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Ein Soundtrack zur Dankbarkeit

Samuel Coleridge-Taylor: Walzer-Suite “Three-Fourths” (1909)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, ist hier alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Opens in a new window). Die Einnahmen von letztem Monat gingen wie angekündigt an das Bündnis “Deutschland hilft” zugunsten der Menschen in der Ukraine und auf der Flucht von dort.

Gestern Abend ging ich zum ersten Mal seit Monaten in einer größeren Gruppe auswärts essen. Die Beklommenheit, ohne Maske unter vielen Leuten in einem geschlossenen Raum zu sein, mischte sich mit dem Gefühl der Undankbarkeit dafür, in einem beheizten Raum sitzen zu dürfen, in dem es etwas zu essen und zu trinken gibt, sich nicht vor Raketenbeschuss fürchten zu müssen, und trotzdem nicht glücklich zu sein. Von der Pizzeria aus ist es nur eine Viertelstunde mit dem Fahrrad bis zum Berliner Hauptbahnhof, wo die aus der Ukraine Geflüchteten ankommen. Mit dem Auto sind es nur achteinhalb Stunden bis an die polnisch-ukrainische Grenze. Mit den Gedanken ist es nur ein falscher Abzweig zur Verzweiflung.

Man müsse Dankbarkeit einüben für das Gute, das einem gegeben ist, meinten meine Eltern vor ein paar Tagen. Aber wem sollen Atheist*innen dankbar sein? Gott können sie weder für ihr Glück noch für ihr Unglück verantwortlich machen. Wenn es gelingt, können sie sich freuen, aber dankbar sein?

Im Jahr 2015 schrieb ich mit dem Philosophen Jörg Ossenkopp auf Facebook anlässlich des amerikanischen Thanksgiving-Fests über die Frage, wie eine säkulare Dankbarkeit aussehen könnte. Sein damals geäußerter Gedanke fiel mir gestern wieder ein und ich finde ihn immer noch so unerhört wie tröstlich, weshalb ich ihn mit euch teilen möchte. Jörg schrieb:

“Die Ausrichtung auf etwas Personenhaftes ist für mich zunächst ein Hindernis, so etwas wie säkulare Dankbarkeit überhaupt interessant zu finden. Dementgegen könnte man vielleicht versuchen, sich so etwas wie eine kosmologische Dankbarkeit auszudenken, wissenschaftlich und säkular, aber mit Pathos (ich glaube der Reiz von “Dankbarkeit” liegt in einem gewissen Pathos). Also: Die Sonne als Sinnbild eines sich gnadenlos verausgabenden, verbrennenden Gebens und gleichzeitig als hart wissenschaftliche, kosmologische Instanz. Die Erde als Planet im Sonnensystem und gleichzeitig als Instanz, die den Lebewesen wie eine äonenalte Schlammlawine immer mehr gibt, als sie ihnen nimmt.”

Dankbarkeit für die Dinge, die einem bedingungslos gegeben werden, die man sich nicht erarbeitet oder verdient hat, gibt es auch unterhalb planetarer Dimensionen. Dinge wie einen beheizten Raum, in dem es Pizza und Wein gibt, die Kolleg*innen und Freund*innen, die man sich glücklich schätzen darf zu haben, den Partner, den man in einer Myriade anderer Menschen entdeckt hat (und der einen entdeckt hat) – und eben Frieden in dem Land, in dem man lebt. Der individuelle Beitrag zu alldem kann für die, die nicht an göttliche Fügung glauben, nicht klein genug eingeschätzt werden; umso dankbarer können sie für die guten Dinge sein, die sie in der Welt vorfinden. Der Gedanke dieser säkularen Dankbarkeit wird, hält man lange genug an ihm fest, zum Gefühl, und dann geht es einem schon besser. So ging es zumindest mir, gestern Abend in dem beheizten Raum, mit den lieben Menschen, mit Pizza und Wein und ohne Angst vor Raketenbeschuss haben zu müssen.

Die musikalische Form, die für mich diese säkulare Dankbarkeit zum Ausdruck bringt, diese gleichermaßen schlichte wie pathetische Regung, ist der Walzer. Ursprünglich bürgerlicher Gesellschaftstanz wird er im 20. Jahrhundert zum Symbol. In Maurice Ravels Orchesterwerk La Valse (Opens in a new window) steht er für eine (zusammenbrechende) gesellschaftliche, in Stanley Kubricks Film 2001 – A Space Odyssey (Opens in a new window) für eine kosmische Ordnung. Walzer haben eine disziplinierende Form, die ausuferndem Pathos Struktur gibt.

Samuel Coleridge-Taylor (Foto: U.S. Library of Congress (Opens in a new window)

Der Walzer, den ich euch heute vorstellen möchte, ist das Andante aus Samuel Coleridge-Taylors Walzer-Suite. Das Werk besteht aus sieben kurzen Klavierstücken im Dreivierteltakt; das zweite ist ein langsamer Walzer, der mit absteigenden Melodiebögen beginnt, um sich dann zu höchst dramatischem Ausdruck zu steigern. Coleridge-Taylor steht in bester romantischer Tradition und wird gerade – dankenswerterweise – wiederentdeckt. Hier ist mein Soundtrack zur Dankbarkeit; hört euch die gut drei Minuten Musik an und wenn ihr wollt, denkt an die Menschen oder Dinge, für die ihr dankbar seid. Anlässe dafür gibt es ja wirklich genug.

https://www.youtube.com/watch?v=BWntwXRPnGs&t=124s (Opens in a new window)

Hier findest du das Stück bei den Streamingdiensten (Opens in a new window).

Grüße aus Berlin
Gabriel

P.S.: Danke, dass du die Schleichwege liest. Wenn dir dieser Newsletter ein Schlüssel zu klassischer Musik ist, unterstütze meine Arbeit auf Steady (Opens in a new window). Als kleinen Dank erhältst du eine Playlist (für Spotify und Apple Music) mit fast einhundert Lieblingsstücken zum Entdecken.

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