Tagtraum beim Üben
Jean Sibelius: „Etüde“ aus: 13 Stücke op. 76 (1911–1919)
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Edward John Poynter: A Day Dream, 1863 (Public Domain (Opens in a new window))
Wer ein klassisches Instrument lernen will, muss Etüden spielen, Übungsstücke, die sich einem bestimmten technischen Problem widmen. Wer Klavier gelernt hat, auf dessen Instrument standen die Etüden von Gurlitt oder Czerny, und wenn man Klavier lernen musste, aber nicht wollte, dann stehen diese Noten heute immer noch als stiller Vorwurf da, weil man es nie darüber hinaus geschafft hat und womöglich lieber Tagträumen nachhing (oder einfach mit seinen Freunden draußen spielen wollte).
Ich musste auch Klavier üben, leider zu einer Zeit, da ich noch kein Stück kannte, das ich dringend hätte spielen wollen. Heute ist das anders, es gibt jede Menge Musik, die ich gerne spielen können würde, zum Beispiel eines der 13 Stücke op. 76 von Jean Sibelius. Dieses Werk ist eine spätromantische Pralinenschachtel, fast alle Stücke sind kürzer als zwei Minuten und sie unterscheiden sich charakterlich sehr voneinander. Das zweite heißt schlicht „Etüde“.
Hier spielt Yuja Wang das Stück:
https://www.youtube.com/watch?v=t222LmoZx-s (Opens in a new window)Das Lustige ist: Aus Lernstücken wurden im 19. Jahrhundert Zugabestücke (immer passiert alles im 19. Jahrhundert). Mit Etüden können die Klaviergenies zeigen, was sie können – das hat sich bis heute nicht geändert.
Auch für Wang ist die „Etüde“ von Sibelius nur eine kleine Zugabe. Man kann das Stück noch schneller spielen als sie, aber vor lauter Angeberei müsste man dann über das eine oder andere Detail hinwegbrettern. Bei ihr klingt das Stück tänzerisch und bei 0:42 setzt sie einen lustigen Akzent, den andere nicht spielen (ich weiß nicht, ob er in den Noten steht, finde ihn aber super).
Die Musik von Sibelius erlaubt aber noch einen ganz anderen Zugang: Der Cellist Jian Wang (nicht verwandt mit der Pianistin) bekam 2007 die Möglichkeit, eine CD mit Musik seiner Wahl aufzunehmen. Er nannte das Album „Reverie“ (wörtlich: „Träumerei“) und versammelte darauf elegische Musik, die für Cello und Gitarre arrangiert wurde.
Um die Gitarre nicht zu überdecken, verzichtete Wang weitestgehend auf das sonst fürs Cello typische Vibrato, bei dem der Finger auf der Saite schnell auf und ab bewegt wird, um einen lebendiger klingenden Ton zu erreichen. Man kann diese Ausdrucksform aber schnell übertreiben und dann ist der Kitsch nicht fern.
Auf ebendiesem Album für Cello und Gitarre findet sich auch die „Etüde“ von Sibelius wieder, fast drei mal so langsam wie in der Klavierfassung, als ob da jemand beim Üben in einen Tagtraum versunken wäre. Das Sibelius-Stück ist mit weitem Abstand das beliebteste auf dem Album, es wurde alleine auf Spotify über 23 Millionen mal abgespielt, und wenn ihr es gleich hört, merkt ihr auch sofort, warum. Die „Etüde“ von Sibelius ist womöglich gar keine, sondern nur etwas, das eine Etüde sein könnte.
Durch die Aufteilung auf zwei Instrumente kommen die beiden Stimmen deutlich zum Vorschein. Erst bekommt das Cello die Melodie (was auf dem Klavier die Aufgabe der rechten Hand ist) und die Gitarre begleitet. Dann bekommt die Gitarre den Solopart und das Cello begleitet zupfend. Das geht noch eine Weile hin und her, und weil die Melodie so eingängig ist, ist es ein bisschen schade, wenn es – selbst in der langsameren Fassung – nach wenigen Minuten vorbei ist.
Jetzt also Göran Söllscher an der Gitarre und Jian Wang am Cello. Ich wünsche viel Freude beim Üben (oder Tagträumen).
https://www.youtube.com/watch?v=n4rldQkOutY (Opens in a new window)Das Stück im Streaming (Opens in a new window).
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
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