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Folge 72

In dieser Folge und auch in den nächsten wird nicht mit den ohnehin eher scherzhaften, weil ziemlich beliebigen Rubriken »Etwas Altes«, »Etwas Neues«, »Etwas Geborgtes«, »Etwas Uncooles« gearbeitet, aber es wird reichlich Altes, Neues, Geborgtes und Uncooles vorkommen, versprochen. Was ihr komplett vergessen könnt, ist mein Vorsatz, dass der New Frohmanntic wieder allgemeiner und weniger persönlich wird. Mittlerweile ist mir klargeworden, dass so viel von dem, was ich erlebe, zwar nicht allgemein-, aber für viele Menschen gültig ist. Es zu beschreiben, kann diesen Vielen vielleicht etwas Anregung und Unterstützung sein, Repräsentation bieten, die ich selbst jeweils gern wahrgenommen hätte, um mich nicht so negativ singulär und allein zu fühlen. Aber dieser Frauen-, Familien-, Menschen-, Sozial-, Lebenskram, das ist ja nichts für die Literatur, das sind doch nur Befindlichkeiten, das ist keine Kunst, kleines, dummes Mädchen, junges Fräulein Frohmann.

Ich opfere jetzt also offiziell bis auf weiteres meine vielleicht letzte Chance, mich als große Denkerin zu entfalten und zu präsentieren und bleibe im Alltäglichen, Lebensnahen, denn wem will ich, wem muss ich noch etwas beweisen? Genau, keinem Menschen. Außerdem, da kann ich instant wieder auf Eingebildet-Modus umschalten, ist mein Leben und dessen Betrachtung selbst im Alleralltäglichsten interessanter, ästhetisch gelungener und demokratiestärkender als die komplette Publikationsliste eines typischen weißen cis Universitätsprofessors in meinem Alter.

Sehr empfindsame Leser*innen seien gewarnt, es werden im Folgenden teilweise drastische Szenen und Anblicke geschildert. Empfindsame New Frohmanntic-Leser*innen wissen aber, dass dies bei mir nie um des Effekts willen geschieht und inhaltlich unvermeidlich ist.

Es gibt so viele Romane, Erzählungen, Filme und Serien, in denen Menschen sich plötzlich und unvorbereitet in völlig anderen Lebenslagen wiederfinden, weil sie Schiffbruch erlitten haben, von einem Vampir gebissen wurden, versehentlich durch ein Zeitportal getreten sind, in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt wurden, eine Seuche ausgebrochen ist, jemand oder etwas die Kühlkette bei der Kryonisierung unterbrochen hat. Man ist dazu geneigt >>> ich bin dazu geneigt, diese Stoffe tendenziell attraktiv zu finden und ihren symbolischen, metaphorischen, allegorischen Gehalt zu erfassen, sie aber so richtig auf meine eigene Situation beziehen, nein, das tue ich erstaunlich selten. 

Dass genau dies sehr merkwürdig ist, fiel mir erstmals auf, als ich zu Beginn der Pandemie beim ersten virensicheren Fahrradausflug mit Ehemann an einer auto- und menschenleeren Berliner Schnellstraße stand und auf den elektronischen Anzeigetafeln, die sonst Stauhinweise kommunizieren, zum ersten Mal Coronaregelungen las. Extremer The Walking Dead-Vibe, aber ohne die dafür angemessenen Emotionen. Ich, die Person, die als frommes Kind jeden Abend betete: »Lieber Gott, lass mich nicht Pest, Lepra, Tollwut, Wundstarrkrampf bekommen.«, blieb inmitten einer REALEN dystopischen globalen Pandemiewelt komplett gefasst und gelassen. Diesen Moment habe ich mir sehr genau gemerkt, denn vorher war mir nicht klar gewesen, dass man >>> ich irrational ungerührt auf gefährliche Situationen reagieren kann. Gleiches beobachtet man, nicht nur ich, ja auch angesichts der Klimakatastrophe. Eigentlich müsste man >>> ich längst revoltieren, weil es ums Überleben geht. Das tue ich aber immer noch nicht, weil meine Angst nicht ausreicht. Ich habe mehr Angst vor Schlangen als vor der Klimakatastrophe, obwohl ich zweifelsfrei weiß, dass Letztere gefährlicher ist. Ich habe so einen Widersinn vorher noch nie an mir beobachtet.  

Darüber wollte ich gar nicht schreiben, aber wichtige Nebengedanken brauchen auch ihren Raum.

Blick zurück. Vor fast 30 Jahren, ich war gerade nach Berlin gezogen, ist mein Vater gestorben, an einem Blutsturz erstickt. Die Polizei brach die Tür auf und fand ihn. Seine Katzen waren ein paar Tage lang eingesperrt gewesen, was nicht alle überlebten. Auch domestizierte wilde Tiere sind noch wilde Tiere. Ich hatte, als ich die Todesnachricht bekam, meinen Vater schon ein paar Tage lang telefonisch nicht erreichen können. 

(Mein Text für Tausend Tode schreiben verarbeitet dies. Ich habe den Text vor einer Weile gebloggt, damit er nicht wie ein Finale des Projekts wirken kann.) 

Mein Vater war Messy gewesen, und ich verbrachte die vier Wochen nach der Beerdigung damit, ein mit Familiendingen und Müll vollgestopftes Haus aufzuräumen. Dies ließ ich mir von meiner Mutter, die schon das Betreten des Hauses überforderte, nicht ausreden, weil ich das klare Bewusstsein hatte, dass ich das für meinen Vater tun möchte. Mein Vater war sicherlich kein perfekter Mensch, aber zu mir immer wunderbar gewesen. Es gab einen bösen Onkel, der meinem Vater das Leben schwer gemacht hatte und den ich jetzt nicht in seinen Dingen rumwühlen lassen wollte. Dem Onkel gehörte ein Teil des Hauses; er war sich nicht zu fein, sich bedrohlich vor einer trauernden Zweiundzwanzigjährigen aufzubauen und »Zutritt zu seinem Eigentum« zu fordern. In den vier Wochen damals habe ich viele schlimme, viele schöne, viele groteske Momente erlebt, – aus der Rückschau war es absolut richtig, es getan zu haben, denn ich war danach zwar fast ein Jahr lang nicht sehr bei mir, aber habe es alles in allem gut verarbeitet und unzerbrochen weitergelebt. Ich habe damals eine Art Selbsttherapie entwickelt, die ich bestimmt nicht allen empfehlen kann, die aber bei mir mit meinen spezifischen Koordinaten gut funktioniert: eine Art superbrutaler Konfrontation. Ich sah mir im Haus alles ganz genau an – jetzt muss ich beim Schreiben doch sehr tief durchatmen –, damit ich es einordnen, aber ES mich nicht irgendwann durch die Hintertür einholen konnte. 

Hilfe wurde mir vielfach angeboten, aber ich nahm sie nur sehr eingeschränkt an, weil ich in meinem Abschiedskosmos so existenziell allein sein wollte, wie ich es gefühlt nun war. Lustigerweise half mir ausgerechnet mein allertüddeligster und manieristischster Kumpel von der Uni einen Tag lang mit dem schlimmsten, ekligsten Dreck. Die Familie meines Großcousins ließ mich bei sich wohnen, eine Freundin päppelte mich, als ich fertig war, seelisch wieder etwas auf, machte sehr schöne Fotos von meinem Trauer-Ich und fuhr mir mit dem Auto Sachen nach Berlin. 

In den folgenden Jahren terrorisierte ich meine arme Mutter mit der übertriebenen Sorge, dass sie nun auch noch zu früh sterben könnte, ich hätte ihr am liebsten jedes Glas Bier aus der Hand geschlagen – nicht metaphorisch gemeint. Aber das legte sich wieder. Genau wie die Flugangst, die ich damals entwickelte.

In der gemeinsamen Zeit mit meinem Vater, die nach einer kurzen Phase des Wohlstands von Schulden, an der Wohungstür klingelnden Gläubiger*innen, sogar Polizeibesuch und einer Gehaltspfändung – offiziell der schlimmste Moment im Leben meiner Mutter, die Chefsekretärin bei einer Bank war – hat meine Mutter eine massive Tendenz zur Nichterreichbarkeit entwickelt: Tür zu, höhlenartige Beleuchtung an, Klingel und Telefon ignorieren. Sie ist die Ur-Drinny. (Und ich bin ihr darin nicht unähnlich. Wie ich ist sie ebenfalls »Dr. Jekyll und Mrs. Hide«-Drinny und leuchtet, wenn sie erst mal draußen und in Gesellschaft ist, sehr hell auf. 

Meine Mutter ist mittlerweile 82 Jahre alt, das Bier hat sie also ganz gut vertragen. Aber sie, ihre Freundinnen und ich wussten immer, dass uns das mit ihrem Nichtanstelefongehen irgendwann einmal nicht nur auf die Nerven gehen, sondern um die Ohren fliegen würde. Hierfür würde ich die in Medien oft fälschlich für Femizide benutzte Bezeichnung Familientragödie tatsächlich veranschlagen. 

Am 13.11. hatte ich meine Mutter vier Tage lang nicht erreicht. Normalerweise ruft sie mich einigermaßen zeitig zurück, aber ich habe ja selbst oft das Telefon auf stumm gestellt. Die Pandemie hat mich wie viele andere in eine sehr merkwürdige Person mit gelegentlichen Angstattacken verwandelt. Am 13. mittags war ich in Sorge, aber noch nicht panisch. Weil man ja liebe Menschen in ihren Idiosynkrasien irgendwann auszuspielen lernt, textete ich an ihre beste Freundin L. und ihre Freundin S., die ihr einmal die Woche beim Saubermachen hilft. Wir haben die Nummern voneinander natürlich nur, weil wir selbst auf die Idee gekommen sind. Von S. bekam ich eine ziemlich panische Antwort, sie hätte schon eine Woche nichts von meiner Mutter gehört, sonst würde sie immer am gleichen Tag zurückrufen. Weil ich aber deutlich später noch mit ihr gesprochen hatte, entschied ich, die Antwort von L. abzuwarten, bevor ich die Polizei rufen würde. – Eine Ur-Drinny möchte unter keinen Umständen grundlos die Tür von der Feuerwehr zerhackt bekommen. – Ich fragte außerdem bei meiner Schwiegermutter nach, ob meine Mutter zum Geburtstag angerufen hätte. Nein. Zeitgleich Antwort von L.: Nein.

Ich rief nun in Berlin die Polizei an, die mich zur zentralen Leitstelle nach München verband, dann ging es sehr schnell: Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen. (Ich schimpfe gern auf die Polizei, aber in diesem Fall lief es tadellos: sachlich, respektvoll, unterstützend.)

Meine Mutter hatte drei Tage hilflos – sie denkt, es war noch länger, aber das kann nicht sein, sie wäre sonst verdurstet – neben dem Bett gelegen, die sehr alte und kranke Katze hatte vor Hunger und Angst schon begonnen, sie anzugreifen. Meine Mutter hatte geschrien, geklopft, Dinge in Richtung des Fensters geworfen. Kein Mensch reagierte. Sie hörte an jedem Tag morgens den direkten Nachbarn von zuhause weggehen und abends wiederkommen. Sie schrie. Er reagierte nicht. Die Person vom Pflegedienst, die einmal die Woche kommt, um die Medikamente in Tagesdöschen zu tun, klingelte vergeblich, ging weg und sprach aufs Band: »Ich habe Sie leider nicht angetroffen. Bitte rufen Sie umgehend zurück. Sonst bis nächste Woche.« 

wtf 

Meiner Mutter geht es mittlerweile wieder besser, sie ist immer noch im Krankenhaus. Ich bin seit dem 14. in München, besuche sie und bereite ihren Umzug ins betreute Wohnen vor, erst geht sie noch in die Reha. Sie will nicht mit nach Berlin, und glücklicherweise ist in der Institution, die sie sich für den Tag X ausgesucht hatte, gerade etwas frei; ich konnte dort sogar eine ziemlich hübsche Wohnung ergattern. Ein Baum/Strauch vor dem Balkon behält im Winter sein Laub und erzeugt so die beliebte Höhlenatmosphäre. 

Wieder erlebe ich in vier Wochen viele schlimme, viele schöne, viele groteske Momente, es gibt so viele Parallelen – dazu bald noch mehr –, aber, Leute, es ist so ein unfassbares Glück, dass sie lebt und noch bei mir ist. Meine Pandemiestumpfheit hatte sich vorher schon zu lösen begonnen, die Emotionen flossen wieder, aber was hier gerade abgeht, auch zwischen meiner Mutter und mir, das ist episch. 

Mir war schon klar, dass bestimmt Menschen aus dem Haus auftauchen und um Absolution bitten würden, und ich hatte mir eigentlich vorgenommen, kühl zu reagieren, damit sie vielleicht schuldbewusst beim nächsten Vorfall schneller reagieren und womöglich einen Femizid verhindern helfen. Scheißdeutsche Rücksichtnahme an der falschen Stelle. Nennt es lieber Bequemlichkeit und Feigheit. In Wirklichkeiten habe ich dann aber vorgestern eine mir fremde, weinende junge Frau in den Arm genommen, die sich nicht getraut hatte, am 12. zu klingeln, als die Katze so laut schrie, weil die L. doch gesagt hätte, dass meine Mutter nicht die Türe aufmachen würde. 

Als wir uns das erste Mal im Krankenhaus sahen, sagte meine Mutter selbstkritisch und richtig: »Ich habe mir das größtenteils selbst zuzuschreiben.« (Deshalb finde ich es tragisch.) Sie musste feierlich geloben, jetzt immer ans Telefon zu gehen: 

»Das bist du mir und uns schuldig.«
»Ja, ich weiß.«

Ich selbst habe mein Telefon schon seit ein paar Wochen immer auf Ton gestellt, weil es einer Freundin nicht so gut geht; ich glaube, ich lasse es jetzt so. Meine Noise-Cancelling-Kopfhörer werde ich nur noch zum Arbeiten aufsetzen und auch nur, wenn mein Sohn in der Badewanne zu lautem Deutschrap sein Leben genießt. Oder wenn ich Migräne habe. Aber nicht mehr als Haltung zur Welt. 

Meine Mutter ist noch da. Ich bin wieder da. Das Leben ist schön. Trotz allem.

Eine der letzten Sachen, die ich im Internet las, bevor ich in meinen neuen Lebensortierlimbus abtauchte, war, dass man Resilienz nicht feiern sollte, weil sie einen auch nur wieder von der Systemkritik abhält. Ja, stimmt schon, aber ich bin primär dankbar, dass sie mir ermöglicht, nicht zu zerbrechen. Es ist nicht immer alles Theorie, manchmal geht es schlicht ums Leben.

Bis nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis. 

XOXO,
FrauFrohmann

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