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Folge 24 

Etwas Neues: Schreien

Ein Verb durchzieht und vereint seit einigen Wochen sehr viele Tweets in meiner TL: schreien. Hier ein exemplarischer Screenshot. 

Noch ist es bei den meisten – bei mir auch – ein stummes oder performatives Schreien, man schreibt darüber, dass es zum Schreien ist, schreit aber nicht buchstäblich. Also eher »Der Schrei«-Emoji als schreiende Voicemail. (Bitte schickt mir niemals eine geschriene Voicemail bzw. egal, ich öffne die ja eh nicht, sagt es nicht meinen Söhnen.) 

Nach der großen Erschöpfung oder diese begleitend sind jetzt also viele Menschen beim großen Schreienwollen angelangt. Vielleicht ist es ja eine Vorstufe, meiner Einschätzung nach sollte man es hoffen, denn Schreien impliziert Lebenskraft und die hätte man doch gerade besonders gern zurück.  

Deshalb entwerfe ich jetzt ein Vision für mich und vielleicht auch für euch. Lasst uns wirklich schreien, buchstäblich, draußen auf der Straße, auf öffentlichen Plätzen, vor Regierungsgebäuden. Viele Menschen zusammen könnten das für Mächtige unerträgliche Störgeräusch werden. Laut schreien, bis die gute, rettende, heilende Veränderung beginnt, nicht die schreckliche Veränderung, die gerade immer höher und gewaltiger über uns zusammenschlägt. – Praxistipp: Empfindliche Personen könnten ja beim Schreien ihre Noise-Cancelling-Kopfhörer aufsetzen.

Von Maha El Hissy habe ich neulich gelernt, dass man beim Trampolinspringen, wo Schreien sehr förderlich für die Atmung ist, sich auch erst überwinden lernen muss. Mir selbst fällt schreien, wenn es nicht aus dem Affekt kommt, enorm schwer, aber ich werde es jetzt üben. Bitte schreit auch ihr jetzt eine Runde zuhause vor euch hin, um langsam reinzukommen, ihr könnt ja Anwesende vorher warnen. 

»Unhöflich« könnt ihr bestimmt wie ich auch mittlerweile schon ganz gut, jetzt kommt »laut« dran. Nein, Schreien üben ist nicht esoterisch, es ist Wut-Workout, also los. 

#EndlichEinschreien

Etwas Altes: Ein Pandemieroman von vor der Pandemie

NY Ghost von Linga Ma (Opens in a new window) ist 2021 auf sehr unheimliche Weise ein sehr behaglich zu lesendes Buch, es wurde im Original 2018 veröffentlicht und spielt 2011. Im Buch werden so ziemlich alle Themen verhandelt, die einen gerade beschäftigen, aber auf schwer erklärbare Weise nicht so ins Handeln bringen, wie es sachlich angemessen wäre: Pandemie und dabei krass sichtbar werdender anti-asiatischer Rassismus, Klimakatastrophe, digitaler Fleischwolf-Kapitalismus, Sichern der westlichen Besitztümer, äh, Werte, durch martialische Mörder-Securitys, Schwangerwerden als gesellschaftliche Sackgasse, Dudes, die glauben, andere ungefragt beschützen zu müssen, während sie selbst die desubjektivierende Bedrohung sind. Viele Motive, Handlungs- und Figurenentwicklungen kennt man zwar schon aus anderen dystopischen Romanen bzw. Serien mit oder ohne Zombies, aber in NY Ghost ist alles auf eine Weise kombiniert, dass es einfach JETZT GERADE perfekt passt. Die Lektüre gibt einem wirklich etwas, ein diffuses Gefühl zwischen Trost und Zugehörigkeit, das guttut, aber – wichtig – nicht noch mehr sediert. 

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»Es ist höchste Zeit, die Frage nach Heimat nicht mehr von außen an Menschen heranzutragen wie eine voyeuristische Aufforderung, Auskunft über Zugehörigkeits- oder Zerrissenheitsgefühle zu geben. Beides können Menschen selbstverständlich empfinden, aber welche Funktion hat es als öffentliches Dauerthema? Als Gesellschaft sollte uns vielmehr beschäftigen, welcher sozialen und materiellen Umstände es bedarf, damit Menschen sich heimisch fühlen können – ungeachtet ihrer Geburtsorte, ihrer Sprachen, ihrer Konfessionen und ethnischen Zuschreibungen, über kulturelle und körperliche Differenzen hinweg. Überall dort, wo es an Inklusion, Gerechtigkeit und Solidarität mangelt, wird es Menschen geben, die von anderen Menschen heimatlos gemacht werden.«
– Asal Dardan

Bitte bringt ein bisschen Konzentration auf und lest alle Texte zum Themenschwerpunkt des Goethe Instituts »Transnationalität als ästhetisches und gesellschaftliches Projekt« (Opens in a new window), es ist mehr als lohnend, es ist nötig. Mitgewirkt haben neben Herausgeberin Asal Dardan noch Adrian Daub, Leila Essa, Maha El Hissy, Julia Lorenz, Cletus Nelson Nwadike, Jayrôme C. Robinet und Sinthujan Varatharajah.

Etwas Uncooles: Ex-Irgendwas 

Eines meiner, wenn ich die ethisch vertretbare, weil Privilegierte treffende Gehässigkeitsbrille aufhabe, Lieblingsgenres von Publizist*innen ist das, bei dem Menschen auch in relativ kurzen Bios darauf hinweisen, dass sie mal Model, Miss oder Landesmeister in irgendeinem Sport waren. In dem Kontext gibt es auch, nicht überraschend, eine eisern binäre Aufteilung: Cis Frauen wollen nicht, dass vergessen wird, dass sie mal für ihr gutes Aussehen bekannt waren, cis Männer nicht, dass ihr »Eigentlich hätte ich Profi werden können, aber« bei der Berechnung ihrer publizistischen Gesamthotness einfach keine Rolle spielen soll. Pech nur, dass man wegen dieser sachlich unnötigen Zusatzinformationen gleich noch ein paar Details mehr über sie weiß, die eher nicht in ihrem Sinne sein dürften. 

Ich persönlich bewerte Publizist*innen nach genau zwei Kategorien, ihrem sachlichen Output, und zusätzlich danach, wie sie mit ihrer institutionellen Macht umgehen. Sie mir mit einer Schärpe um den Badeanzug oder einem Speer in der Hand vorzustellen, lenkt mich eher unangenehm ab. Leute, echt, wie attraktiv oder fit ihr früher wart, könnt ihr mir gern mal privat erzählen, aber bitte nur, falls wir uns näher anfreunden sollten. Was aber eher unwahrscheinlich ist, weil ... zurück zum Anfang. 

(Wie es Ende des letzten Jahrtausends war, in einem Freund*innenkreis zu sein, in dem gefühlt alle außer einem selbst auflegten und modelten, erzähle ich euch ein anderes mal, vielleicht sogar gleich am Sonntag, da redet Diana Weis mit mir bei Radio Ladyland über die 90er.) 

Rubrikloses

Ex-jeans-Ausstellungskuratorin (2000)

Ex-Dichterin

Ex-Katzenkanon-Ermöglichende (aus: The Laser Canon (Opens in a new window))

Ex-Demonstrationsfotografin

Ex- Facebook-Nutzerin

Guerlica

(Dies ist ein bi-te aus dem Hexenbuch (Opens in a new window), da aber anders gestaltet.)

Zurück zu den Zählenden, bis nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis. 

XOXO,
FrauFrohmann

Wenn ihr könnt, schließt bitte ein kleines Steady-Abo ab (Opens in a new window), um nicht nur den Newsletter, sondern meine ganze Publishing-Arbeit zu unterstützen. Ein »bedingungsloses Verlags-Grundbudget« durch Crowdfinanzierung ist für mich mittelfristig der praktikabelste und auch konzeptuell passendste Weg, um weiterhin nicht marketinggetrieben aka wirklich indie veröffentlichen zu können. 

(Die großen Abos sind nur gelistet, falls sich diese eine gute und reiche Person auf der Welt zufällig fragen sollte, wie sie ... Mit viel mehr Geld könnte ich halt auch sehr viel mehr in der deutschsprachigen Publishingsphäre verändern.)

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