Folge 76
Etwas Altes: Schneeglöckchen und Romane
Wenn wir alt sind, werden mein Mann und ich Schneeglöckchen züchten. Unser Schneeglöckchengarten wird überregional bekannt sein. An speziellen Tagen werden ästhetisch empfindsame Menschen – Grobschlächter*innen mögen ja nichts Zartes – in den dann offenen Garten kommen, um geschmackvoll in kleine Tontöpfchen gepferchte Pflänzchen entgegenzunehmen. Sie werden dafür angemessen, aber nicht übertrieben bezahlen. Vielleicht tauschen wir auch Schneeglöckchen gegen Arbeit oder andere Pflanzen, das kommt darauf an, wie der Planet und die Gesellschaft in zwanzig Jahren so ticken. Ab und zu knabbern wir an einer Schneeglöckchenzwiebel, denn das darin enthaltene Galantamin ist gut gegen Alzheimer. Akeleien, Tulpen, Clematis und Herbstanemonen züchten wir natürlich auch, dazu aber später. Ich nehme gern eure Bestellungen für 2045 entgegen. Auch für die sammelwürdigen, typografisch meisterhaft gestalteten Printausgaben meiner Romane, die ich ebenfalls erst schreibe, wenn ich alt bin. Jetzt muss ich schließlich leben, damit ich später etwas zu erzählen habe, das über »Ich sitze am Tisch und sehe in den Garten« hinausgeht.
Gartenwissen: Das Schneeglöckchen (Galanthus), auch bekannt als Frühlingsglöckchen, Hübsches Februar-Mädchen, Lichtmess-Glöckchen oder -Glocke, Milchblume, Marienkerze, Schnee-Durchstecher, Weißglatze <3 oder Weiße Jungfrau.
Zuerst gebloggt am 24.1.2015 auf Tumblr, damals war, wie das Foto verrät, gerade die Zeit, als man notorisch Polaroidlook-Rahmen um seine digitalen Bilder legte. Das Gendersternchen wurde heute neu angebracht, außerdem habe ich »in dreißig Jahren« durch »in zwanzig Jahren« ersetzt.
Etwas Neues: Deutschland, das sympathische Zukunftsland
Den Kapitalismus als menschenfeindlich anzuerkennen und doch für alternativlos zu halten, das ähnelt in der resignativ-faulen Paradoxalität dem aktuellen Umgang mit der Pandemie. Ja, es gibt leider durchgehend hohe Todeszahlen und vermutlich, wie könnte es angesichts der Todeszahlen anders sein, hohe Inzidenzen, außerdem mehr und mehr Long-Covid-Betroffene, aber agiert wird, als wäre es nicht so. Die Masken runter, es reicht jetzt wirklich, dann sterbe ich halt, sterben müssen wir alle irgendwann. Warum war das vor einem Jahr noch eine Aussage, mit der sich Querdenker*innen zu erkennen gaben und jetzt nicht mehr? Manchmal frage ich mich, ob ich es bin, die plötzlich nicht mehr checkt, was Daten sind und was Wissenschaft ist: Warum ist Coronaverharmlosen plötzlich nicht mehr unwissenschaftlich, unvernünftig, unethisch? Warum sollen die Risikogrupen nun doch selbst sehen, wo sie bleiben? Warum soll es plötzlich auch unter sozial Denkenden akzeptabel sein, Freiheit als Freiheit von Verantwortlichkeit zu leben? Warum sind Menschen so? Hat der Neoliberalismus bereits unsere Gene verändert?
Obwohl ich fassungslos auf den kategorial anderen Umgang mit vergleichbarem Daten vor einem Jahr und jetzt sehe, bin ich auch nicht frei vom verantwortungslosen Mitziehen. Gestern bin ich – wie ungefähr 30 % der anderen Passagiere – in Berlin ohne Maske Bus gefahren, nicht aus Protest, sondern weil auf dem Weg zur Haltestelle meine Maske in den Dreck gefallen war, in wirklich üblen, potenziell hundehaufigen Dreck. Vernünftig und ethisch empfehlenswert wäre gewesen, heimzugehen und eine neue Maske zu holen, aber ich hatte einen Termin, und die Zeit drängte. Es war kein weltwichtiger Termin, aber es war ein Termin, außerdem hatte ich im Anschluss daran noch eine Verabredung, auf die ich mich freute. Also ließ ich fünfe gerade sein und stieg in den Bus, mit furchtbar schlechtem Gewissen, aber ich stieg ein. Warum?
Mir war mein Termin, ein anderer Schluss ist nicht möglich, in diesem Moment wichtiger, ich stellte etwas mit Wirtschaft Assoziiertes vor meine Rücksicht gegenüber Menschen. Damit habe ich exakt reproduziert, was überall auf der Welt gerade das Problem ist: Wirtschaft, etwas menschengemachtes Abstraktes, bedeutet mehr als Menschen. Es ist kein Zufall, dass »etwas zählen« und »von Bedeutung sein« nicht nur im Deutschen Synonyme sind – willkommen in der Liebessprache des Kapitalismus.
Hinzu kam, wie schon angedeutet, der Faktor Zeit, ich war schon ein bisschen spät dran und wollte der Person, mit der ich den Termin hatte, nicht unnötig »die Zeit stehlen«. (Hier noch mal die Empfehlung, Alle_zeit von Teresa Bücker (Opens in a new window) zu lesen.) Zugunsten der faktisch harmlosen Problematik, etwas unter Zeitdruck zu stehen, blendete ich aus, dass ich ohne Maske genauso potenziell wie an jedem anderen Tag in den letzten knapp drei Jahren andere Menschen das Leben kosten könnte. – Regelmäßige NewFrohmanntic-Leser*innen erinnern sich: Die üble Corona-Weihnacht allein in der fast leeren alten Wohnung meiner Mutter verdankte ich einer verantwortungslosen Mitreisenden im Flix-Bus. Ok, ich war nicht so skrupellos, wie diese Person mit Symptomen zu reisen, aber so ganz auf der anderen Seite stand ich nun auch nicht mehr. –Rational betrachtet hätte ich an der Bushaltestelle mein Smartphone rausnehmen, den Termin absagen, eine neue Maske holen und dann mit Maske zu meiner Verabredung fahren sollen. Stattdessen handelte ich, nur weil es kurz ein bisschen kompliziert und stressig wurde, impulsiv und irrational. Das hat mir mal wieder vor Augen geführt, dass Werte nichts wert sind – uh, schon wieder Kapitalismussprache –, wenn man sie nicht praktiziert, nicht lebt.
Zurück zum Ausgangsvergleich: Wenn es in Sachen Klimakatastrophe fünf Sekunden vor und, was soziale Gerechtigkeit angeht, fünfhundert Jahre nach zwölf ist, kapitalistische Weltordnung und Parteipolitik aber offenkundig nicht das Zeug dazu haben, angemessen darauf zu reagieren – Christian Lindner hat gerade wirklich gesagt, dass man mehr Autobahnen bauen müsse, um dem CO2-Ausstoß bei Staus auf der Autobahn zu begegnen – , dann muss das Maß geändert werden. Menschen müssen sich zivilgesellschaftlich organisieren und mit ihren Grundrechten an der Wirtschaft vorbeidrängeln. Mit oder ohne Feuerzeug. Wie das genau aussehen soll, weiß ich auch nicht, aber ich würde sagen, die mehr und mehr überall auf der Welt entstehenden Protestinitiativen haben längst damit angefangen. Überall, wo seit einigen Jahren etwas passiert, das sofort als zu geschmacklos, grell, laut, unhöflich, unverschämt und natürlich linksradikal gescholten wird, wird in Wirklichkeiten schon Überlebensgeschichte geschrieben. Schöner Verdacht: Ein Masterplan ist gar nicht nötig, nein, sogar unmöglich, denn es geht ja im ersten Schritt darum, das »Haus des Herrn« zum Verschwinden zu bringen. (Dazu habe ich einen Essay geschrieben, ich hoffe, er erscheint bald, könnte aber schwierig werden.)
Vor längerer Zeit habe ich auf Twitter angeregt, dass Deutschland jetzt, statt mit schlechtem Fortführen aller Strategien jämmerlicher und jämmerlicher, arschiger und arschiger dazustehen, auch mal ganz anders agieren könnte.
Schluss mit fossilen Brennstoffen und Atomenergie.
Bedingungsloses Grundeinkommen. Urban Citizenship. Gesamtgesellschaftliches Antidiskriminierungstraining. Inklusion.
Menschen vor Wirtschaft. Tiere auch. Leben zuerst.
Mal etwas riskieren. Nicht Risikokapital, sondern Menschlichkeit.
(Dies war ein weiterer Beitrag zum Thema #UmsehenLernen.)
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»Wenn deine Wurzeln nicht derselben Erde angehören, bist du verdammt. Den Strick nimmt dir keiner mehr vom Hals, du musst ihn bis zu deinem Ende tragen.« – Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen (Opens in a new window)
Etwas Uncooles: Immobiliengierige Jungfamilien
Ich weiß, wovon ich schreibe, ich war selbst mal Mitglied einer immobiliengierigen Jungfamilie. Die prototypische immobiliengierige Jungfamilie ist eine weiße cis het Kernfamilie mit Vater, Mutter, einem Kleinkind an der Hand und einem weiteren Baby im Bauch. Im Märchen haben Schwangere eine unstillbare Gier nach Feldsalat. – Heute weiß ich, dass Rapunzels arme Mutter wie ein Drittel aller jungen Personen, die menstruieren, einen gesundheitsgefährdenden Eisenmangel hatte. Ist ja auch nicht so wichtig, ob Gebärfähige gesund sind, solange sie nur gebären. – In Wirklichkeiten aber gieren Schwangere nach Immobilien bzw. danach, dass es neben ihrer Wohnung oder ihrem Haus ein Stückchen Rasen oder Wiese geben sollte, auf dem die Kinder herumkrabbeln können. Diese Vorstellung wird bei Vielen zu einer fixen Idee, was Gefahren birgt. Meine persönliche Stückchen-Wiese-Phantasie ließ uns an den Arsch der Welt ziehen, mehr Geld, als wir hatten, für ein Drecksloch bezahlen und nach nicht mal einem Jahr wieder umziehen. Von der viel billigeren, sehr schönen Wohnung danach (drei Balkone!) aus machte ich fast täglich Spaziergänge mit dem Kinderwagen und scannte die Gegend nach schönen Kauf-Immobilien ab, wohlgemerkt ohne realistische Chance, jemals eine bezahlen zu können. #KeineErbin
Besonders verliebt war ich in eine Kapelle, denn aus englischen Einrichtungszeitungen wusste ich, dass Kirchen manchmal aus der heiligen Pflicht entlassen und dann superschicke Wohnungen werden. Leider passierte das Ersehnte so schnell, dass mir 499.000 von 500.000 Euro zum Glück fehlten. Bis dahin aber ging ich jeden Tag zur Kirche.
Ein paar Jahre Mietswohnung später hatte ich dann wirklich märchenhaftes Glück. Unser heutiges Haus wurde sehr günstig verkauft, ich hatte es bei Immoscout gesehen und den ersten Termin erwischt, mein Mann hatte gerade einen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben, Horrorjob, aber lächerlich gut bezahlt, und so bekamen die armen Kirchenmäuse in allerletzter Sekunde den Kredit.
(Ohne das Haus hätte ich Laser nie getroffen, er ist uns ja zugelaufen; ich darf gar nicht daran denken.)
Ich erfinde das nicht: Während ich gerade den Newsletter auf Fehler durchsehe, klopft es sehr wütend von draußen ans Fenster, weil wegen der Kellersanierung die Katzenklappe immer noch verriegelt ist.
Zurück zur prä- und postnatalen Immobiliengier. (Hallo, Cluster of Excellence »Languages of Emotion«, befasse dich mal damit.) Mir selbst war irgendwann meine immobiliengierspezifische ethische Grenze bewusst geworden. Was ich grundsätzlich nicht machte, manche andere schon, war gierig in Fenster mit gelben Gardinen zu starren, ich kann wirklich ausschließen, dass ich auf das Ableben von alten Menschen wartete, um ihr Haus zu kapern. Transparenz: Einmal gierte ich sehr heftig ein Haus an, das ich fälschlicherweise für verlassen hielt.
Als Person, die mittlerweile in einem Haus mit Garten lebt, stehe ich jetzt auf der anderen Seite der Gier. An den Wochenenden spazieren junge Familien, oft begleitet von einem Paar Großeltern, betont unauffällig die Straße entlang und bleiben vor fast jedem Haus stehen. Dann wird zackwumm die Immobilie bewertet. Die Großeltern haben die Kohle, das ist sonnenklar.
Glücklicherweise ist die Schönheit unseres Gartens von der Straße aus nicht zu erkennen, außerdem ist unser Haus von außen wirklich oll. Deshalb starren mich eher selten Menschen unvermittelt durchs Fenster an, dafür bin ich dankbar, ich zerfalle schnell zu Staub. Aber ich kann in aller Ruhe beobachten, wie die Gierlinge Haus und Grundstück gegenüber scannen. Es ist die Stückchen-Wiese-Premium-Phantasie. Ein malerisch gealtertes Zwanzigerjahrehaus mit riesigem Garten, vom Tor aus fällt der Blick auf alte Obstbäume und neue Gemüsebeete. Ich kann zusehen, wie die Familien beim Gieren fast selbst Wurzeln schlagen. Ihre Verweildauer ist nur mit einem Ausdruck korrekt zu beschreiben: dreist. Es ist sehr lustig, aber auch gruselig, denn ich unterstelle ihnen, dass sie meinen alten Nachbar*innen den Tod wünschen. Sie brechen vor meinen Augen das Gelbe-Gardinen-Tabu, ich kann es genau fühlen.
Lange dachte ich, dass ich ausnahmslos alle hasse, die mir ungefragt Immobilienkaufgesuche in den Briefkasten werfen. Makler*innen eh, aber auch die mit den kreativen Privatnötigungen. Bei Letzteren gab es immer zwei Genres: »Hey, wir sind von Beruf Designer*innen und haben deshalb eine funky Webseite nur für unsere Immobiliensuche gebaut, wenn ihr an uns verkauft, seid ihr genauso funky wie wir.« (Sorry, aber ich weiß, dass kein Mensch mit Grafikdesign genug Geld für einen Hauskauf verdient, bitte verpisst euch, Erb*innen.) Oder: »Wir sind die sympathische Familie X mit Kind 1 mit altdeutschem Namen, Kind 2 mit altdeutschem Namen, Kind 3 (Baby) mit altdeutschem Namen, im Hintergrund gerastert ein Foto von uns in unserer supremen blonden Weißheit, und wir würden uns freuen, Ihr schönes Haus in Ihrem Sinne zu erhalten.« Kotz, was ist das denn für ein infamer Enkel*innen-, äh, Erb*innentrick.
Neulich lag ein Zettel im Briefkasten, der mich umstimmte. Mein Hass ist nicht mehr absolut. Da schrieb eine Familie in etwa: Junge Familie sucht Haus in [Beschreibung der Gegend]. Falls Sie etwas wissen, sind wir dankbar, wenn Sie uns anrufen. Da triefte erstmals kein Premiummenschentum aus dem Papier, das Gesuch war sachlich und okay. Geht doch. (Sachlich ist wirklich fast immer die beste Idee.) Diese Familie findet bestimmt ein Haus, ich wünsche es ihr zumindest. Noch mehr wünsche ich mir, dass alle Menschen sicher und mit ein bisschen Grün leben können. Eigentum wäre für mich gar kein Wert, wenn es nicht aktuell fast immer die Bedingung für Wohnen mit Garten wäre. Der Garten aber ist mein Ausgleich, mein einziger wirklicher, gefühlt unverzichtbarer Luxus. In meinem Garten wirkt eine andere Zeit, eine gute. Deshalb ist die Gier nach dem Stückchen Wiese an sich nicht schlecht, eine latent mörderische Note bekommt sie nur unter den Bedingungen des Kapitalismus.
Findet ihr auch so passend, dass die Kernfamilie im Englischen nuclear family heißt? Lebensgefährlich strahlend, das passt. Ich halte die Kernfamilie für ein Auslaufmodell, obwohl ich meine konkrete Kernfamilie aufgrund der Menschen darin sehr liebhabe, das ist kein Widerspruch.
Rubrikloses
Kapitalismus zu verkaufen?
Teddyjacken nur in der Adorno-Boutique shoppen
Ein Zitat aus Anleitung zum Unschuldigsein von Florian Illies aus dem Jahr 2001: Was meint ihr, ist es Ironie, ist es Pop, muss man es in der Zeit sehen oder sind Werk und Autor zu trennen? – Ich wüsste gern, welche guten Bücher damals nicht veröffentlicht wurden, weil die Autor*innen nicht Teil der Lifestylejourno-Clique waren, die sich Popliteratur nannte.
Guerlica
Zurück ins Internet. Wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
XOXO,
FrauFrohmann
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