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Band 1, Kapitel 1

Freunde und ein bisschen mehr als das. Zufall und ein bisschen mehr als das.

Wenn du lieber hören statt lesen möchtest, ist hier die Audiodatei für dich:

Dienstag. Regen.

Draußen so grau und drinnen warm und ein bisschen golden, alles ein bisschen langsamer, alles ein bisschen unwichtiger als an einem hellen Tag. Wer hatte eigentlich gesagt, dass Regen deprimierend war?
Ach ja,… doch… da war doch was…

  „Hi Jake!“
Jakob Winter hatte sich noch nicht ganz gesetzt und hob missbilligend eine Augenbraue in Richtung der Verunglimpfung seines Namens.
 „Guten Tag Fräulein Klee“, gab er gestelzt zurück und wuchtete den Schultergurt seiner Tasche über den Kopf.
Ellen Klee, der die hochgezogene Augenbraue gegolten hatte, hantierte hinter der Theke an der Espressomaschine.
 „Feierabend für heute?“, fragte sie und warf einen kurzen Blick über die Schulter.
Jakob nickte zu seiner Tasche.
 „Ich habe mir etwas Bettlektüre mitgenommen. Aber für heute ist es erst mal genug, ja. Ich komme ganz gut voran.“
 „Besser als gestern?“
Jakob schob seine Brille gen Stirn und räusperte sich.
 „Ja.“
Ellen nickte nur und platzierte ein großes Glas Latte Macchiato vor ihm auf der Theke.
 „Ich gehe da hinten noch eben abkassieren, dann bin ich ganz Ohr.“
Sprach’s, griff ihr Portemonnaie sowie ein leeres Tablett und schritt mit einem leisen Summen auf den Lippen durch den kaffee- und kakaoduftenden Gastraum zu einem Tisch in der hinteren Nische.
Jakob beobachtete sie, ohne sich umzudrehen, über den Spiegel hinter der Theke. In der etwas trägen Stunde zwischen Nachmittagskaffee und abendlichem Zusammensitzen atmete das Vanilla Ruhe. Eine kleine Verschnaufpause, die dieses Zeitfenster bot, bevor neue Gäste den nicht mehr ganz geheimen, fast schon etablierten Szenetreff besuchen kamen. Von der Decke hingen umgedrehte Tee- und Kaffeetassen, von innen golden lackiert, mit alten Glühbirnen darin, kugelig und sonnig. Ellen arbeite dort nun seit dem letzten Sommer zwischen Vintagemöbeln, Upcycling, In-Getränken und sahnigem Schokoladengeruch, brachte der durchmischten Gästeschaft Heißgetränke und Puddingvariationen, für die das Vanilla einen Ruf geschaffen hatte. Es war für Jakob schnell zu einer angenehmen Gewohnheit geworden, sie genau in dieser ruhigen Phase der Nachmittagsschicht abzupassen und einen Kaffee zu trinken, der einfach bessere Qualitäten besaß als der aus dem Automaten der Unibibliothek, von dem er vor noch nicht mal einer Stunde seinen letzten Kaffee mitgenommen hatte. Wegzehrung.

Aber das war nicht der eigentliche Grund, weswegen er seine Bibliotheksstunden abkürzte, wenn Ellen arbeitete, natürlich nicht.

Er streute den braunen Fairtradezucker auf den Milchschaum von vermutlich glücklichen Kühen aus Biohaltung und sah ihr zu, wie sie mit den Zahlungswilligen – zwei Jungs um die zwanzig – schäkerte. So zierlich und fröhlich wie Ellen war, durften die beiden wohl der Meinung sein, eine Altersgenossin vor sich zu haben und keine fast Sechsundzwanzigjährige, der Jakob versucht war das Prädikat „resolut“ aufzudrücken, auch wenn dieses eigentlich meist für doppelt so alte und diskriminierenderweise auch meist doppelt so schwere Frauen verwendet wurde. Sie tänzelte zurück, schon fast albern und gänzlich unresolut, ihr strohblonder Pferdeschwanz schwang im Bogen ihres Lächelns. Es hatte gutes Trinkgeld gegeben.
Bevor sie die Theke wieder erreichte, stand Jakob auf, ging ihr den einen fehlenden Schritt entgegen und umarmte sie.
 „Hallo erst mal richtig.“
 „Sitzen bleiben wäre schlauer gewesen“. Ellen klopfte ihm auf den Rücken und bog sich zur Seite, um das Tablett mit den abgeräumten Tassen außer Reichweite zu bringen. Ein Teil ihrer mädchenhaften Ausstrahlung war ihrer Körpergröße geschuldet, welche mit einem Meter fünfzig Jakobs Länge um einen stabilen halben Meter unterschritt. Eine Kombination, die sie beide zum kleinen Wanderzirkus machte, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Ergänzt wurde der Eindruck des ungleichen Paares durch Ellens Vorliebe für vielleicht ein bisschen zu viel Glitzer und ein bisschen zu viel Pink. Agil und sportlich ließ sie das wirken, wie einen ewigen Cheerleader. Jakob dagegen war groß und so dünn, dass man gerade nicht mehr sofort schlaksig sagte, besaß er doch die unter Menschen seiner Statur seltene Fähigkeit, sich zu bewegen, ohne zu schlenkern. Was für Ellen Pink war, war für ihn Grau. Graubraun, Graublau, Graugrün. Gern unterbrochen von nur Grau oder Schwarz. Maximal fingerlanges, schon als Kind ebenfalls Richtung grau tendierendes, aschblondes Haar und eine eher große Brille in seinem ein wenig zu lang geratenen Gesicht komplettierten zusammen mit einem ungewollten, aber immer passenden Händchen für Schnitte und Längen das, was Ellen als Retourkutsche für das „resolut“ wahlweise „pseudointellektuell“ oder „scheißhipster“ nannte, je nachdem, ob er sich ein klobigeres Horngestell auf die Nase gehängt hatte oder doch ein eher dezenteres metallenes.
Mochte Ellen das nennen, wie sie wollte, grundsätzlich gefiel er sich ganz gut mit dem, was er für sich als Mittelweg zwischen Tragekomfort und Imagepflege aussuchte. Gleiches galt für ihn in Bezug auf Ellen, auch wenn die eigene Selbstdarstellung beinhaltete, sich ab und an über ein paar der sehr rosa Anwandlungen zu mokieren.
Er setzte sich wieder und Ellen (im Vanilla stets unpink bis auf rosa Ohrstecker und Haarband gab es doch schokobraune und vanillecremige Uniformen für die Mitarbeitenden) räumte Geschirr.
Sie hatten in der Oberstufe schon zusammen Kaffee getrunken, wenngleich zu dieser Zeit die eher simple Variante aus Mamas Kaffeemaschine oder To-Go vom Supermarkt-Bäcker. Ein Umstand, der ihn auch jetzt noch manchmal in einem Anflug von Nostalgie über miesen Automatenkaffee hinwegtröstete.
 „Und? Sonst so?“, fragte Ellen schließlich und lehnte sich mit den Unterarmen auf die Bar. Da sie einander bald zehn Jahre kannten und sich mehrmals die Woche trafen, erschöpften sich die Fragen auf tagesaktuelle Randnotizen. Die großen Schlagzeilen waren schon lange archiviert worden.
Jakob nahm einen ersten noch zu heißen Schluck von seinem Macchiato und griff sich in den Nacken. Als er das Vanilla betreten hatte, waren ihm zwei dicke Tropfen Regenüberbleibsel in den Kragen gefallen und dort versickert. Was ihn an den Vortag erinnerte. Und an etwas, was vielleicht doch Seite-eins-Potenzial besaß.
Er sah auf und grinste schief.
 „Abgesehen davon, dass ich jetzt ein Held bin, ist alles wie immer: Hausarbeit schreiben, den Sinn des Lebens suchen, für Frau Conradi den Müll mit runternehmen, mich von Optikern fernhalten. Solche Dinge.“
Er hatte mittlerweile wirklich genügend Brillen...
Ellen neigte den Kopf.
 „Aha?“, auch sie witterte eine Geschichte besser als der Wetterbericht.
Er nickte und sah sie wartend an.
 „Und?“, Ellen verdrehte die Augen und kurbelte mit der Hand in der Luft.
 „Ich war nach meinem kleinen Koller gestern noch im Park.“

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Besagter Vortag.
Ellen seufzte leicht ungeduldig.
 „Was suchst du dir auch so ein Thema aus?“
Jakob meinte, einen Motor im Hintergrund zu hören.
 „Weil es mich interessiert?“, gab er etwas patzig zurück und wechselte das Handy ans andere Ohr, „Weil das meine Lebensrealität ist?“
 „Ist das jetzt eine Frage oder eine Antwort?“
Das war auf jeden Fall ein Motor, der da hinter Ellens Stimme brummte. Es rauschte außerdem.
 „Wenn dann zwei.“
 „Zwei was?“
 „Antworten. Oder Fragen. Wie man es nimmt.“
 „Ach Jake, echt!“, sie klang nun genervt. Er konnte es ihr nicht verübeln.
 „Fährst du schon wieder Auto und telefonierst?“
 „Ja. Und?“
 „Und?! Du sollst das nicht! Ich kaufe dir eine Freisprechanlage. – Wo fährst du denn hin?“
 „Zum Wertstoffhof. Ich war bei Mama.“
 „Alles okay?“
 „Jakob, ich fahre Auto! Das hast du schon richtig erkannt.“
Er wechselte das Telefon wieder ans andere Ohr.
 „Hm, okay. Gut. Dann… ähm… morgen hast du die Nachmittagsschicht, richtig?“
 „Wie immer, ja.“
 „Dann komme ich vorbei.“
 „Tu das.“
 „Du solltest jetzt wirklich auflegen. Du fährst.“
 „Wer hat denn angerufen?“
 „Wer hat denn abgenommen?!“
 „Jake…! Warte einen Moment…“
Kurze Pause, nur Rauschen.
 „Ellen?“
Rauschen.
 „Bist du noch da?“
Rascheln.
 „Jake, ich lege jetzt auf, da war grad die Polizei auf der anderen Spur, ich hab keinen Bock auf einen Strafzettel.“
 „Hast du das Handy fallen gelassen?“
 „Ich hab es mir in den Schoß gelegt. Hör zu: Komm morgen vorbei und wir bequatschen das in Ruhe. Bis dahin: Geh an die frische Luft oder so. Ruf Marvin an, nerv Tom. Ich kann grad wirklich nicht.“
 „Also morgen.“
 „Ja. So, Ciao jetzt, bis dann!“
Und sie hatte aufgelegt und Jakob dachte noch einen Moment darüber nach, dass das Handy, sozusagen mit ihm darin, in Ellens Schoß gelegen hatte.

Eine Viertelstunde später fand er sich im Stadtpark wieder. Er beobachtete, wie das Licht von einer Wolkenwand geschluckt wurde und sich eine merkwürdige Stille über die grünbraune Märzwiese und die kahlen Bäume legte. Er fröstelte und spürte dem Wind nach, ehe auch dieser von einem Moment auf den anderen verschwand, als folge er dem Licht. Der Park verstummte.
Zwei Tropfen fielen vor ihm auf den grauen Asphalt und ließen ihn für einen kurzen Moment erglänzen, bevor die Nässe ihre Fühler nach allen Seiten ausstreckte und zu einem mattdunklen Flecken mit ausgefransten Rändern versickerte. Jakob blieb stehen und blickte nach oben in die eilig ziehenden Wolken, die nicht ganz zu der Windstille am Boden passen wollten.
Dann kam der Regen. Als wären die zwei Tropfen vor ihm nur ein Test gewesen, eine Vorhut, um abzuklopfen, ob es sich lohnte hier zur Erde zu fallen. Offenbar lohnte es sich sehr. Innerhalb von Sekunden brach die Stille und wurde ersetzt durch ein alles verdrängendes Rauschen. Ein paar hundert Meter weiter rannte jemand mit Hund durch das Grau und verschwand über den Nordausgang des Parks.
Jakob selbst schlug die Kapuze seines Sweaters hoch, verließ den geteerten Fußweg und lief quer über die Wiese auf die Seerose zu, ein kleines Café, das zur Zeit im Umbau begriffen und geschlossen war. Aber die Terrassenüberdachung versprach den erhofften Schutz.
Der kurze Spurt vom Weg unter das Dach hatte genügt, um ihm die Jeans kalt und schwer an die Oberschenkel zu kleben. Im vergeblichen Versuch, Wasser loszuwerden, schleuderte er die Arme von sich, nahm dann vorsichtig seine Brille ab und rieb sie trocken. Als er sie wieder aufsetzte, zog eine Bewegung etwas weiter weg seine Aufmerksamkeit auf sich.
Dort, wo soeben noch der Hund und sein Halter den Park gen Norden verlassen hatten, war ein Fahrrad aufgetaucht. Jakob beobachtete, wie der Fahrer in die Pedale trat, den Kopf gegen den Regen gesenkt, ein kleiner, dunkelgrauer Fleck zwischen den monochromen Rillen unablässig vom Himmel rauschenden Regens. Je näher der Radfahrer kam, desto mehr Details wurden sichtbar. Ein Korb am Lenker, leichtes Schlingern. Ein vermutlich zu hoch gewählter Gang, der schwere, eiernde Tritte erforderte, um voran zu kommen.
Die Teerwege waren zu mäandernden Flüssen geworden, auf denen der Regen Blasen schlug. Das Fallrohr der Caféregenrinne, völlig überfordert, gab gurgelnde Geräusche von sich und erbrach das Zuviel an Wasser platschend auf die noch vom Winterfrost gelockerten Terrassensteine.
In diesem Moment schien der Radfahrer zu beschließen, dass die Umwege, die die Wege durch ihre hübsch angelegten Kurven und Bögen mit sich brachten, zu lang waren; er zog den Lenker herum, fuhr auf die Wiese, hob sich aus dem Sattel, um gegen den erhöhten Widerstand des überschwemmten Rasens anzutreten und…
Es ging schnell und doch merkwürdig langsam. Etwas auf der Wiese schien nach dem Vorderrad zu greifen, sodass es mit einem Ruck zur Seite verdreht wurde, sich verkeilte und mit dem Schwung des letzten Tritts hinten abhob und seinen Fahrer über den Lenker katapultierte. Der hielt sich jedoch mit einer Hand hartnäckig fest, sodass der eigentlich zu erwartende Salto zu einer zur Seite verzerrten Schraube verriss und mit einem Geräusch, an das Jakob sich hinterher nicht mehr erinnern konnte (ein Platsch? Ein Donk? Überhaupt etwas, was den Regen übertönte?) vor dem Rad auf dem Rücken aufschlug, dass das Wasser zu den Seiten bombte. Dennoch hatte Jakob gesehen, wie der Kopf einen weiteren Schlag abbekam, landete er doch auf dem verzogenen Vorderrad, auf dem Schutzblech. Das Rad kippte mit einem weniger spektakulären Platschen und Scheppern (an das Jakob sich später komischerweise noch gut erinnern konnte) gänzlich zu Boden und blieb dort liegen.
Dann gaukelte die Monotonie des Wolkenbruchs wieder Stille vor. Jakob bemerkte, dass er den Atem anhielt. Nichts geschah. Er atmete aus – wieder ein – aus.
Nichts.
Sein Magen kribbelte: Adrenalin.
Dann lief er los.

  „Ach du... Ach du Scheiße!“
Jakob sah herunter in ein Gesicht, das nur noch aus aufgerissenen Augen zu bestehen schien. Der Pony klebte nass und fast schwarz an der Stirn, Tropfen und Rinnsale sickerten aus dem Haar und liefen an den Wangen und über die Nase hinunter. Er selbst war erneut damit beschäftigt, seine Brille zu trocknen.
 „Langsam“, sagte er und drückte sie behutsam an einer Schulter zurück, um sie am Aufstehen zu hindern. „Bleib bitte noch etwas sitzen“, er setzte seine Brille wieder auf und lächelte ungefährlich.
Der Radfahrer war tatsächlich eine Fahrerin. Ein Mädchen. Ihre Größe hatte ihn eine Weile glauben lassen, es wäre ein Typ auf einem Damenrad, auch wenn das wenig naheliegend war, so mit dem Körbchen vorne dran…
 „Oh nein!“, ihr Blick flackerte von ihm weg und tastete die Umgebung ab. Das Vordach, die leere Terrasse des Cafés, der Regen, der Park… und dort hinten ihr Fahrrad. Dann sah sie ihn wieder an und kniff die Augen zusammen, „Scheiße.“
 „Man hat schon Schlimmeres zu mir gesagt“, gab Jakob zurück und nahm langsam den Druck von ihrer Schulter, „Bleib bitte noch etwas sitzen.“
Sie blickte zu Boden, auf die Steine der Terrasse, ihren schlammbefleckten Mantel, die Pfütze, in der sie gegen die Wand gelehnt saß. Dann hob sie eine Hand und betastete ihren Kopf.
 „Ah… aua. Verdammt“, ihr Blick fixierte ihn. „Wie spät ist es?!“
Jakob legte die Stirn ungläubig in Falten.
 „Kurz nach fünf“, antwortete er, blieb auf höflichem Abstand und deutete auf ihre Stirn. „Lässt du mich mal sehen?“
 „Was? Wer bist du überhaupt?! Was…?! Ach nein, nein, nein! Kacke!“
 „Lass mich das bitte mal ansehen“, wiederholte er ruhig und streckte ganz langsam eine Hand nach ihr aus. Sie drehte sich weg.
 „Was ist…? Mein Fahrrad! Oh nein, nicht das Fahrrad! Neinneinnein...!“
Sie rappelte sich eilig hoch, war schon halb wieder im Regen, als sie zu taumeln begann. Mit einer raschen Bewegung fing Jakob sie ab, hielt sie an den Oberarmen und zog sie ruhig, aber ungnädig zurück unter das Dach, wo er sie wieder vor die Wand setzte.
 „Sitzen bleiben!“, befahl er etwas deutlicher, ging vor ihr in die Hocke und seufzte. Sie stöhnte und hielt sich den Kopf mit der linken Hand. Am Mittelfinger steckte ein Silberring mit schwerem, schwarzem Stein, der ihn so von mitten auf ihrer Stirn anzustarren schien.
Jakob entspannte die Schultern, öffnete leicht die Handflächen und hob die Mundwinkel zu einem kaum sichtbaren, aber spürbaren Lächeln.
 „Mein Name ist Jakob. Dein Rad hat sich im Gulli verkeilt, du hast ihn nicht gesehen vor lauter Wasser in der Luft und auf dem Boden, und bist gestürzt. So wie ich das sehe, bist du mit dem Kopf auf das Schutzblech aufgeschlagen. Bitte lass mich das einmal anschauen.“
Ihr Blick war hart, verärgert, sie schien etwas im Kopf zu berechnen. Etwas, was ihr nicht gefiel. Der Ring als drittes Auge intensivierte ihren Blick nur noch: hellgraue, klare Augen, eine dunkel umgrenzte Iris. Jakob musste tatsächlich kurz wegsehen.
 „Und wie komme ich hier hin?“, attackierte sie seine Hand, die auf halber Strecke zwischen ihm und ihrer Stirn angelangt war.
Er zog die Hand zurück und seufzte genervt durch die Nase.
 „Hör zu. Du bist gestürzt, ich habe das beobachtet. Du bist nicht wieder aufgestanden und ich habe beschlossen, dass es nicht gut für dich sein kann, wenn du dort im Regen liegen bleibst. Du warst ja nicht direkt bewusstlos, aber hast offensichtlich eine Kopfverletzung. Wenn du nicht weißt, dass ich dich getragen habe, bestärkt mich das nur darin, dass ich... Bitte lass mich das ansehen!“
Sie schüttelte hastig den Kopf, bereute diese heftige Bewegung aber sofort.
 „Mir geht es gut!“, sie griff sich an die Stirn und schob in einer hektischen Bewegung den Pony nach oben, um eine große, sich bereits verfärbende Beule zu entblößen, „Ich habe keine Platzwunde, ich weiß, wie ich heiße und wo ich wohne. Und ich hab jetzt keine Zeit für Smalltalk.“
 „Ist dir schlecht?“
 „Was?“, sie fuhr erneut herum, taumelte und Jakob griff zu.
 „Gut, das interpretiere ich zumindest als schwindelig. Ich rufe dir jetzt einen Krankenwagen.“
Mit der freien Hand zog er sein Handy aus der Hosentasche.
 „Was? Bist du verrückt? Nein! Mir geht es gut!“
 „Tut mir leid, aber diese Ansicht teile ich nicht. Ich werde dich so nicht gehen lassen.“
 „Was geht dich das überhaupt an?!“
Jakob sah sie einige Sekunden lang an und zog die Brauen noch ein Stück höher.
Dann brach sie ein, seufzte tief und ließ sich gegen die Hauswand sinken. Sie schloss die Augen und ihr Kopf kippte resigniert in den Nacken.
 „Es tut mir leid. Ich bin… in Eile. Tut mir leid“, sie hob den Blick wieder und sah ihn an. „Du wolltest nur helfen.“
 „Richtig.“
Sie nickte, wie zu sich selbst, und seufzte.
 „Ich bin Anna. Anna... Tormann. Und danke dir, dass du mir geholfen hast.“ Sie blinzelte mit großen Kulleraugen. „Das war wirklich nett von dir, aber ich muss jetzt wirklich gehen.“
Jakobs Gesicht entspannte sich und er lächelte.
 „Netter Versuch. Und gern geschehen. Ich denke aber trotzdem, dass du zumindest warten solltest, bis es aufgehört hat zu regnen. Zumal du dein Rad jetzt schieben musst. Und selbst das wird mit dem Vorderrad nicht leicht sein.“
Sie nickte leise und sah in den allmählich schwächer werdenden Regen.
 „Du hast wohl Recht. Ich komme sowieso nicht mehr rechtzeitig an“, sie seufzte durch die Nase und betastet erneut ihre Stirn, „Außerdem werde ich dann nur noch nasser.“
 „Ist dir schlecht?“, wiederholte Jakob.
 „Nein. Mein Kopf tut weh, aber sonst ist alles okay. Wie lange war ich…?“
 „Nicht lang. Ein paar Sekunden. Eine halbe Minute vielleicht. Ich weiß es nicht. Mir kam es vermutlich deutlich länger vor, als es tatsächlich gedauert hat.“
 „Wieso?“
 „Ich rette nicht jeden Tag verunglückte Mädchen aus dem Regen. Ich habe dich lieber direkt getragen, statt im Regen zu sitzen und dir leichte Ohrfeigen zu geben oder dergleichen.“ Er zuckte die Achseln und stütze sich kurz ab, um aus der Hocke in den Sitz zu gelangen.
 „Ach so. Klar. Ich bin irgendwie doch… Sorry. Wie hast du gesagt heißt du? Jonas?“
 „Jakob. Jakob Winter. Und ich bin immer noch nicht sicher, ob ich dir nicht doch einen Krankenwagen rufen sollte.“
>>>

  „Hättest du mal lieber!“, Ellen schüttelte den Kopf, „Eine halbe Minute bewusstlos!“
 „Ja, ich weiß! Habe ich aber nicht. Ich habe dann mit ihr gewartet, bis der Regen aufgehört hat und habe ihr Rad noch bis zur Straßenbahn geschoben. Von dort ist sie dann so weitergefahren.“
 „Hm“, Ellen zog eine Schnute, „na immerhin. Ich finde es immer noch nicht okay.“
 „Ich habe mir ihre Nummer geben lassen, damit ich anrufen kann, ob es ihr gut geht.“
Ellens Brauen hoben sich, ihr Mund formte ein kleines, spitzes O, das sich zu einem Lächeln verbreiterte.
 „Ahaaaa, sieh an! Na jetzt kommen wir der Sache näher.“
 „Ich habe sie nicht angerufen.“ Jakob trank von seinem Kaffee und blickte sie über das Glas hinweg an.
 „Warum nicht?“
 „Ich dachte, dass ich das heute mache.“
 „Komische Logik.“
Jakob kippte den Kopf. Sie hatte Recht. Aber als er nach Hause gekommen war und dort die Hausarbeit auf Couch, Tisch und Teppich ausgebreitet gelegen beziehungsweise in Themenstapeln vorsortiert auf ihn gewartet und ihn angestarrt hatte, mit einem Vorwurf auf jeder schon beschriebenen Seite (ganz zu schweigen von den noch nicht beschriebenen Seiten), da war ihm wieder eingefallen, weswegen er in den Park geflohen war, spazieren, ohne Jacke an einem feuchtkalten Märznachmittag. Und er war duschen gegangen, bis der kondensierte Dampf ein geädertes Muster heruntergeronnener Tropfen auf dem Spiegel hinterlassen hatte. Danach hatte er die Stapel im Wohnzimmer umsortiert, die Gliederung auf dem Laptop bearbeitet und als er damit fertig gewesen war, war es nach zehn gewesen. Eine Uhrzeit, nach der er grundsätzlich niemanden mehr anrief, mit dem er nicht verwandt oder jahrelang befreundet war.
Jakob rief vor acht an, um nicht in Nachrichten und Feierabendfernsehen zu platzen. Wusste er, dass der andere weder auf das eine noch auf das andere gesteigerten Wert legte beziehungsweise Filme, legal oder auch nicht, aus dem Netz sog und somit eine Unterbrechung, aber keine Lücke in der Geschichte bedeutete, konnte er auch noch zwischen acht und halb zehn anrufen. Nach halb zehn musste man schon einen triftigen Grund haben. Und nach zehn ging nur am Wochenende oder bei absoluter Dringlichkeit.
Nicht ein Kriterium davon war am Abend zuvor erfüllt gewesen.
 „Es war gestern einfach schon ein bisschen spät“, sagte er schließlich lahm.
 „Zehn-Uhr-Regel?“
Er lächelte. Sie kannte ihn. Natürlich.
 „Ja. Ich denke, ich werde sie heute gegen sieben anrufen.“

Sieben Uhr abends befand sich in einem Zeitfenster, in dem mehr als 90% aller Menschen, die man so anrufen konnte, Freizeit und keinen weiteren Termindruck hatten. Spät genug, um von welchen Aktivitäten auch immer wieder daheim zu sein, früh genug, um noch nicht nur noch die eigene Ruhe haben zu wollen.

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