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Folge 88

Wäschekorb mit pastellfarbener Kleidung, New-Frohmanntic-Schriftzug

Etwas Altes: Angst im Dunkeln

Gestern und vorgestern habe ich Dinge erlebt, die eine Konstellation bilden, die mir interessant erscheint. Zunächst zum Gestern. Da waren wir mit der kompletten Kernfamilie bei Freunden zu Besuch – eine große Sache, wenn die Kinder 19 und 21 sind, und es Sonntagnachmittag, also der Tag nach deren Ausgehtagen ist. Die Freunde sind aber auch mehr als Freunde, sie sind Wahlverwandte. Es gibt da zwei minderjährige Jungs, deren Vater und die Oma. Die Mutter der Kinder war unsere enge Freundin, sie starb vor fast zehn Jahren. Seitdem ist das Band mit dem Freund und den Kindern noch enger geworden, und die Oma, die zu ihnen nach Berlin zog, ist so lieb und freundlich, dass sich das Befreundetsein und Verwandtfühlen auch auf sie ausdehnte. So sehr wir uns als Eltern mit unseren Großkindern zwischendurch annerven und stressen – normal –, so absolut bezaubernd ist schon immer die Interaktion der älteren mit den jüngeren Jungs. Und wie sie jetzt den Umgang modifizieren, wo der ältere Jüngere offiziell als Jugendlicher durchgeht, ist faszinierend.

Dieser Ältere der beiden Jüngeren feierte gestern seine alternative Jugendweihe. Das haben wir mit unseren Kindern auch gemacht, und ich kann es wirklich empfehlen, so ein Übergangsritual für Kinder um die 14 ins Familienleben zu integrieren. Wahrscheinlich drängt sich das als Idee besonders auf, wenn man als säkulare Ex-Wessis im Osten Deutschlands bzw. Berlins wohnt, wo dann alle irgendwas Rituelles haben: Jugendweihe, Firmung oder Konfirmation, nur die armen eigenen Kinder nicht.

Wir haben damals eine Art digitales Mündigwerden mit ihnen gefeiert, dafür bat ich nette bekannte Menschen aus dem Internet, ihnen eine in die Zukunft weisende Videobotschaft zu schicken. Das passte in die Zeit und zu uns, und es waren auch schöne Feste. Heute würde ich es ein bisschen anders machen, weil längst schon wieder alles anders ist. Achtung: Egal wann, bitte nicht cringe heilige Rituale aus von weißen Christenherren ausgebeuteten Kulturen zusammenklauben, lieber etwas Universales nehmen oder ganz Eigenes ausdenken.

Mittlerweile gibt es auch schon vorgefertigte Angebote, unser Freund musste das, was sein Sohn machte, nicht selbst organisieren. Ich finde, er hat ein gutes Ritual ausgewählt, denn es handelte sich dabei um eine echte Mutprobe, was ja viele junge Menschen als Herausforderung mögen. Gleichzeitig war diese Mutprobe aber nicht wirklich gefährlich.

Eine Nacht allein im Wald.

In der ersten Nacht blieben alle teilnehmenden Jugendlichen zusammen, in der zweiten Nacht dann schliefen sie in entfernt voneinander aufgestellten Zelten. Sie hatten jeweils eine Trillerpfeife bei sich, um gegebenenfalls Hilfe heranzuholen.

Ich habe kein Wissen darüber, ob das Ganze irgendwie bedenklich gerahmt wurde, ob es vielleicht eso-hippie oder germanisch naturromantisch war. Hoffentlich nicht. Das, was ich mitbekommen habe, klang gut und sinnvoll.

Sich einer menschlichen Urangst auszusetzen und zu spüren, dass man Teil der nicht vollständig kontrollierbaren Natur ist: gut. Mal allein mit etwas Unbehaglichkeit klarkommen müssen und dürfen, ohne sofort herandrohnende Elternteile: gut. Vorher und nachher Gemeinschaft erfahren: gut. Außerdem erlebten die Jugendlichen da etwas, was die meisten Eltern noch nicht erlebt haben, aber längst hätten erleben können: supersupergut.

Vor langer Zeit las ich mal einen Artikel im SZ-Magazin über eine Nacht allein im Wald. Auf dem sehr dunkel gehaltenen Cover der Ausgabe war ein Reh inmitten von Bäumen nur auszumachen, weil seine Augen Scheinwerferlicht reflektierten. Das Reh sah, eher unüblich für Rehe, ziemlich gruselig aus. Damals machte ich mir bewusst, dass ich vor einer Nacht allein im Wald wirklich große Angst hätte.

Vorgestern bin ich nach einer Lesung mit dem Bus nach Hause gefahren. Wie immer am späteren Abend wollte ich lieber an der etwas weiter entfernten Haltestelle aussteigen, um nicht am Park entlang laufen zu müssen. Unerwartet, vermutlich waren wegen des schönen Wetters mehr Menschen unterwegs, schickten sich aber gleich vier Personen an, an meiner No-go-Haltestelle auszusteigen, alle dem äußeren Anschein nach Frauen. Von ganz jung bis so wie ich. Also stieg ich auch am Park aus. Zusammen würden wir stark sein aka kein ganz so wahrscheinliches Überfallziel abgeben. Wir gingen alle den gleichen Weg, ungefähr 300 Meter, liefen stumm, jede für sich, im Abstand von etwa fünf Metern, vermutlich schwesterlich erleichtert, weil nicht allein. Keine von uns musste so tun, als würde sie mit dem bis an die Zähne bewaffneten Boyfriend, Ehemann, Vater, der natürlich gleich um die Ecke wartete, telefonieren. Trotzdem war zu beobachten, wie diejenigen von »uns«, die jeweils vor einer anderen liefen, sich immer wieder mal nervös umdrehten, vermutlich um sicherzugehen, dass wir wirklich noch in der Originalformation gingen und nicht irgendein besoffener Oger aus dem Park dazugekommen war. Das hat mich ziemlich bestürzt und bringt mich zurück zum Anfang.

Als Frauen wahrgenommene Personen brauchen keine Nacht allein im Wald, um mal am eigenen Leib zu fühlen, was unheimliche Angst ist. Ihnen genügt ein beliebiger Weg von A nach B ab ca. 22 Uhr. Es ist auch ein Übergangsritual: vom Subjektsein ins Objekthafte; diese Horrorjugendweihe beginnt mit spätestens 12 Jahren und endet nie. Vermutlich hätte ich nachts allein in der Natur, im Wald, noch viel mehr Angst als auf dem Heimweg. Mehr Grund, Angst zu haben, gibt mir aber definitiv die Kultur, »die Zivilisation«.

Etwas Neues: Terroreulen

Ich spiele, äh, lerne nun schon seit sieben Wochen Italienisch mit Duolingo und bin weitergekommen, als ich es bei meinen 178 Italienischlernversuchen davor je geschafft habe. Auch nach Duolingo-Maßstäben bin ich gut, ich schließe Liga um Liga auf Platz eins ab, und das ist wirklich schwerverdient. Mir hilft beim Lernen u. a., dass die Ligen nach Edelsteinen benannt sind, danke dafür. Was nicht ganz so angenehm ist: Die cute Duolingo-Eule ist zu einer Art Erinnye für mich geworden.

Gestern Abend erst habe ich die Amethyst-Liga mit dem ersten Platz abgeschlossen und bin in die Perlen-Liga aufgestiegen. (Perlen sind gar keine Edelsteine.) Und was ist heute? Ist die Eule endlich mal zufrieden mit mir? Zwinkert sie mir lieb-eulig zu und sagt: »[Userinnenname], geh es heute gern etwas lockerer an. Morgen ist auch noch ein Tag.« Nein, sie ballt die linke Schwinge zur Faust und mahnt: »Zeit zum Üben!«.

Duolingo-Eule ermahnt zum Üben

Schon bald wird sie mich anraunzen, dass es höchste Zeit sei, meinen Streak zu retten. Hätte ich nur nicht diesen riesigen Duolingo-Button auf dem Startbildschirm installiert. Wer möchte schon von einer gelb-orange Eule mit flammenden Augen angestarrt werden. Ich erfinde das nicht. Okay, die Augen flammen nicht wirklich, aber ich fühle, wie sie flammen.

Duolingo-Button mit Eule, die die Arme verschränkt hat und dämonisch dreinblickt

Interessanterweise benutzte ich schon vor Duolingo den Ausdruck »Terroreule«, um gerade zu fordernde Familienmitglieder zu bezeichnen. Auch Laser nenne ich manchmal »Terroreule«, er erscheint ja ebenfalls täglich mit missmutigem Gesicht auf dem analogen Startbildschirm aka am Schlafzimmerfenster.

Streng blickende Katze hinter Fernsterscheibe

Ich werde nun also von einer analogen und einer digitalen Terroreule heimgesucht, die beide feste Vorstellungen haben, wie es mit mir zu laufen hat. Bestimmt haben sie eine Chatgruppe, in der sie texten: »Sie liegt jetzt seit drei Minuten im Bett und liest ein Buch. Willst du nerven oder soll ich?«

Mein Mann hat gesagt, dass die Eule mir, wenn ich weiter so ackere, irgendwann ein Haus in Italien freischalten wird. Ich hoffe, es stimmt. Für den Tag X habe ich mir prophylaktisch schon mal Wissen angelesen, wie Katzen relokalisiert werden. Vielleicht schreibt Laser ja mit der Eule bereits auf Italienisch.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

 »Neue Produktionskräfte fallen mit relativer Freiheit zusammen – eine Zeit des Schaffens – das Individuum zählt noch.«

Simone Weil, Cahiers. Aufzeichnungen 1 (Abre numa nova janela), 78

Etwas Unheimliches: Peeping Frontkamera

Es gibt eine Stelle bei Freud, wo er beschreibt, wie er im Zug sitzend einen Mann beobachtet, der ihm zutiefst unsympathisch ist, bis er bemerkt, dass er im Abteilfenster sein eigenes Spiegelbild betrachtet. Dieses Phänomen hat mich früher in der Theorie sehr fasziniert, mittlerweile kenne ich es auch aus der Praxis. Vielleicht geht es makellos normschönen Menschen oder Menschen, die sehr weitreichende Schönheitsarbeit betreiben anders, aber mich trifft regelmäßig der Schlag, wenn ich auf dem Smartphone versehentlich die Frontkamera aktiviere: WTF, SO SEHE ICH ALSO WIRKLICH AUS?!!!

Meine arme Mutter musste diesen potenziell tödlichen Schrecken auch erleben, und zwar ausgerechnet, als sie zum allerersten Mal ein Smartphone nutzte. Sie stand über das auf dem Tisch liegende Gerät gebeugt und machte *Klickgeräusch* versehentlich ein Selfie. Über einen Tisch gebeugt und angestrengt versuchend, ein komplett neues Universum zu betreten und zu verstehen, sieht man, außer vielleicht als Vierjährige, vermutlich am unvorteilhaftesten überhaupt aus. Meine Mutter war verständlicherweise komplett außer sich, regelrecht verzweifelt, und sagte: »Ich bin so hässlich.« Sie ist überhaupt nicht hässlich, na ja, außer auf diesem Bild. Es gelang mir nicht mal ansatzweise, sie davon zu überzeugen, dass vermutlich alle irgendwann diesen Schock erleben, sogar immer wieder und sich auch vermutlich alle wie in einem instantanen Horrorfilm fühlen. Meine persönliche digitale Urangst ist, so ein Horrorselfie beim panischen Rumtippen versehentlich als Live auf irgendeiner Plattform zu posten.

Diesen Moment aber, in dem das ungewollte Selfie einem schockhaft vor Augen tritt, möchte ich »Frontkamera-Jumpscare« nennen. Wenn ich mal zu viel Zeit habe, ordne ich das Ganze ins romantische Doppelgänger-Motiv ein.

Rubrikloses

So hat das Programm Poettweet vor langer Zeit Tweets von mir zu einem Sonett gebündelt.

Personen in Anime-Kostümen bei der Leipziger Buchmesse

Die Leipziger Buchmesse verdankt ihre Hauptattraktion dem Umstand, dass sie vor einigen Jahren durchlässig auf etwas reagierte, was von Außen in sie einsickerte. Das passiert bei alten institutionellen Geschichten selten, meist wird Neues einfach abgewehrt.

Jesus hält Grumpy Cat auf dem Schoß. Jesus: I died for your sins. Grumpy: Good.

Unter euch sind bestimmt noch 0,3 %, die mein Lieblingsmeme nicht kennen. 

Eine Hausaufgabe für euch. Geht raus und sucht ein vierblättriges Kleeblatt. 

Alle reden über KI,
und KI redet mit dir.

Präraffelitische Girls erklären

Gemälde. Verklärt blickende Person. Eingefügter Text: Hat es nur für mich gepostet ... hat es nicht für mich gepostet ... hat es nur für mich gepostet ... hat es nicht für mich gepostet

Erinnert ihr euch noch an die Zeiten, als halb Twitter digitaler Minnesang war?

Zurück zu, ach, keine Ahnung, ist gerade alles so viel; wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis. 

XOXO,
FrauFrohmann

Bitte nicht vergessen, kommt vorbei, wenn ihr könnt: am 29. zur anders bleiben-Lesung in Leipzig mit Maryam Aras* und am 30. zum Katersalon in Berlin (Abre numa nova janela).

*Doppel-Lesung mit Karin Nungeßer, die aus Das eigensinnige Kind, Teil 2 (Abre numa nova janela) liest

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