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Mehr habe ich dazu nicht zu sagen

Valentin Silvestrov: Der Bote (1996-1997)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, herrscht Waffengleichheit. Hier ist alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Opens in a new window).

Valentin Silvestrov (Foto: Solobratscher, CC BY-SA 4.0 (Opens in a new window), via Wikimedia Commons)

Wäre die Musik des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov ein Haus, sie wäre ein Altbau von heute; eine Unmöglichkeit. Wer heute einen Altbau baut, kann schlechterdings nur einen Altbau bauen, der weiß, dass er ein Altbau ist. Und dieses Wissen würde bestenfalls in den Entwurf einfließen, als zartes Zitat, als spöttischer Verweis, als postmoderner Kommentar. Unkundige Passant*innen hielten einen solchen neuen Altbau vielleicht für etwas authentisch Altes. Und die Kritik würde in einem solchen Gebäude womöglich Einfallslosigkeit, Kitsch oder gar reaktionären Geist sehen. Und all dies wäre falsch.

So in etwa ist die Musik von Valentin Silvestrov. Sie ist ein unmöglicher Altbau, sie ist ein Kommentar auf klassische und romantische Musik, oder in den Worten des Komponisten: “Metamusik”, also Musik über Musik.

Das Stück, das ich euch in diesen traurigen Tagen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine vorstellen möchte, ist eine durch unzählige Klavier-Elegien gegangene Klavier-Elegie, sie ist ein bescheidenes “Mehr habe ich dazu nicht zu sagen” von einem Komponisten, der seine Aufgabe nicht in der Schaffung von  Neuem sieht, sondern – und das sagt er selbst – im “Dämpfen” der allgegenwärtigen klassischen, romantischen Einflüsse, die immerzu durchbrechen wollen. Silvestrovs Musik behauptet nicht, Mozart, Beethoven oder Schumann etwas hinzuzufügen zu haben. Davon handelt seine Musik. 

Von dem Philosophen Mike Sandbothe stammt der Satz, die Postmoderne sei eigentlich keine neue Epoche, sondern die “Einübung eines neuen Umgangs mit der Moderne”. In diesem Sinne ist Silvestrov postmodern. Er kommentiert die übertrieben gefühligen, schmalzigen Interpretationen romantischer Klavierwerke, in dem er in die Noten unzählige Verzögerungen, Pausen und Akzente hineinschreibt, die das Stück – bei werkgetreuer Interpretation – eben übertrieben gefühlig erscheinen lassen. Das Publikum ahnt davon nichts, aber die Person am Klavier weiß, das ihr der Komponist hinter die Stirn, hinter die Brust blickt und in den Noten zu ihr sagt: Ich weiß, dass du hier ein übertriebenes rubato (Opens in a new window) spielen willst, weil du romantisch klingende Musik so kennengelernt hast. Du willst hier schmerzerfüllt in die Ferne blicken. Aber ich nehme dir diese Freiheit der Interpretation ab, in dem ich das, was du als dein Gefühl darstellen willst, schon buchstäblich so in die Noten schreibe. Silvestrov offenbart den mal schmerzerfüllten, mal versonnenen Blick der Person am Klavier als das, was sie ist: als eine – im schlimmsten Fall leere – Geste.

Die Pointe ist: Die Musik schrammt trotz ihrer bescheidenen Distanziertheit nur haarscharf am Kitsch vorbei. Silvestrov weiß das natürlich und benennt seine Stücke entsprechend. Bereits 1977 erschien das Klavierwerk “Kitschmusik”. Ist es noch Kitsch, wenn man es Kitsch nennt?

In seinem 1996-1997 entstandenen Werk “Der Bote” (das Silvestrov parallel für Klavier solo und für Klavier mit Streichorchester schrieb), präsentiert er zuerst drei Dur-Dreiklänge mit großen Pausen dazwischen. Er führt das Material nicht kunstvoll ein, er zeigt es vor. Als ob man in der Eingangshalle eines Altbaus Materialproben der Bauelemente und Blaupausen in gläserenen Vitrinen präsentiert bekäme. Nur in einem Altbau, der weiß, dass er ein Altbau ist, wäre so etwas möglich. Aber wäre ein solches Gebäude dann mehr als ein Museum? Oder wäre es ein Gebäude über ein Gebäude, so wie Silvestrovs Klavier-Elegien Musik über Musik sind?

Wenn man die leeren Gesten nicht mehr sehen, die thoughts and prayers nicht mehr hören kann, dann sagt Silvestrovs Musik: Ich kann auch nicht mehr. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.

Hélène Grimaud spielt Valentin Silestrovs “Der Bote”:

https://www.youtube.com/watch?v=S3QzqBFkhtg (Opens in a new window)

Hier findest du das Stück bei den Streamingdiensten (Opens in a new window).

Alles Gute aus Berlin
Gabriel

P.S.: Die Einnahmen aus den Schleichwegen dieses Monats gehen an das Bündnis “Deutschland hilft” zugunsten der Ukraine (Opens in a new window).

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