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Folge 92

Cover mit Bildern von Kater Laser

Vorweg

Vielleicht wieder ein bisschen viel Strenges diese Woche, aber das ist hier ja kein Marketingnewsletter, wo es darum geht, dass um Himmels Willen niemaus deabonniert. (In Wirklichkeiten weine ich mir die Augen aus, wenn jemaus deabonniert, wohingegen ich immer verstehe, wenn Zahlabos gekündigt werden: Menschen haben nicht immer gleich viel Geld zur Verfügung oder wollen auch mal andere unterstützen. Bitte also nie schlecht fühlen, wenn ihr nicht mehr zahlt, lest in aller Ruhe weiter mit. Alles lesen ist auch nicht immer notwendig, es soll Freude und keinen Stress machen. Meint ihr, ich lese immer alles, was ich bezahlt abonniert habe? Sehr lustig. In einer perfekten Indie-Welt zahlen immer genug Menschen ein bisschen, damit Publizierende leben können und lesen immer genug Menschen mit, damit Autor_innen und Inhalte öffentlich wahrgenommen werden, Realität haben. Aber eure Freude, euer Wachsen, euer Lernen durch Lesen oder anderweitiges Rezipieren sind all dem vorangestellt. Leser_innen sind nicht für Publikationen da, sondern umgekehrt. Ihr müsst also gar nichts, sondern ermöglicht freiwillig, weil es euch einleuchtet, ein neues System, das sicherstellt, dass ihr unter vielfältigen Publikationen wählen könnt. In diesem System kommt wirklich Freiheit zum Tragen, nicht diese verschwurbelten oder verdieselten Verdrehungen davon.

Hinweis: Von mir neu geprägte Begriffe, auch schon vor einer Weile im New Frohmanntic eingeführte, werden im Text mit * gekennzeichnet und ganz unten erklärt.

Etwas Altes: Er war ja noch ein Kind

Fakt: Rassifizierte Personen, also Menschen, die von Weißen und manchmal auch Mitgliedern anderer, selbst rassifizierter Gruppen aufgrund von Looks, Namen, Nationalität etc. diskriminierend eingeschätzt werden, brauchen in Deutschland nur einmal sichtbar die Straße zu überqueren, um als »gefährliche junge Männer« zu gelten, während Weiße in Machtpositionen (ab hier: »Machtis«*) Relativierungskredit* und, wenn es sich einfach gar nicht leugnen lässt, Resozialisierungskredit* bis zum Mars bekommen. Not all men, not all Boomers, not all white people. Weiße Machtis können sich also relativ sicher sein, dass sie komplett straffrei mit fast allem durchkommen, solange es nicht als GRÜN oder LINKS eingeordnet werden kann. – Mit Klimaaktivismus, in dieser Hinsicht stimmt der RAF-Vergleich, der ansonsten eine unglaubliche Frechheit ist, landen auch Universitätsprofessor_innen schneller im Knast, als sie »1,5 Grad« sagen können.

Okay, weiße Machtis kommen mit fast allem durch, aber könnte nicht versuchsweise diskutiert werden, ob das auch erstrebenswert ist? Schließlich wirken Eltern im Idealfall unermüdlich auf ihre Kinder ein, für begangene Fehler die Verantwortung zu übernehmen:

1. zugeben
2. um Entschuldigung bitten
3. Strafe annehmen onder* Wiedergutmachung anbieten
4. als geläutertes Mitglied in die Gesellschaft zurückkehren

Ich habe an anderer Stelle schon darauf hingewiesen, dass jeden Tag in Deutschland Minderjährige für Vergehen, die Erwachsenen mit Macht regelmäßig nachgesehen werden, in hohem Bogen von der Schule fliegen. Daraus würde ich kausallogisch schließen, dass, wenn eine Person in jungen Jahren etwas getan hat, das sie heute wirklich falsch und schlimm und gewaltvoll findet und nicht doch insgeheim richtig oder nicht so schlimm oder egal, sie sich in ihrem späteren Leben dazu verhalten, Position beziehen, Haltung zeigen muss. Freiheit ist auch, sich freiwillig verantwortlich zu benehmen. Eine Person mit Altlasten aus jüngeren Jahren müsste diese Schuld zunächst mit sich selbst klären, um sie nicht zu verdrängen, sondern daraus persönliche Verantwortung abzuleiten, ableiten zu können. Nur so kann sie verhindern, mit dazu beizutragen, dass das eigene Fehlverhalten in der Gesellschaft normalisiert wird. Vor Aiwanger hätte ich gedacht, dass Antisemitismus etwas ist, mit dem Menschen in Deutschland nach 1945 nur durchkommen, solange es nicht explizit öffentlich wird. Aber vermutlich habe ich auch in diesem Bereich viele verbürgte Ausfälle von Politiker_innen und anderen öffentlichen Personen in den letzten Jahrzehnten nicht zusammengedacht und -erinnert. (Das sollte wirklich mal systematisch gesammelt und aufgearbeitet werden.) Bei metoo habe ich ja auch zuerst gesagt, mir wäre gar nicht sooo viel passiert, bis dann Erinnerung auf Erinnerung hochkam. Und ich hielt auch meine Herkunftsfamilie für null rassistisch, bis ich mich nach und nach doch an einige Sprüche erinnerte.

Realistisch betrachtet, haben fast alle Menschen Anlass, mal im stillen Kämmerlein herauszukramen und aufzuarbeiten, wann und wie sie andere diskriminiert haben. Ganz besonders natürlich Mitglieder der Dominanzgruppen. Ja, auch dann, wenn es im Rahmen von Fiktion stattgefunden hat. Mit Literatur, Film, Musik, Theater, Kunst werden ebenfalls Blickwinkel, Vorstellungen und Begriffe in die Welt gebracht, sie nehmen Realität an und prägen die Wirklichkeiten von Menschen. – Nennt es ruhig jakobinisch, ich finde es für Autor_innen empfehlenswert, sich zu einem ethisch altmodisch* gewordenen Früherwerk* zu verhalten.

Du hast vor langer Zeit einen schmerzhaft klassistischen, sexistischen und rassistischen Pop-Roman geschrieben und die Kritik feiert das bis heute als Ironie? Sag laut und deutlich, dass du das heute so nicht mehr schreiben würdest und warum. Bitte den Verlag, deinen Kommentar auf der Webseite zu veröffentlichen und etwaigen Neuauflagen des Buchs voranzustellen. Du wirst dadurch keinen einzigen Fan verlieren, versprochen, du wirst sogar neuen Respekt bekommen von Menschen, die aktuell bei der Nennung deines Namens unmerklich die Augenbrauen hochziehen. Mit deiner Positionierung, deiner erkennbaren Haltung wirst daran mitwirken, Kultur und Gesellschaft weniger gewaltvoll zu gestalten. Nein, das ist nicht das Ende von Spaß und Freude, nur weniger Diskriminierung.

Manche Menschen würden an so einem Roman auch nichts mehr verdienen wollen, aber die hätten vermutlich auch in 1980ern keinen solchen Roman schreiben und bei einem großen Verlag unterbringen können. Also nicht übertreiben: Eine kritische Klammer um die gemeinen Passagen ist ethisch genügend. (An dieser Stelle: Danke, höhere Ohnmacht, dass ich erst gegen Ende des coolen Zeitalters* mit dem Schreiben begonnen habe.) 

Umsehen lernen: Es ist nicht böse, als Autor_in in einem Porno mitgespielt oder als Sexarbeiter_in gejobbt zu haben. Auch nicht, das jetzt gerade zu tun. Böse ist, sich an Kultur immer nur zum eigenen Vorteil zu bedienen und die eigene Verantwortlichkeit als Kulturschaffende_r nicht fortwährend zu reflektieren.

Etwas Neues: Woke-gewaschene Läuterungsliteratur

Es ist kein neues Phänomen, dass gern diejenigen andere am lautesten kritisieren, die selbst vor fünf Minuten noch geraucht, drei Autos besessen, kolonisiert, nur mit Weißen gechillt und nur cis Menners gelesen, Frauen bedrängt, diskriminierende Witze gemacht und das N-Wort in Pippi Langstrumpf verteidigt haben. In dem Kontext gibt es das perfekte Zitat von F. W. Bernstein, Ältere kennen es unausweichlich: »Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.«

Neu ist, dass Elchkritiker_innen über ihren wunderbaren Läuterungsprozess Bücher schreiben und damit soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital anhäufen. Neben den neulich schon erwähnten ekligen metoo-Romanen von nicht immer nie im metoo-Kontext genannten Autoren kommen jetzt die feministischen Läuterungsbücher von mit antifeministischen Hot takes bekannt gewordenen Autorinnen. Das erste poppt gerade auf, aber ich verspreche euch, es wird nicht bei einem bleiben. Diese schon im Ansatz fragwürdigen Bücher werden wieder und wieder und wieder den Blick auf die Arbeit von Autori_nnen verstellen, die ohne patriarchale Bierchenkultur im Rücken sich, ihre Haltung, ihren Blick immer schon beobachtet und kritisch analysiert haben. Diese schon im Ansatz fragwürdigen Bücher sind unsolidarisch, und ihre Autor_innen sind es auch, selbst wenn der Titel Solidarität lauten sollte. (Kommt bestimmt, ich kann es fühlen.) Wer vor ein paar Jahren damit Karriere gemacht hat, dem Patriarchat zu signalisieren »Alles, okay, Bro, not all men, warum ist Feminismus immer so schlecht gelaunt, mit mir kannst du Pferde stehlen, zwinka zwonka« sollte sich freuen, jetzt vielleicht nicht mehr ganz so ignorant gegenüber struktureller Gewalt und der eigenen Rolle im Patriarchat zu sein und kann das auch gern als wertschätzenden Kommentar unter die Posts von Menschen schreiben, auf deren Arbeit dieser Erkenntnisgewinn basiert. Aber wer es wirklich verstanden hat, schreibt darüber kein Buch, schreibt idealerweise sogar mal drei Jahre lang überhaupt kein Buch, tritt zur Seite, macht Platz, lässt Raum, und unterstützt derweil leise und großzügig die Arbeit von anderen, die es wegen der verlässlich reingrätschenden Cool Girls im Patriarchat noch schwerer hatten. Es gibt kein mutiges, zu beklatschendes Coming-out als woke, das ist einfach nur Ich-Marketing.

Und falls ihr jetzt scheiße findet, was ihr hier lest, weil ihr solche Autor_innen persönlich kennt und menschlich schätzt, müsst ihr schon wieder über den Unterschied von Strukturkritik und individueller Emotion nachdenken. Vorträge darüber, wie wichtig es ist, diesen Unterschied zu beachten, habt ihr anderen bestimmt schon mal gehalten. Ich euch und mir definitiv.

Um sich bloßen Goodfeel-Feminismus besser verkneifen zu können, haben die Präraffaelitischen Girls für ihre Arbeit den Hexen-Begriff aufgegriffen. Warum?

Sich Feminist_in zu nennen, ist 2023 komplett schmerzlos. Ja, okay, da sind die Trolle, die keine Feminist_innen mögen, aber denen genügt auch schon, dass Menschen »Frauen« onder* »Queere« sind, da muss gar nicht »Hexe« draufgelegt werden. »Hexe« ist für etwas anderes gut, Hexe ist für Menschen wie mich als Selbstbild eine kleine Zumutung. Ich muss aushalten, dass andere sich fragen: Wie meint sie das? Meint sie wirklich Hexe mit Glaskugel und Heilkräutern und Männerhass und ohne BH und mit Fleetwood Mac und Tarotkarten? Ich meine ganz viel davon persönlich nicht, aber ich mute mir zu, dass meine wichtigste Arbeit als Autorin, die PGExplaining, damit assoziiert werden. Weil das alles Lagen misogyner Klein- und Verächtlichmachungen sind. Ich betrachte mich ja auch nicht selbst als »Girl«, will aber »Mädchen« und »Girl« vom Kleinreden, Verächtlichmachen, Abtun befreien, weil ich glaube, dass das die Lebenswelt junger Menschen etwas freier von Gewalt machen könnte.

Fun fact: Es gibt Personen, darunter feministische Autorinnen, die mich als Person schätzen, aber nichts von den Girls liken, weil sie den Begriff »Girl« für erwachsene Frauen unfeministisch finden. Ich kann mich nicht wirklich erinnern, wo ich ihn so verwendet hätte, die PGExplaining sind ja weder dem Alter noch dem Geschlecht noch ihrer Zahl nach eindeutig, aber gut. Gerade heute hat in ähnlich reduzierender Betrachtung eine SZ-Journalistin unter einem Girls-Post kommentiert, dass »wir« (sie und ich? sie und die Figuren eines Phantom-Memes?) den Begriff »Hexe« nicht verwenden sollten, weil vom Patriarchat geprägt. »Wir« seufzen, zum einen, weil es in dem Post inhaltlich um globales Zusammenstehen und #SolidaritätOhneAber ging, mit der Forderungen nach Gerechtigkeit besser durchgesetzt werden können. Ja, aber ... Zum anderen ist die Umdeutung einer negativ gemeinten Fremdzuschreibung einer der ältesten subversiven Moves marginalisierter Kulturen überhaupt. Muss maus nicht so sehen und so machen, aber die Wissenschaft hat festgestellt aka es ist kein Mittel, das von anderen Feminist_innen per Geschmacksurteil kritisiert werden sollte. Zum noch anderen: Bitte mehr Impulskontrolle bei Publizist_innen, »wir« tragen Verantwortung.

Wer wirklich solidarisch sein möchte, wer lernen möchte, grundsätzlich solidarisch zu sein, muss meiner Meinung nach schon vor etwaigem Reagieren auf andere sich selbst Unbehaglichkeit zumuten, um nicht bei der ersten Gelegenheit, in der persönliches Genervtsein kickt, unsolidarisch aus der Kurve zu fliegen.

Fun fact: Als ich noch überlegte, ob ich wirklich die sein möchte, die jetzt auch noch wokegewaschenene Autorinnen angeht – nein, ich will nicht mit einem hot take dazu ins Radio , hier steht ja schon alles –, sah ich auf Insta einen Post von Katharina Herrmann, die riet, doch statt besagtem Buch lieber Hässlichkeit von Moshtari Hilal (Abre numa nova janela) zu lesen. Ich lachte und freute mich, denn Katharina ist ebenfalls eine Endgegnerin der Bierchen- und Cliquenkultur. Hässlichkeit werde ich auf jeden Fall lesen, es klingt schon im Ansatz hochinteressant. Lest ihr unbedingt mal bei Kulturgeschwätz rein, so heißt Katharina Herrmanns Blog.

https://kulturgeschwaetz.wordpress.com/uber-mich/ (Abre numa nova janela)

Noch etwas Neues: Weißer Perspektivwechsel bei öffentlichen Interventionen

Von sich selbst als Person zu erzählen, die bei Hatespeech im öffentlichen Raum interveniert hat, ist extrem sozialkitschverdächtig, deshalb bitte beim Folgenden mitdenken, dass ich mir kein Lob abholen möchte, sondern erklären, wie Umsehenlernen bei mir selbst funktioniert und noch lange nicht abgeschlossen ist. Vor ein paar Tagen kam ich von einem Treffen mit meinem älteren Sohn, es war sehr schön gewesen, ich war glücklich, ein Gefühl, das ich gerne möglichst lange bewahrt hätte. Am Alexanderplatz stieg ich in die S-Bahn und wunderte mich halbbewusst, dass die Person, die vor dem freien Platz saß nicht ausreichend wegrückte, damit ich gut durchkam. Sitzend bemerkte ich, dass hinter der Person eine andere Person stand, die leise bis mittellaut vor sich hin schwadronierte. Ich dachte, na toll, das kann ja was werden, verstand dann aber auch, warum die Person auf dem Sitz neben mir sich eben wie ein Klotz benommen hatte. Sie war bereits durch das Gerante destabilisiert gewesen. Es war unumgänglich, ich musste mit anhören, was die Wutperson zu wüten hatte: Berlin ... schaut euch das nur an ... Schweinestall ... der Westen ... Bis dahin dachte ich nur, du nervst krass, Alter, aber vielleicht geht es dir mental nicht gut. Bis dahin hätte nichts unternommen und mich still unbehaglich gefühlt, auch ein bisschen geärgert, dass sich ein Glücksgefühl selten per U-Bahn nach Hause bringen lässt. Dann aber folgte nach weiteren Ausbrüchen zur Hauptstadtvermüllung und der Schuld des Westens ziemlich schnell »euer Multikulti«. Ein innerer Scheideweg für mich. Bis vor ein paar Jahren hätte ich an dieser Stelle gedacht, du nervst krass, Alter, aber ich steige ja gleich aus, bei dir ist eh Hopfen und Malz verloren. Damit hätte ich es mir einfach gemacht, aber ich wusste es damals noch nicht besser. Ich hätte meine zunehmende Unbehaglichkeit für mein Hauptproblem gehalten. Heute weiß ich, dass die gleichen Hassreden bei anderen, die sie hören, die Vorstellung erzeugen oder bestärken, in der deutschen Gesellschaft, besser: der Dominanzgesellschaft in Deutschland, nicht willkommen zu sein. Mich in Deutschland grundsätzlich unwillkommen zu fühlen, würde mir, der weißen Christiane, natürlich im Traum nicht einfallen. Aber mittlerweile verstehe und fühle ich auch, dass mein Hauptproblem in dieser Situation ist, wie andere Menschen nicht Unbehaglichkeit, sondern gegen sie gerichteten Hass spüren. Das heißt nicht, dass nicht für ein oder zwei Momente noch mein altes Ich sagt: Vielleicht ist er ja doch psychotisch, lass mal lieber. Ich glaube, das denke ich halbbewusst, um den einfacheren Weg zu wählen. Es fällt mir nicht leicht, öffentlich eine fremde Person anzusprechen oder gar zurechtzuweisen. Mein gewohnter Modus ist, draußen möglichst unsichtbar zu werden, kein Augenkontakt, um die Botschaft zu senden: Denk bloß nicht, ich wäre eine nette Frau, die du ungefragt zuquatschen kannst.Aber nachdem ich mich jetzt doch schon ein paarmal getraut habe, bei Gewaltscheiß zu intervenieren, ist es mittlerweile gleich nach dem allerersten Moment leichter als früher.

»Können Sie bitte ruhig sein, die S-Bahn ist nicht dafür da, um ungefragt andere Menschen mit rassistischem Müll vollzulabern.«

Natürlich ist der Wutdude total abgegangen. »Sie nennen mich einen Rassisten? Sie wissen ja gar nicht, was das bedeutet. Heute denken alle, dass sie so klug sind. Schlagen Sie mal nach, was Rassist bedeutet. Ich zeige Sie an.« Natürlich ist er dabei mit erhobener Stimme näher auf mich zugegangen und ich habe Angst gehabt, dass er mich schlägt. Für eine Umgebungsanalyse war ich zu aufgeregt, aber ich fühlte weder deutlichen Support der Mitfahrenden noch deren klare Bereitschaft, teilnahmslos alles geschehen zu lassen. Ich wiederholte: »Seien Sie einfach ruhig.« Als ich das Handy herausholte, um meinen Ausstieg aus seiner Diskussion zu signalisieren, fing er wieder an: »Aaaah ja, das wollen Sie jetzt bei dieser Ordnungsstelle melden, ich weiß, dass es so eine Stelle gibt.«

»Seien Sie einfach ruhig.«

»Nicht? Dann ist es gut.«

»Seien Sie einfach ruhig.«

Ich hatte noch etwas Sorge, dass wir zusammen aussteigen könnten und er dann auf mich eindreschen würde, aber das ist nicht passiert. Was passiert ist: Einer diskriminierend redenden Person wurde der Raum dafür genommen. Meinem Eindruck nach wird diese Person sich so schnell nicht mehr in der Bahn öffentlich zu Wort melden. Jetzt stellt euch vor, ich würde mich das schon immer trauen und ihr auch und Alt-, Neu- sowie Immer-Nazis hätten seit 1945 immer sofort Gegenrede bekommen, öffentlich und privat. Von den fast allen, die angeblich keine Nazis sind und waren. Wie nicht weit hätte es kommen können? Menschen müssten nicht jeden Tag in dieser Drecksgesellschaft Diskriminierungsdreck erleben. Bürgerliche Politiker_innen und Medien würden nicht ethisch cringe um Faschos rumscharwenzeln.

Nazi sein wäre kein Universaltrend, sondern das, was es in einer Demokratie sein muss: sozial geächtet, das Allerletzte.

Etwas Geborgtes:

»Müssen wir dabei möglicherweise so weit gehen, Regeln zu brechen? Die Frage klingt radikal, aber sie ist es nicht. Wir müssen uns klar sein, dass Recht niemals neutral ist. Es ist immer Ausdruck der herrschenden Gesellschaftsordnung. In einer Gesellschaft, die noch immer misogyn und rassistisch geprägt ist, sind auch das Recht und seine Anwendung Ausdruck dieser Diskriminierung.« – Asha Hedayati, Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen alleinlässt, S. 180

Etwas Unheimliches: Das politische Unvermögen, Megagefährder zu erkennen

Kann mir bitte jemaus erklären, wie mir und bestimmt auch anderen bereits vor Jahren klar war, dass Elon Musk mit seiner Macker-Megalomanie, dem Multimilliardenvermögen und den Händen stabil auf Kommunikation und Mobilität (inklusive Weltall!), die gefährlichste Person auf dem Planeten ist – ich habe dazu früher fast peinlich ausufernd getwittert – und 2023 dann auf dem Insta-Account der New York Times zu lesen (Abre numa nova janela) ist:

»Elon Musk has become the most dominant player in space, amassing power over the strategically significant field of satellite internet, increasingly worrying militaries and political leaders around the world.«

Increasingly worrying militaries and political leaders around the world? – Ich bekomme einen Rappel, wenn ich das lese.

Warum haben Regierungsverantwortliche offensichtlich immer noch keine hinreichende Beratung von Menschen, die über Netzwissen* verfügen, was ja vermutlich heute das nächste an Universalwissen ist? (Weil sie sich nie dem unbehaglichen Gedanken gestellt haben, dass es Sphären gibt, die sie nicht checken, z. B. Fernbusse oder soziale Netzwerke.) Oder stellen sie sich nur ahnungslos? Trollen in Demokratien Regierende Bürger_innen? Ich befürchte, die Antwort ist manchmal Ja.

Elon Musk ist übrigens auch schuld, dass ich 2020 den Glauben an einen Unterschied zwischen Realität und Fiktion verlor. Stoppt den Dude endlich, bevor er noch tausend Kinder mit SciFi-Namen und Satelliten mehr hat.

Screenshot mit Wikipedia-Text zu Elon Musks Beziehungsbeginn mit Grimes rund um ein Twitter-Wortspiel

Bitte Superreiche bis auf 10 Millionen enteignen, Supergefährder wie Musk zuerst. Auch sagen: Genug gegründet und übernommen, Bro. Geh mal schön segeln.

Rubrikloses

Gartengedanken: Die aus einem noch lebenden Ast des vor gut fünf Jahren umgestürzten hundert Jahre alten Baums »gemachte« Babyweide wird nächstes Jahr bereits der dritthöchste Baum im Garten sein. Werden und Vergehen galore. Letztes Jahr war Weide II noch so klein, dass ich, als Laser an ihrem Fuße lag, Katzenbukolik-Fotos gemacht habe, weil er in Proportion ungefähr so aussah wie die auf romantischen Gemälden rumliegenden Kühe. (Bitte erinnert mich fortan als Christiane Frohmann, die Erfinderin des bedeutenden Genres Katzenbukolik.)

Weirde Waren

Leo-Armee-Schirmmütze mit Nieten und Strassleokopf, beworben im Rahmen von Aktion »Zurück zur Schule«

Top-Style für lotterigen Schulbesuch

Ich glaube, ich werde alt.

Warum nicht? Wer sein Huhn liebt, schützt es.

Klarkomm-Gedankenspiel: Immer, wenn ein Gegenüber in den üblichen Kontexten in lästiges »Ja, aber ...« verfällt, sprecht es innerlich nach, aber das »aber« wie in »Gabber«, sagt in eurem Kopf »Ja...abber...jabber ...«, es darf auf Wunsch auch hessisch klingen und legt dann mental noch einen Soundtrack dahinter, den allerübelsten euch bekannten Gabber-Track, mailt gern Vorschläge. Bis der Track in eurem Kopf vorbei ist, hat Jabber vermutlich auch zu Ende relativiert, ohne damit eure Seele anrotzen zu können. Ob in eurem Gedankenspiel Jabber wie Jabba aussieht, überlasse ich eurem Gemeinheitslevel.

Ich habe euch schon öfter von den bizarren Unternehmungen meines Großvaters erzählt. Als er nach Ende des 2. Weltkriegs eine Weile lang in Berchtesgaden einen Souvenirladen betrieb, wurden darin auch handgezeichnete Bildwitze nach nicht unbedingt schreiend komischen Ideen von ihm verkauft. Einige habe ich beim Auflösen der Wohnung in München gefunden und fotografiert. Ein Witz ist tatsächlich interessant, denn er zeigt ziemlich deutlich, dass der Umgang mit der eigenen Nazivergangenheit schon damals kollektiv weggeschmunzelt werden konnte.

Älterer Mann vor Gericht: I war koa Nazi, i bin der Nazi. Iganz Huber hoaß i.

Letzte Woche saß ich auf einer Konferenz, auf der von einer Referentin auf der Bühne von einer Art neuem Standardhonorar von 500 EUR gesprochen wurde und dass es schlimm sei, Auftretende zum Essen im Restaurant einzuladen, bei dem sie selbst bezahlen müssen. (True.) Mein Honorar für die Konferenz betrug 300 EUR und ich hatte einige Tage zuvor per Mail eine Selbstzahl-Einladung zum Essen bekommen. Letztere habe ich nicht angenommen, das Honorar hatte ich umstandslos akzeptiert. Für mich sind 300 EUR leider immer noch vergleichsweise viel Honorar. Das ist auch keine Kritik an den Veranstaltenden, das war alles nett und das Budget bestimmt klein. Ich bin nicht sauer auf sie, sondern auf mich und versuche, es ab jetzt anders zu machen.

Bitte macht ihr es auch wie ich ab jetzt: Verlangt nicht weniger als die 500 EUR, erwähnt diesen neuen Standard. Sagen sie Nein, könnt ihr immer noch überlegen, ob ihr es trotzdem machen müsst, weil ihr gerade jeden Cent braucht.

Eine andere Veranstaltung habe ich diese Woche abgesagt, als klar wurde, dass wir zu zweit maximal 600 EUR bekommen sollten. Jetzt bekommt die andere Autorin das ganze Honorar. Guter Ausgang. Das ist auch meine Anschlussüberlegung für eigene Veranstaltungen. Es müssen ja nicht immer mehrere Personen auftreten, lieber nur eine fair bezahlte.

Bitte lernt das mit dem Geld schneller als ich. Ich hasse mich echt langsam dafür.

Wie ich das künftig bei Verlagslesungen machen soll, wenn ich uns nicht alle ausbeuten will – keine Ahnung, wirklich absolut keine Ahnung. Ich bin in den letzten drei Jahren gegen alle gläsernen Wände und Decken der Indiekultur gestoßen. Unabhängigkeit im Kapitalismus? Das Paradox hätte mir gern etwas früher auffallen dürfen.

Ich glaube, wenn nicht extrem zügig eine staatliche Grundsicherung für demokratiestärkend arbeitende (aka nicht für Nazis!) unabhängige Verlage und dauerhafte Honorarbudgets für Lesungen von deren Autor*innen eingerichtet wird, verschwinden noch in diesem Jahr die allermeisten Indies für immer. Zumal erst neuerdings von vielen Unabhängigen, auch mir, gecheckt wird, dass es nicht selbstlos, sondern ruchlos antifeministisch ist, selbst gratis zu arbeiten und dadurch legitimiert auch andere gratis arbeiten zu lassen. »Unabhängig« und »unbezahlt« darf kein heimlich-unheimliches Synonym mehr sein, denn so gut kann »die Sache« im Kapitalismus gar nicht sein, als dass das richtig wäre.

Zwei eingelegte Erdbeeren in einem Beet

What happened

Tippfehler-TL, ein Verwicklungsroman

Mit 19: perfekte Rechtschreibung nach Kindheit mit einem gelesenen Buch pro Tag im Alter zwischen sieben und fünfzehn

Mit 20: Fall aus der Rechtschreibgrazie nach Öffnen des Dudens für erste Jobs als Lektorin, plötzlich muss jedes fünfte Wort nachgeschlagen werden: groß oder doch klein? Das verlernte Selbstverständliche scheint danach niemals mehr neu gelernt werden zu können, wtf.

Mit Internet: komplette Rechtschreibverwirrung, weil nun den ganzen Tag unterschiedliche Schreibweisen an den Augen vorbeiziehen, ein Alptraum für visuell veranlagte Lektor*innen; gefühlt jedes Wort muss nachgeschlagen werden. Lektorat macht so deutlich weniger Freude.

Mit den Jahren: Online ist mir ist nun alles egal. Tippfehler, pfff, ich entschuldige mich nicht mehr. In Verlagsbüchern erlaube ich mir aber weiterhin nur einen Fehler, bei mehreren kickt schlimmster Selbsthass. (Als ich anämisch war, übersah ich bei einem ganz wichtigen Buch mal ganz viele Fehler, ein echter Tiefpunkt meines Lebens.)

Mit Brille: Die Zahl meiner Tippfehler online ist gesunken, aber die Gleichgültigkeit bleibt. Ist auch besser so, denn im Internet habe ich gelernt, dass viele der besten Texte in deutscher Sprache von Menschen geschrieben werden, die zuerst eine andere Sprache lernten und deshalb kein tippfehlerfreies Deutsch schreiben.

Wenn ich gerade dabei bin: Kommt mal klar, ihr ganzen Gesellschaften zur Rettung der deutschen Sprache, ihr seid ähnlich unsympathisch wie dieser verlotterte Elternrat. Sprache, Bildung und Kultur finden heute auf Arten und Weisen statt, die ihr euch nicht vorstellen könnt. Seid bitte leise.

Präraffaelitische Girls erklären

Gemäldeausschnitt. Zwei/Drei kindliche Figuren, lange Haare, historisierende Kleidung, sitzen einander zugewandt mit Tee im Garten. Neben ihnen ein Mops. Hinzugefügter Text: »Vielleicht glauben Erwachsenen ja, mehr und größere Waldbrände, Überschwemmungen, Stürme und Dürren würden unter das fallen, was sie ›Wachstum‹ nennen …« »Meinst du, sie sind wirklich so naiv? Dann brauchen sie dringend Erziehungsberechtigte, die sie vor sich selbst schützen.«

Zurück zu den Erziehungsberechtigten, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis. 

XOXO,
FrauFrohmann

FrauFrohmanns neue Begriffe

ethisch altmodisch: Ethikverständnis einer noch nicht allzu lang zurückliegenden Ära, das jetzt besonders antiquiert anmutet, so wie das lila Kleid in der Saison, nachdem Lila modern war. Ja, das ist absichtlich frivol formuliert, weil es nervt, wenn so getan wird, als ob Ethik karg und streng sein müsste, sie ist, wenn sie Menschen frei und sicher und würdevoll leben lässt leicht und sanft und schön.

Früherwerk: Werk, das von Autor*in aktuell so nicht mehr veröffentlicht würde, vergleichbar namentlich benannten Schaffensperioden, aber weniger konkret

Cooles Zeitalter: noch nicht für alle abgeschlossene Phase, während der in popkulturellen Werken diskriminierende Gewalt im Gestus der Ironie Rezipierenden kalte Entmenschlichung plausibel machte

Jabber: Person, die bei längst geklärten Themen aus Dominanzgewohnheit notorisch »Ja, aber ...« sagt und damit anderen Menschen Lebenszeit stiehlt

Machti: Privilegierte Person, die auf ihrer strukturellen Macht beharrt, weil sie diese naturalisiert hat oder einfach zu vorteilhaft findet, um fair zu sein

Netzwissen: Mischung aus konkretem und intuitivem Wissen über globale Zusammenhänge, das vielfältig vernetzten und für den Flow sensiblen Individuen zugänglich ist; eine Art instantanes Universalwissen, das teils performativ erlangt wird, nicht auf Vollständigkeit zielt, ständig aktualisiert und immer im Werden ist

onder: kurz für »und/oder«

Relativierungskredit: kulturell eingeübte Gewohnheit, unabhängig von Fakten, immer das Beste von Mitgliedern bestimmte Dominanzgruppen anzunehmen

Resozialisierungskredit: kulturell eingeübte Gewohnheit, Mitgliedern bestimmter Dominanzgruppen unleugbare Straftaten und Ungerechtigkeiten nachzusehen und zu verzeihen

Nachtrag: Irgendwie kam hier zuhause gerade noch mal die Rede auf das fehlende deutsche Wort für: nicht mehr durstig/genug getrunken. Mein Mann schlägt »säuf« vor, ich finde das cute. Die Suchmaschine sagt, dass bei einem Wettbewerb 1999 »sitt« gewonnen habe. Das ist für Menschen mit ästhetischem Sinn keine Option, es heißt also ab jetzt »säuf«. Credits an Dittmar Frohmann.

Noch Wasser? Nein, danke, ich bin säuf.
Aua, ich habe zu viel Saft getrunken, ich bin so säuf.

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