie der ausgemusterte Gorbatschow war auch er für den Militärdienst untauglich. Vielleicht spielt er ja tatsächlich lieber Golf als mit Raketen?
Aus Erfahrung mit starren Systemen kann man außerdem sagen: Immerhin passiert überhaupt noch mal etwas nach dem angeblichen Ende der Geschichte. Wie langweilig wäre es geworden, wenn Kapitalisten keine Imperialisten wären und die Welt einvernehmlich aufgeteilt hätten. Seid ihr nicht neugierig, was nach der Börsen-Diktatur kommt?
Ein paar demokratische Betonköpfe werden trotzdem barmen: Aber zu welchem Preis?! Antworten Sie ausweichend. Rufen Sie nicht gleich nach dem Verfassungsschutz! Etwas Widerstandsgeist schadet auf lange Sicht nie. Womöglich reifen im Untergrund schon ganz neue Ideen?
Stellen Sie sich nur mal vor: eine aufmüpfige Jugend, endlich wieder regierungskritische Medien oder aufrechte Menschen, die Geheimdienstzentralen besetzen statt Parteiverbote zu fordern…
6. Erzählen Sie Mutmach-Geschichten
In der Zwischenzeit heißt es Zuversicht wecken. Vielleicht kennen Sie einen abgewickelten DDR-Wissenschaftler, der nach etlichen Umschulungen und Leiharbeitsverhältnissen nun doch wieder einen festen Mindestlohn-Job hat?
Schwärmen Sie von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Wendehals-Karrieren! Beruhigen Sie vor allem die Stützen des alten Systems wie Lehrer, Journalisten und Politiker: Funktionäre funktionieren in jedem System. Sie werden auch im neuen Apparat gebraucht. Das war nach 1945 so, mit Abstrichen sogar 1990. Warum soll das nicht noch einmal funktionieren?
7. Geizen Sie nicht mit praktischen Tipps
Wenn die Wärmepumpe nicht reicht oder zu viel Strom kostet: Zeigen Sie ihren westdeutschen Nachbarn, wie man einen Kachelofen heizt. Klären Sie rechtzeitig darüber auf, was Tauschwert haben könnte, falls Geld und Aktien plötzlich wertlos werden: Autoreifen, Zement, Klempnerfertigkeiten.
Erteilen Sie Nachhilfe in Opportunismus: wie man stets unauffällig bleibt; was man besser nur noch zu Hause sagt; wie man Witze über Politiker macht, ohne dass gleich der Staatsschutz anklopft.
Ermuntern Sie Kollegen zu passivem Widerstand: Bummelstreik und Schlendrian haben der Arbeiter- und Bauerndiktatur mindestens ebenso zugesetzt wie Burn-out und Rekord-Krankenstände dem Turbo-Kapitalismus.
8. Verbreiten Sie Hoffnung
Nichts ist für immer. Gerade diese simple Erkenntnis mag für viele Westdeutsche neu und deshalb besonders schmerzhaft sein – sie kann aber genauso gut Trost spenden.
Erinnern Sie die verzweifelten Landsleute an andere Phasen unserer gemeinsamen Geschichte: wie schnell Tausend Jahre vorbei sein können und wie gemütlich sich beide Seiten danach hinter Stacheldraht eingerichtet hatten, bis doch wieder alles anders kam.
Räumen Sie mit populären Irrtümern auf, zum Beispiel, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe. Bieten Sie alternative Nischen zu Fernreisen und Angeberei an: FKK, Kleingarten, ein schönes Hobby. Wenn Westdeutsche ehrlich sind, gab es bei ihnen auch kein richtiges Leben im richtigen.
9. Keine falschen Versprechungen
Reden Sie die Dinge trotzdem nicht schön: Es brechen bittere Zeiten an – und die können dauern. Wenn Sie den verwöhnten Landsleuten ungefähr bulgarische Verhältnisse von 1976 in Aussicht stellen, versprechen Sie sicher nicht zu viel. Es müssen nicht immer gleich blühende Landschaften sein. Das sorgt nur für neue Enttäuschung und Frust.
Bewahren Sie Ihre Schützlinge vor albernen Ratgebern, die in neun oder zehn Tipps aufzählen, “wie oder was Sie jetzt unbedingt tun müssen”…
… oder teilen Sie diese gern!
© Holger Witzel 🍊🍊🍊🧅🍊 2025