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Schurz! Geschichtslehrer:innen meiner Schullaufbahn kamen immer wieder zurück zu Carl Schurz, wenn es darum ging, so etwas wie „Coolness“ in der deutschen Geschichte zu finden. Und tatsächlich taugt das lange Schurzsche Leben ja auch für viele Anekdoten, Wendungen und ist im Großen und Ganzen in Deutschland auch unbekannt genug, um noch als spannende Erzählung zu taugen: Schurz war bei so vielen Ereignissen des 19. Jahrhunderts dabei, dass er als deutscher Forrest Gump allemal taugen würde.

1829 in eine Lehrerfamilie geboren, wegen Geldproblemen aus der Schule geflogen, als Auswärtiger trotzdem in Bonn Abitur gemacht, an der dortigen Universität nicht nur studiert, sondern auch noch mit seinem 14 Jahre älteren Professor Gottfried Kinkel so eng angefreundet, dass er mit ihm zusammen 1849 in die badische Revolution zog. Aus der anschließenden Festungshaft durch einen Abwasserkanal entkommen. Und als er ein Jahr später seinen Freund Kinkel aus lebenslanger Festungshaft in Spandau befreit und mit ihm nach London flieht, ist Schurz gerade einmal 21 Jahre alt.

Und würde das nicht für ein spannendes Leben reichen, beginnt dort die zweite große Laufbahn: Er baut die (damals progressive) Partei der US-Republikaner mit auf, besorgt ihr die Stimmen der Deutschamerikaner, wird zum Dank kurz US-Botschafter in Spanien, kämpft dann im Bürgerkrieg erfolgreich gegen die Südstaaten, gründet danach eine Zeitung, wird Senator und schließlich Innenminister unter Rutherford B. Hayes. Und quasi nebenbei gründet seine Frau noch den ersten Kindergarten der Vereinigten Staaten.

Und dennoch: Fragt man in Deutschland außerhalb der historisch informierten Bildungsbubble, wird kaum jemand Schurz kennen. Und da setzt gerade die Problematik an: Auf der Suche nach auch im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch nutzbaren alten deutschen Vorbildern für eine neue deutsche politische Mitte hat unser Bundespräsident (na, wie war nochmal der Name?) unter anderem Schurz ausgemacht, von dem nun eine Büste (eine verkleinerte Kopie eines Exemplars aus Schurz‘ Geburtsort Liblar) am Schloss Bellevue aufgestellt werden sollte. Nun könnte man fragen, wer ernsthaft im Jahr 2022 noch Büsten aufstellt, aber das würde zu tief in ästhetische Diskussionen führen, für die niemand Zeit hat.

Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Carl Schurz ist, aus dem Jahr 2022 gesprochen, gar kein so eindeutig cooler Dude wie eingangs gedacht. Darauf hat der Leipziger Historiker Julius Wilm (Opens in a new window) beim Zentralorgan kluger historischer Einwürfe (Opens in a new window) aufmerksam gemacht und eine Debatte losgetreten, die schon so lange nötig war, wie wir Debatten „längst nötig“ nennen. Die Vorwürfe in aller Kürze: Als Innenminister war Schurz maßgeblich an der Umerziehung der Kinder amerikanischer Ureinwohner beteiligt, die damit „zivilisiert“ werden sollten, mithin von „Wilden“ (ich kann die Anführungszeichen kaum groß genug machen) zu ordentlichen, produktiven, intelligenten, also „fast weißen“ Menschen. Heute stellt das einen Tatbestand von Völkermord dar.

Der zweite Vorwurf betrifft seine Zeit als US-Senator, als er 1877 mit dafür sorgte, dass die Bundes-Streitkräfte der USA aus den besiegten Südstaaten zurückgezogen wurden, was natürlich ein gewisses Machtvakuum erzeugte. Dieses Machtvakuum ermöglichte es den ehemaligen Sklavenhalterstaaten, die sogenannte Rassentrennung mit überbordender Kreativität in immer neue Gesetze, Schikanen und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu gießen. Das lässt sich sicher nicht nur dem Abzug der Truppen anlasten und schon gar nicht allein Schurz, aber die „Jim-Crow-Gesetze (Opens in a new window)“ haben bis heute sehr konkrete und alltäglich spürbare Auswirkungen auf Schwarze Menschen in den USA.

Die Quellen für diese beiden Vorwürfe sind nicht plötzlich aufgetaucht oder der Geheimhaltung entzogen worden, trotzdem sind diese beiden Flecken auf der schurzschen Vita neu: Sie sind Auswuchs neuer Perspektiven und neuer Fragestellungen auf schon vorhandenes Quellenmaterial. Insbesondere das Umerziehungsthema haben wir den Enthüllungen zu „verdanken“, die in Kanada in den vergangenen Monaten über die sog. Boarding Schools veröffentlicht wurden. Diese Gesamtsituation hat das Bundespräsidialamt veranlasst, die Büstenaufstellung erst einmal abzusagen.

Dirk Kurbjuweit, Geschichtsgroßgeist des Spiegel, ärgert das (Opens in a new window) (€). In einem großen Artikel argumentiert er auf großer Wissensgrundlage dafür, die Büste nicht im Keller verschwinden zu lassen, sondern offen über ihre Aufstellung zu diskutieren. Daran gibt es ja gar nichts zu bemängeln, konstruktiver Argumentaustausch ist immer eine gute Idee. Kurbjuweit spielt das sogar selbst durch:

„Gehört Schurz ins Bellevue? Gegen ihn spricht, dass es ohne Frage fürchterlich falsch war, den Indigenen eine ihnen fremde Lebensweise aufzwingen zu wollen. Für ihn spricht, dass er aus seiner Sicht zu seiner Zeit nicht unbedingt erkennen konnte, wie falsch das war. Für Schurz spricht auch, dass die gesamte Demokratiegeschichte von Ambivalenz durchzogen ist. Ihre Schönheit liegt selten in der Betrachtung des Moments, sondern im Prozess. Aus Irrtümern und Fehlern wird gelernt, vieles wurde besser und besser, auch für Frauen und Nichtweiße. Und der Prozess ist noch nicht am Ende. […] Die Demokratie kennt und braucht keine Heldenlieder vom ewigen Gelingen, sie erzählt Geschichten von fehlerhaften Menschen, die hin und wieder den Moment ergreifen und das Richtige tun.“

Das sind legitime Punkte, wobei etwas fraglich ist, ob „Er wusste nicht, wie falsch er handelt“ unbedingt ein Pluspunkt ist oder nicht eher eine Einschränkung eines Minuspunktes. Lässt man sich aber auf die ästhetische Kategorie der „Schönheit der Demokratie“ ein, dann kann man auch einen Schurz mit seiner bewegten Biografie mit in die Ahnenliste derer nehmen, die für diese Demokratie stehen, seine Verfehlungen und Fehler als Teil des Prozesses wahrnehmen.

Allein: Das geht aus einer Büste alles nicht hervor. Sie reduziert die Person auf ihr Aussehen oberhalb des Thorax, versehen gegebenenfalls noch mit Insignien von Herrschaft (Krone) oder Wohlstand (Kleidung) und mit Glück einer Namenstafel. An der Vorbildbüste aus Liblar ist ein Schild angebracht mit Lebensdaten und einer Auflistung der Ämter, die Schurz innehatte. Da ist nichts von einem Prozess zu sehen, und es ist ziemlich fraglich wie viele Leute beim Anblick der Büste urplötzlich die Lust verspürten, sich mit der brüchig-demokratischen Biografie des Geehrten auseinanderzusetzen.

Denn eine Büste, auch ein Personendenkmal, ist so wie eine Straßen- oder Platzbenennung eben zunächst einmal eine Ehrung: Das erkennen wir daran, dass wir keine neuen Statuen für Menschen aufstellen, die wir heute nicht mehr als ehrwürdig erkennen, und dass wir manchmal sogar solche Statuen abbauen. Die Vorstellung, dass eine Kopie einer Büste irgendwo im Umfeld eines als Lustschloss gebauten Palastes nicht eine solche Ehrung vornimmt, sondern zu einer Diskussion einlädt, dürfte außerhalb intellektueller und berufspolitischer Kreise kaum anschlussfähig sein.

Wir können also über Schurz diskutieren, wir können aber auch ganz grundsätzlich darüber diskutieren, wozu wir überhaupt historische Personen brauchen, um aus ihnen irgendwelche metaphysischen Erfahrungswerte für die Zukunft zu erzeugen. Zu demokratischer Kultur gehört ja auch, jeden Unfehlbarkeitsanspruch an Personen abzulehnen und stattdessen Werte, Gemeinsamkeiten, Aushandlungsprozesse und gesellschaftlichen Wandel zu propagieren. All das kriegen wir nicht aus den Biografien einzelner Personen gezogen, sondern aus unseren Erzählungen von Situationen und Entwicklungen.

Vielleicht sollten wir solche Walhalla (Opens in a new window)-Ideen einfach im 21. Jahrhundert vergessen und uns auf das beschränken, was wir gerade als digitale Gesellschaft ohnehin ständig tun und deshalb zunehmend besser können: Kommunizieren. Dafür brauchen wir keine textlosen Symbole.

Was sonst noch war:

Henri Nannen war wohl an NS-Propaganda beteiligt, wegen der er nach dem Krieg und vor BRD-Gründung nie seine Lizenz hätte bekommen dürfen: https://www.youtube.com/watch?v=89ebHDhGdkg (Opens in a new window)

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