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Ein offener Brief an die Jugend von Heute

Lieber Leon-Chantal,

Du bist jetzt 19. Natürlich hast Du etwas gegen die Wehrpflicht. Wie jeder, der als Wehrpflichtiger gezogen werden könnte.

Oder glaubst Du, das war jemals anders? Denkst Du, die Zwangsrekrutierten von Alexander dem Großen bis zu Napoleon haben das gerne gemacht?
Ich selber bin als Wehrpflichtiger gezogen worden. Dass ich dann zehn Jahre blieb, damit hast Du ja nichts zu tun. Das erwartet auch niemand von Dir.

Dass es etwas Unnormales ist, wenn Menschen zum Kriegsdienst verpflichtet und zur Not gezwungen werden, erzählen Dir nur Leute, die es scheiße finden, wenn andere sich verteidigen. Dass in der Ukraine Menschen eingezogen werden, zum Beispiel. Dass Russland Söldner aus Nordkorea kauft oder Menschen aus dem Jemen unter falschen Versprechungen nach Russland lockt und an die Front zwingt, wird nie erwähnt.

Nein, Leon-Chantal, dass Du da keinen Bock darauf hast, ist normal. Denn unsere Instinkte, unser Urtrieb, ist für eine kleine Gruppe ausgelegt. Die Evolution hat diejenigen begünstigt, die ihre Familie oder ihren Clan beschützen wollten. Von einem Staat mit 80 Millionen Menschen hat die Evolution nichts gesagt. Das liegt bis heute tief in uns verborgen, deshalb sind wir bereit unsere Familie bis aufs Blut zu verteidigen und finden Wehrpflicht scheiße.
Aber vergessen wir da nicht manches Mal, dass unsere Familie zu den 80 Millionen gehört? Und das andere nicht nur bereit sind, ihre Familie zu verteidigen, sondern auch unsere?

Weil der Staat immer mehr als Dienstleister gesehen wird, in den man seine Steuern oben einwirft und unten kommen dann Straßen, Schulbildung, Rente, Sicherheit, Arbeitslosengeld und trinkbares Leitungswasser heraus. Wir haben so lange in Frieden gelebt, dass wir vergessen haben, dass wir für diese Dinge kämpfen müssen. Und nun ist leider wieder die Zeit gekommen, sich darauf vorzubereiten, das nicht nur mit Geld zu tun.

Deutschland ist vieles. Wie jeder Staat ist es eine Wirtschaftsgemeinschaft. Und in der EU legen die Grenzen vor allem Wirtschaftsräume fest.
Aber Deutschland ist auch eine Wertegemeinschaft, in der wir als Gesellschaft zusammen leben. Weil wir uns auf einen Konsens gemeinsamer Werte verständigt haben. Dazu gehört nicht nur die Demokratie. Es geht viel weiter. Dazu gehören so Dinge wie die Gleichwertigkeit jedes Menschen vor dem Gesetz. Dazu gehört die Chance auf Bildung für alle, auch für die Armen. Dazu gehören die Freiheit der Presse, die Gewaltenteilung, die Freiheit der Religion und die Freiheit seine Meinung sagen zu können, sogar gegen die Regierung, ohne dafür in einem Gestapo-Keller zu verschwinden.
Und Deutschland ist eine Solidargemeinschaft, in der diejenigen, die etwas können, es einbringen für diejenigen, die es nicht können.

Friedrich der Große, der alte Fritz, sagte schon vor fast 300 Jahren, dass jeder nach seiner Fasson selig werden solle. Also dass jeder die Chance haben sollte, ein selbstbestimmtes, zufriedenes Leben führen zu können. Und nun leben wir endlich, nach zwei grauenhaften Kriegen, nach einer Monarchie und zwei Diktaturen, in einem Deutschland, das so nah daran ist das zu erfüllen, wie nie zuvor.
Und das wird bedroht. Von Menschen, die glauben, dass das der falsche Weg ist. Die diese Freiheiten einschränken wollen. Die die Demokratie für schwach halten.

Dass Du bist, wie Du bist, dafür kannst Du nichts, Leon-Chantal.
Du bist das Ergebnis Deiner Erziehung. Denn Erziehung findet ja nicht nur durch die Eltern statt. Sondern auch durch die Schule, die Freunde, die Gesellschaft.
Man hat Dir die Möglichkeit genommen, zu lernen zu scheitern und Deinen Weg und Deinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Indem man Dich vor allem beschützt hat. Auch vor Dir selbst.
Du bist das Ergebnis von Generationen von Lehrern, die überwiegend pazifistisch eingestellt waren. Da sie aber nie wirkliche Konzepte entwickelt haben - und auch nicht mussten - was passiert, wenn Deutschland angegriffen wird. Und das bedeutet häufig, dass sie wohl lieber in Unfreiheit leben würden, als für ihre und unsere Freiheit zu kämpfen.

Und Du bist das Produkt von einer, höchstens zwei Generationen, in denen die Wehrpflicht ausgesetzt war. Die Zeit des angeblichen Friedens war nur ein Augenzwinkern. In dem Du das Glück hattest aufzuwachsen.
Nach dem Anschluss der DDR an Deutschland - und es war nun einmal ein Anschluss, auch wenn man Dir etwas von „Wiedervereinigung“ erzählt hat - kamen sehr viele Menschen in unsere Gesellschaft, die den Staat nach fast 60 Jahren Diktatur als etwas Übergeordnetes, Bestimmendes, Beherrschendes verstanden haben. Als etwas, an dem man nur teilhat, wenn man Mitglied einer Partei ist und sich dort engagiert. Unsere Demokratie funktioniert aber dadurch, dass jeder seinen Teil beiträgt. Indem man sich einbringt und konstruktiv darum ringt, was man für das Beste hält. Der Staat, das sind nicht „die da oben“. Der Staat sind wir alle.

Und so kamen in den letzten 30 Jahren viele Faktoren zusammen, in denen der Staat eben doch als Dienstleister verstanden wurde. Nicht als Wertegemeinschaft. Nicht als Solidargemeinschaft.
Aber das muss ich Dir ganz ehrlich sagen, Leon-Chantal, ich habe meinen Teil zu dieser Solidargemeinschaft beigetragen. Und tue es weiterhin. Ich engagiere mich, bin Mitglied einer Partei, eines gemeinnützigen Vereins und so weiter.

Und ich habe gedient. Ich war auch im Ausland und im Einsatz.
Wenn ich sage, dass ich auf drei Trauerfeiern für Kameraden strammgestanden habe, höre ich häufig, sie hätten sich den „Beruf“ ja ausgesucht. Das trifft mich sehr und beleidigt mich, denn es ist kein „Beruf“. Und wir waren keine Söldner.
Ich war bereit, zur Not auch mein Leben zu geben. Damit Du, Leon-Chantal, in dieser Sicherheit und naiven Unbekümmertheit aufwachsen konntest zu denken, Kriege fänden nur woanders statt.

Und nun denke ich, es ist Zeit, dass Du Deinen Teil beiträgst.
Es ist mir auch egal, wie Du das tust. Ob in einem Krankenhaus, einem Altenheim oder in einem Panzer.
Es ist Zeit, dass Du bereit bist einen Teil Deiner Schuld abzutragen. Dass Du bereit bist zumindest ein wenig dessen für mich zu tun, was ich für Dich getan habe.

Übernimm die Wacht.

Topic Medien und Politik

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