Lob der Verzweiflung
Franz Schreker: “Nachtstück” aus der Oper “Der ferne Klang” (1909)
Die heutige Ausgabe der Schleichwege wird präsentiert von note 1 music (Opens in a new window). note 1 vertreibt nicht nur ein breites Spektrum noch so nischiger Klassik, sondern produziert mit eigenen Labels auch Aufnahmen von Musik, die man nicht überall hören kann. Auf meinen Text hat der Sponsor keinen Einfluss.

Manchmal, wenn ich mich hier in den “Schleichwegen” politisch äußere, kündigen Mitglieder erbost und schreiben mir, sie läsen diesen Newsletter wegen der Musik und seien nicht mit Politik zu behelligen.
Natürlich lesen diese Leute gerne politische Texte, auch hier – wenn sie sich mit ihren eigenen Überzeugungen decken. Wenn das mal nicht der Fall ist, wird aber nicht der politische Inhalt, sondern die Form seiner Überbringung kritisiert: Politik gerne, aber doch nicht hier!
Da es in den “Schleichwegen” aber eben um einen persönlichen Zugang zur Musik geht, muss auch die Politik hier stattfinden, denn sie schlägt ja durch auf unser persönliches Erleben, sie bleibt ja nicht draußen, wenn wir die Türen hinter uns schließen, sie verfolgt uns, besonders, wenn sie mit so ostentativer Grausamkeit betrieben wird, wie es gerade der Fall ist.
Genau dann leistet die Musik eine Beihilfe zum “Rückzug ins Private”, den ich heute so gut nachvollziehen kann wie noch nie. Er erscheint als Option für die, die es sich leisten können (die es sich vielleicht auch nur glauben, leisten zu können).
Einen kleinen Rückzug habe ich vor drei Wochen begonnen, als ich die Meta-Plattformen Facebook und Instagram verlassen habe – und damit viele tausend Folgende, Kontakte, Freund*innen. Meta erlaubt es (verständlicherweise) nicht, Menschen als dumm oder geistesgestört zu beschimpfen. Aber es gibt neuerdings eine explizit genannte Ausnahme: Wenn es um Fragen von Gender oder Sexualität geht, dann ist es jetzt ausdrücklich erlaubt. Es klingt nach einer unzulässigen Zuspitzung, aber das ist es nicht. Es steht so in der aktuellen Meta Community Policy (Opens in a new window). Und sie ist genau so gemeint.
Wenn du also zum Beispiel schwul oder lesbisch oder trans bist und dich jemand deshalb auf einer Meta-Plattform beschimpft, ist das okay. Da man sich also bei Meta entschieden hat, mich und meinesgleichen dem Mob zum Fraß vorzuwerfen, habe ich meine Facebook- und Insta-Accounts gelöscht. Wie ich den Endgegner WhatsApp mit seinen Verästelungen bis tief in die gesellschaftlichen Kapillare der Kita-, Sport- und Nachbarschaftsgruppen hinein entkomme, weiß ich ehrlicherweise aber noch nicht.
Wer jetzt wie ich Meta den Rücken kehrt, bekommt von Gründer und CEO Mark Zuckerberg noch hintergerufen (Opens in a new window), man tue das doch nur aus Gründen des Virtue Signalling, die deutsche Entsprechung dürfte so etwas wie “Gutmenschentum” sein. Dass Menschen ihre Reiche verlassen könnten, ohne Pose, nicht als Kampagne, sondern einfach, weil sie sich nicht mehr willkommen fühlen, das scheint im Gefühlshaushalt rechts heruntergefallener Milliardäre nicht vorzukommen.
Ich urteile nicht über die, die dort bleiben, denn diese Plattformen sind für viele Unternehmen und publizistisch tätige Menschen quasi kritische Infrastruktur. Aber für mich war an diesem Punkt Schluss. Ich hoffe einfach, dass ich mir diesen Teilrückzug leisten kann.
Auf LinkedIn, wo ich jetzt öfters gucke, stoße ich derweil reihenweise auf Leute aus der Wirtschaft, auch wichtige Investoren, die raunende Pro-Putin-Statements posten oder den migrantischen Unternehmer, der von der Angst postet, die er hätte, müsste er neben einem Asylbewerberheim wohnen.
Es sind noch ein oder zwei Leute da, die dagegen halten (wie hält man dagegen, gegen eine Angst?), aber es scheint immer vollkommen fruchtlos. Wenn ich frage, warum sie das tun, sagen sie: Weil es da eine schweigende, teils noch unentschiedene, Gruppe gibt, der man zeigen muss, dass all dies nicht unwidersprochen bleibt. Das stimmt auch, die allermeisten Social-Media-User posten nichts selbst. Aber diese ehrenvolle Arbeit, Lügen, Desinformation und Raunen mit Widerspruch zu konfrontieren, fühlt sich hart nach Rückzugsgefecht an.
Denn wenn es so ist, dass real existierende Probleme erfolgreich Menschen in die Schuhe geschoben werden können, die von anderswoher geflohen sind, und dieses Kalkül die Menschen in Massen bestimmten Parteien zutreibt, so wie es schon früher in der Geschichte war, wenn Parteichefs erfolgreich lügen dürfen auf Kosten von Minderheiten (hierzulande und anderswo), wenn das alles also möglich ist, was lernen wir daraus?
Die Medien Sprache oder Schrift scheiden ja ganz offensichtlich aus, hier irgendwas zu richten. Wahrheitssuche, das Ringen um eine korrekte Problembeschreibung, das findet alles statt, ohne dass es Einfluss hätte auf die größten Parteien. Warum sollte es auch, denn man hat ja gar keinen Anreiz, echte Probleme echt zu lösen, wenn man Scheinprobleme zum Schein lösen kann.
Dann braucht auch nicht Argument, Logik, Kritik, Analyse. Das kann man alles in die Tonne treten, es sind die stumpfen Werkzeuge einer kleinen Bubble zunehmend verzweifelter Menschen.
Ich habe in der Familie eine Person, die großer Merz-Fan ist, weil sie ihn für eine Kapazität in Sachen Wirtschaft hält. Sie selbst hat keine Ahnung davon und ist zudem selber Migrant. Ein anderes Familienmitglied ist Trump-Fan, schon lange. Man fühlt sich je fremder, je näher man sich ist.
Ich habe noch nie so sehr wie jetzt das Gefühl gehabt, dass die Welt falsch ist, dass sie so eingerichtet ist, dass einzelne brutale Männer die Leben von Millionen beeinträchtigen, gefährden oder zerstören können.
Verfassungen, die Integrität von Staaten, die internationale Ordnung, grundlegende Wertvorstellungen – alles wackelt und knirscht und die Weltsicht, mit der man jahrzehntelang rumgelaufen ist, stellt sich als naiver Optimismus heraus. Man wurde eben am richtigen Ort zur richtigen Zeit geboren.
Einen Teil dieses Textes habe ich gestern auf Bluesky gepostet, einer Plattform, die sich gerade zum Twitter-Nachfolger aufschwingt (dort kann man mir folgen (Opens in a new window)). Jemand antwortete mir mit einem tröstenden Verweis auf Erich Frieds Gedicht “Lob der Verzweiflung”. Es ist nicht alles schlecht auf Social Media! Das Gedicht endet so:
Aber ohne den Mut zur Verzweiflung wäre vielleicht
noch weniger Würde zu finden
noch weniger Ehrlichkeit
noch weniger Stolz der Ohnmacht gegen die Macht
Es ist ungerecht die Verzweiflung zu verdammen
Ohne Verzweiflung müßten wir alle verzweifeln
Wenn es euch wie mir geht und ihr etwas Trost braucht: Hier ist Musik von 1909, Franz Schrekers “Nachtstück” aus der Oper “Der ferne Klang”. Die Musik dieses österreichischen Juden gehört zu dem, was die Nazis “entartete Kunst” genannt haben. Sie haben das Wissen um Schreker, der ein erfolgreicher Opernkomponist war, so gründlich vernichtet, dass seine Musik fast völlig in Vergessenheit geraten war.
Schrekers impressionistische Musik schmiegt sich an die Grenzen der Tonalität an, ohne sie jemals ernsthaft zu verlassen. Sein Werk ist keine sperrige, akademische Zwölftonmusik wie die seines Zeitgenossen Schönberg. Sie ist suggestiv, verführerisch, schwelgerisch, mystisch – man kann ihr leicht folgen, ohne dass sie vorhersehbar wäre. Und mir spendet sie auf eine Art Trost. Vielleicht euch auch?
Danke fürs Lesen und jetzt müssen wir halt irgendwie versuchen, nicht zu verzagen (ohne die Verzweiflung zu verdammen).
https://www.youtube.com/watch?v=5ukeQZRAEuU (Opens in a new window)Hier gibt es das Stück im Streaming (Opens in a new window).
Eine CD mit der gesamten Oper “Der ferne Klang” (Opens in a new window) ist bei Schleichwege-Sponsor note 1 music erhältlich. Indem du nicht nur streamst, sondern auch CDs kaufst, unterstützt du die Arbeit kleiner, unabhängiger Ensembles und die der Komponist*innen abseits des Mainstreams.
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
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