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Die Selbstzerfleischung humanistischer Schneeflöckchen

Seit langem habe ich zum ersten Mal wieder das Bedürfnis, einfach meine sehr persönliche Meinung abzugeben. Derzeit arbeite ich an zwei Beiträgen, die ich jedoch nicht weiterschreiben kann, so lange meine Gedanken unsortiert kreisen.
Folgen Sie mir unauffällig.

Heute Mittag habe ich auf der Facebook Fanpage und dem X-Account einen Text veröffentlicht, den ich hier vollständig wiedergeben möchte:

„Können wir uns bitte mal auf etwas einigen?

In der Abwehr dient ein Krieg dazu, den feindlichen Angriff zu beenden.
So etwas wie eine „Unverhältnismäßigkeit“ gibt es nicht. Das ist eine Instanz, die beim Militär nicht existiert.
Und die auch im Kriegsvölkerrecht nicht vorgesehen ist. Krieg ist weder ein Polizeieinsatz noch ein Stuhlkreis. Verhältnismäßigkeit findet nicht statt.

In der Ukraine und Russland werden Menschen sterben, bis Russland sich aus dem Gebiet des 1991 als souverän anerkannten Staates Ukraine zurückgezogen hat. Oder eine der beiden Seiten der Krieg zu teuer wird.
Im Nahen Osten werden weiter Menschen sterben, bis die Angriffe auf Israel unterbleiben und die Geiseln freigelassen werden. Bis dahin ist alles weitere Selbstverteidigung.

Das wohlstandsverwahrloste Gefasel von „Verhältnismäßigkeit“ kommt von Schneeflöckchen, die Krieg nicht verstanden haben. Und es nervt einfach, wie in einem Kindergarten voll ADHS-Rotzischs jeden Tag wieder bei Null anzufangen.

Danke.“

Sofort fanden sich auf X einige Kommentatoren, die klugscheißerisch darauf hinwiesen, dass die Verhältnismäßigkeit sehr wohl eine Rolle spielt. Einer davon führt jetzt gerade, acht Stunden später, immer noch Debatten. Mit weit über 40 Kommentaren insgesamt.

Auf der Facebook Fanpage kamen einige Kommentatoren darauf, dass das Bild der ADHS-Kinder doch arrogant und/oder herablassend sei. („Rotzisch“ ist in meinem ripuarischen Idiom übrigens eher niedlicher Begriff für kleinere Kinder.)

Und genau das spiegelt in meinen Augen das wider, was ich mit dem Text eigentlich ausdrücken wollte. Und was mich seit bestehen des Projekts U.M. immer wieder umtreibt.
Unsere Gesellschaft ist kriegsuntauglich, wir haben Krieg verlernt.
Ganz abgesehen von der fast schon krankhaften Lust daran, zu klugscheißen und Rosinen zu picken.

Es ist etwas ins Rutschen gekommen.

Schöne, neue Welt

Es gab bereits den Völkerbund. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die UN gegründet. Und man sah sich das hehre Ziel aus, sich als Menschheit weiter zu entwickeln und die seit dem vorangegangenen Jahrhundert humanitären Gedankenansätze zu einem gemeingültigen Gesetz zu machen.
Ein gutes Ziel. Es war ein Versuch.

Seitdem haben wir gerade in Deutschland in Wohlstand und Frieden gelebt. Doch das ist nicht der einzige Faktor.
Mit aufkommen der Hippies und den 1970ern hat in Europa und Nordamerika eine gesellschaftliche Wandlung stattgefunden. Nicht zuletzt befeuert durch die weltweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg und der Beschimpfung der US-amerikanischen Soldaten als „Baby-Mörder“. Obwohl die USA – und das ist aus dem öffentlichen Bewusstsein völlig verschwunden – den Krieg nicht einmal angefangen hatten. Sie kamen den Überfallenen zur Hilfe.
(Und ich kann bei den Zeilen förmlich merken, wie sich bei einigen Lesern ein innerer Widerstand aufbaut.)

Inzwischen ist die Sowjetunion innerlich kollabiert. Die Medien und die Politik haben den Kalten Krieg für beendet erklärt. Auch wenn Militärs das besser wussten. Aber im Friedenstaumel wollte niemand auf sie hören. Getrieben von den Unternehmen, die glänzende Umsätze erwarteten. Plötzlich konnten auf der halben Welt noch McDonalds-Filialen gebaut und Mercedes-Benz verkauft werden. Das ist der Grund, warum die Social Media Konzerne auf Apps gehen: Weil man so auch Jugendliche in Indien und in Afrika auf den billigen Handys zum Kommerz ermuntern kann. Bei uns kann sich eh jede 14-Jährige auf Instagram über die neuste Mode informieren. Und die Pronomen ihrer SozialkundelehrerIn.
Das russische Öl war so schön preiswert, da kneift man gerne die Augen vor dem Klimawandel zusammen, erklärt den historisch größten Feind Deutschlands zum Freund und akzeptiert auch den Umbau Russlands zu einer Diktatur.

Friede, Freude, Eierkuchen.

Nur fest genug die Augen verschließen

Das Problem daran ist, dass derzeit die Realität Einzug hält in die Wohnzimmer im Bottroper Barock mit Eiche Rustikal oder Ikea-Regalen.
Plötzlich wird deutlich, dass der Rest der Welt irgendwie gar nichts mitbekommen hat von unserem Humanismus. Genau wie wir feststellen mussten, das Afghanistan mit unserer scheiß Demokratie gar nichts anfangen kann.

Aber wir sind so voll von uns selbst, dass wir nicht nur glauben, dass wir die nächsthöhere Stufe der Evolution sind. Was man durchaus diskutieren kann, ich sehe es ähnlich. Sondern dass wir glauben, alle anderen sehen die Welt durch unsere westlichen Augen.

Die Lords Resistance Army hat Ende der 80er bis in die 90er nicht nur Frauen und Mädchen in vier afrikanischen Ländern entführt, um sie zu verheiraten. Sie haben auch vermeintlichen Feinden die Lippen aus dem Gesicht geschnitten. Nicht um einen islamischen Gottesstaat zu gründen, sondern einen christlichen.
Russland hat schon in Syrien Cluster Bombs über zivilen Wohnvierteln abgeworfen und ist durch Tschetschenien getobt. Die Rohingya dürfen weder Staatsbürgerschaft noch Privatbesitz haben, vertrieben und durch Völkermord dezimiert, eine muslimische Minderheit verfolgt vom buddhistischen Myanmar. Das die meisten auf keinem Globus finden würden.
Derzeit sind im Sudan über eine Million Menschen auf der Flucht. Der Stellvertreterkrieg im Jemen hat zehntausende Tote gefordert, keiner kann sagen, wie viele darüber hinaus verhungert sind. Und in China sitzen Millionen Uiguren in Umerziehungslagern. Was die ethnisch mit ihnen verwandten Türken auch nicht stört, so lange sie Kurden bombardieren können.

Aber wenn wir nur fest genug die Augen verschließen, können wir uns einreden, dass das wir die Besseren und alle anderen Rückständige sind.
Das ist besser für uns. Denn sonst müssten wir nicht nur unsere hehren Ziele und den zahnlosen Tiger der UN hinterfragen. In der inzwischen über die Hälfte aller Mitgliedsstaaten keine Demokratien sind. Wir müssten unser Selbstbild hinterfragen und uns womöglich eingestehen, dass wir einem Traum nachhängen, aus dem wir einfach nur nicht aufwachen wollen. Das wir zu schnell für die Welt sind.

Ich persönlich warte noch auf die erste Pride Parade in Ramallah. Menschen, die für diejenigen eintreten, die sie vermutlich steinigen würden… absurder geht es kaum. Und wenn Muslime sich untereinander die Köppe einschlagen, stört das auch überraschend Wenige. No jews, no news.

Es müssen psychologische Vorgänge sein

Es müssen psychologische Vorgänge sein, dass wir zuerst kritisieren, was wir selber tun. Bevor wir prüfen, was andere tun. Selbst wenn die exponentiell mehr Scheiße bauen.
Anders ist nicht zu erklären, dass einige ernsthaft in Erwägung ziehen, die Ukraine sollte doch mit Russland verhandeln und Gebietsabtretungen anbieten. Anders ist nicht zu erklären, dass wir tatsächlich mehr darauf achten, was mit den Zivilisten im Gazastreifen passiert, als darauf, dass Israel seit 75 Jahren kontinuierlich angegriffen wird, die Palästinenser den Krieg mit dem größten Massaker seit dem Holocaust angefangen haben und bis heute 100 Geiseln in Tunneln gefangen halten. Vergessen der Schwarze September, vergessen Kuweit, vergessen die Selbstmordattentate, vergessen die deutschen Opfer des 7. Oktobers, tot und nackt bespuckt auf der Ladefläche eines Pick Ups.

Natürlich bin auch ich in diesem Sinne Humanist. Das humanistischer Kriegsvölkerrecht ist eine grandiose Sache und wir sollten als Menschheit weiter daran arbeiten. Aber ich bin auch Realist.
Niemand hält sich daran. Es gibt keinen einzigen Krieg ohne einen Bruch des Kriegsvölkerrechts. Denn sonst gäbe es gar keinen Krieg.
Es gibt derzeit entsprechend dem Kriegsvölkerrecht weltweit 174 bewaffnete Konflikte und 21 Kriege. In keinem einzigen spielt das Völkerrecht irgendeine Rolle. Und in den allermeisten Fällen wird auch nie jemand dafür vor einem internationalen Gericht stehen, Staaten können eh nicht bestraft werden.

Wir sind so voll von uns selbst, dass wir zuerst kritisieren, was wir selber tun. Ausgerechnet diejenigen, die sich noch am ehesten an das humanitäre Kriegsvölkerrecht und die Menschenrechte halten. Es bereitet uns fast körperliche Schmerzen, uns eingestehen zu müssen, dass die armen, unterdrückten Palästinenser oder die armen, von der NATO in die Ecke gedrängten Russen die Scheiße ja überhaupt erst selber angefangen haben. Anstatt über Diplomatie zu versuchen, etwas zu ändern.

Und wenn ich genau diese beiden Beispiele in dem Posting sogar anspreche, sollte eigentlich klar sein, dass es nicht um den Schutz der Zivilbevölkerung geht. Sondern um die Verhältnismäßigkeit des Krieges.
Israel kann das gesamte iranische Militär in die Steinzeit bomben, und es ist im Recht. Und die Ukraine kann in Russland das Militär zu Klump ballern, und es ist im Recht. Und in beiden Fällen ist es Selbstverteidigung und bleibt es auch.

Aber in der ungezügelten Lust an der Selbstzerfleischung kommen viele sofort auf die Verhältnismäßigkeit der zivilen Opfer. Die Verhältnismäßigkeit des militärischen Nutzens. Die Idee, dass es vielleicht Wichtigeres geben könnte, wird in der Abwehr einer kognitiven Dissonanz negiert. Schon der Gedanke wird nicht zugelassen. Unfähig über abstrakte Instanzen wie Recht, Gerechtigkeit oder Sicherheit überhaupt nachzudenken.

Selbst das wäre für mich noch in Ordnung. Ja, juut, dann sind wir halt wohlstandsverwahrlost, was solls? Aber das inhärente Problem dabei wird gar nicht verstanden:
Genau diese Selbstzerfleischung wird von anderen als Schwäche gesehen. Zu Recht.
Und das ist inzwischen eine echte Gefahr.

Als wenn ein Putin, ein Xi oder ein Chamenei sich auch nur eine Sekunde um zivile Opfer Gedanken machen würden. Ich behaupte einfach mal, dass so gut wie kein arabischer Account zivile Opfer in Israel beklagen würde. Nicht jetzt, nicht vor der Besatzung palästinensischer Gebiete, nicht vor Israel.

Unser Humanismus ist unsere Schwäche. Denn das ist es, was die Propaganda ausnutzt. Das ist es, was spaltet.
Nicht im Schützengraben. Sondern auf unseren Handys, der Heimatfront in unserer Hosentasche. In unserem Kopf.

Es ist völlig absurd, mir oder anderen zu unterstellen, uns seien zivile Opfer egal. Oder wir würden einen Genozid befürworten oder uns als Kriegstreiber betätigen. Was ich sehe sind vielmehr Menschen, die in der Lage sind, Rationalität über ihre natürliche und selbstverständliche Empathie zu stellen. Die sich bewusst dafür entscheiden, weniger zu fühlen und mehr zu denken. Die sich für die Zusammenhänge interessieren, anstatt für die Elendsbilder und Propaganda auf Social Media.

Und genau deshalb habe ich als Titelbild Gunnery Sergeant Hartman gewählt. Weil in Kubriks Meisterwerk Full Metal Jacket die Ausbildung der Soldaten in ihrer vollen Härte gezeigt wird. Die meiner festen Überzeugung nach notwendig ist, einen psychischen Schutzmechanismus gegen die Realität des Krieges zu entwickeln. Und es gibt genug Reaction-Videos, die zeigen, dass das in der Breite gar nicht verstanden wird. Lasst uns doch lieber über Kindergärten in Kasernen und geschlechtsneutrale Toiletten diskutieren.

Schlägst du jemanden, wird er zurückschlagen.
Schlägst du einen Soldaten, wird er alles tun, damit der Angriff beendet wird. Das Überleben des Angreifers hat nicht die höchste Priorität.
Und das ist der Unterschied zwischen einem Polizeieinsatz und einem Krieg. Das ist der Unterschied zwischen unserer westlichen Weltsicht in eigener Selbstzerfleischung und dem Versuch alles in einem Stuhlkreis lösen zu können und der Realität.

Und nachdem ich das hier nun seit zweieinhalb Jahren mache, habe ich einfach keine Energie mehr dafür, ständig auf jedes Schneeflöckchen und jedes „ja aber“ einzugehen, geduldig zu bleiben und mich zu erklären. Und mit jedem derartigen Kommentar wird es mir scheißegaler.

Empathie empfinde ich schon lange nicht mehr.
Ich weiß, dass Russland Sturmtrupps aus Wehrpflichtigen mit vorgehaltener Waffe nach vorne gejagt werden, und wenn mehr als 5% lebend zurückkommen, werden die Überlebenden dafür bestraft, ihren Job nicht gemacht zu haben.
Ich weiß, dass nach Angaben der Hamas über 40.000 Menschen im Gazastreifen getötet wurden. Das entspricht nicht einmal 0,9% aller Palästinenser. Rechnerisch wurden seitdem mehr geboren als getötet. Das muss der ineffizienteste Genozid der Menschheitsgeschichte sein.

Meine Empathie hebe ich mir für die Menschen auf, die für das humanitäre Recht und die Menschenrechte einstehen, mit denen auch ich sozialisiert wurde.
Der einzige Unterschied ist, dass ich es nicht für Wegwerfmenschen russischer Diktaturen oder Mitläufern islamistischer Terroristen empfinde. Nicht empfinden will.
Ich bin bereit, andere als Feind zu sehen. Und das kostet einige offenbar inzwischen mehr Mut, als für ihre eigene Sache einzustehen.

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