Folge 83
[Diese Folge hatte ich zwischenzeitlich versehentlich gelöscht, und im Schreck habe ich dann die nächste fälschlich Folge 85 genannt. Folge 83 konnte ich aus der Mailversendung rekonstruieren, aber Folge 84 wird für immer nur im Geisterreich lesbar sein.]
Etwas Altes: Läuse
Weil hier ja viele Eltern mitlesen, möchte ich euch, damit ihr euch nicht unnötig zusätzlich quält, etwas über Läuse erzählen. Spoiler: Das Wissen kann auch Menschen ohne Kinder nicht schaden.
Läuse existieren, auch und noch mehr, wenn man es mehrere Wochen lang leugnet und sich selbst etwas über trockene Kopfhaut erzählt.
Läuse zu bekommen, hat nichts mit Hygiene zu tun. Läuse wollen ganz einfach dein Blut oder das deiner Kinder. So wie Mücken.
Läuse sind sehr mächtig, sie sind quasi das Patriarchat in Insektenform.
Läuse sehen keine Farben, Klassen und Geschlechter, sie lieben alle Kopfhaare. (Zu anderen als Kopfläusen kann ich zum Glück nichts sagen.) Lange Haare werden besonders geliebt. – Warum sollten Läuse in eine Einzimmerwohnung ziehen, wenn es ohne Aufpreis eine Villa gibt.
Wenn du als Kind keine Läuse hattest, heißt das nicht, dass deine Kinder sie nicht bekommen könnten.
Wenn du als Kind keine Läuse hattest, heißt das nicht, dass du sie nicht als Erwachsene von Kindern bekommen könntest.
Wenn deine Kinder erwachsen sind, heißt das nicht, dass sie nicht Läuse von anderen Erwachsenen mit kleinen Geschwistern oder kleinen Kindern oder von deren kleinen Geschwistern oder kleinen Kindern bekommen könnten. Oder du nicht von deinen erwachsenen Kindern usw.
Wenn ein Mitglied deines Haushalts Läuse hat, brenne nicht im Schock euer Zuhause nieder. Konzentriere dich auf den befallen Kopf: die Elterngeneration Läuse mit einer Dosis Giftshampoo töten, danach jeden Tag die Haare mit Öl, Cremespülung oder einem random glitschigen Shampoo einschmieren und kämmen, kämmen, kämmen. Mit dem Läusekamm. (Es ist normal, dass schon das Aussprechen des Wortes »Läusekamm« einen Phantomjuckreiz auslöst.) Staubsaugen, Waschen, Einfrieren, Wegwerfen VON ALLEM macht man eher, um sich nicht hilflos zu fühlen, es stresst einen aber nur noch mehr, weil man mit nichts anderem mehr beschäftigt ist.
Mit Kämmen, kämmen, kämmen bekommt man nach und nach die Eier weg, so dass wenig oder nichts nachschlüpft. Vermutlich geht es auch ganz ohne Gift, nur mit täglichem Einglitschen und Kämmen. Wer den Kopf unter Kontrolle behält, gewinnt. (Deep.)
Es ist normal, sich beim ersten Mal Läuse 1. Ordnung voller Horror und Selbstekel locker ein Drittel der Haare auszukämmen. Bei erstverlausten Kindern bitte etwas mäßigen, es ist, sachlich betrachtet, unangemessen.
Es ist normal, dass du beim zweiten Mal Läuse 2. Ordnung an der Bushaltestelle kurz überlegst, ob du vor dir und der Welt so tust, als hättest du nichts krabbeln gesehen. Aber bitte belasse es beim Gedankenspiel und nimm das Kind wieder mit heim. Kontrolliere nach Möglichkeit auch deine flackernden Augen, sie wirken verstörend.
Die Zeit der Läuse ist zyklisch, so wie etwa Gartenarbeit und das Leben. Lieber damit rechnen, dass sie irgendwann wiederkommen. Positive Enttäuschung ist nicht nur im Marketing ein gutes Konzept.
Etwas Neues: Intergenerationales Foto-Re-Enactment
Beim Durchsehen und immer weiter Aussortieren der analogen Familienfotos bin ich auf etwas wirklich Verbüffendes gestoßen. Es gibt Bilder aus verschiedenen Generationen, die sich sehr gleichen, gerade so, als würde es eine Art Natur- oder, besser, Kulturgesetz geben, dass Menschen in einer bestimmten Lebensphase in Pose X, Konstellation Y und Kleidungsstück Z fotografiert werden müssen. So sehen sich in der Rückschau plötzlich sogar Familienmitglieder ähnlich, die sonst als einander unähnlich betrachtet werden. Hält man diese ähnlichen Bilder nebeneinander, verwischen beim Betrachten zeitliche und räumliche Grenzen. Ein Beispiel:
Das Bild links wurde 1941 in München aufgenommen, mitten im zweiten Weltkrieg und in einer Stadt, aus der bereits Jüdinnen und Juden deportiert wurden (Abre numa nova janela). Nichts davon ist in dem Bild zu spüren, man muss es bewusst dazusagen, um es nicht als ein vollkommen unschuldiges, cutes Privatbild wirken zu lassen.
Das Bild rechts wurde 1970 in Ober-Ursel aufgenommen, im selben Jahr, als in Berlin mit der Befreiung von Andreas Baader (Abre numa nova janela) die öffentliche Geschichte der RAF begann und nur ein paar Meter entfernt vom Wohnsitz des Bankiers Jürgen Ponto, der sieben Jahre später von der RAF ermordet wurde. Nichts davon ist in dem Bild zu spüren, man muss es bewusst dazusagen, um es nicht als ein vollkommen unschuldiges, cutes Privatbild wirken zu lassen.
Die Eltern des Kindes links hatten persönlich etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun, der Vater war Soldat bei der Marine, – vielleicht nahm er das Bild in Uniform beim Heimaturlaub auf. Die Eltern des Kindes rechts hatten einen Bezug zur RAF nur insofern, als sie, ohne groß zu mucken, in einem Staat lebten, der Nazis wieder in Machtpositionen gelangen ließ. Das ist auch nicht nichts. Aber darum geht es heute nicht.
Es geht darum, was diese Bilder jetzt lebenden Menschen verraten können. Die nebeneinandergehaltenen Bilder und die Wirkung, die sie haben, machen einem plausibel, wie Menschen überhaupt auf die Idee kommen können, das Private würde nichts mit dem Politischen zu tun haben. Das Private, vor allem in Gestalt der bürgerlichen, meist »blutsverwandten« Familie, sieht auf Fotos und in fotogestützten Erinnerungen so unpolitisch aus, weil jede Generation aufs neue diese Bilder absichtlich realitätsentrückt inszeniert: zeitlos, ortlos, ja, mythisch. Das Schottenkaromuster war ja nicht erst 1970, sondern bereits 1941 Retro. Daran ändert sich auch nichts, wenn man bevorzugt, es »klassisch« zu nennen.
Das ist jetzt ein bisschen arg thetisch und kurz, aber es ist auch ein neuer Gedanke,– vielleicht folgen noch weitere nach.
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»Vor einer Weile wurde mir bewusst, dass in einem Arbeiterumfeld aufzuwachsen, ein ästhetisches Verständnis fördert, das auf ganz natürlichem Wege zu idiosynkratischen, vielstimmigen und unverkennbar experimentellen Werken führt.«
Claire-Louise Bennett, »Vorwort« zu Ann Quinn, Passagen (Abre numa nova janela)
Etwas Unheimliches: Was ist unheimlich?
Vermutlich für eine ziemlich lange Zeit wird nun im New Frohmanntic als letzte Rubrik vor dem Rubriklosen und den PGExplaining die Beschreibung von einem unheimlichen Phänomen kommen, ab und zu werden auch unheimliche Persönlichkeiten vorgestellt. Klassische Unheimlichkeiten kommen ebenso zum Tragen wie ganz neue technologische, mediale, ästhetische und gesellschaftliche Ausprägungen.
Dabei erlebe ich persönlich das Gefühl des Unheimlichen gar nicht so häufig, zumindest nicht außerhalb von ästhetischen Darstellungen. Es interessiert mich aber schon sehr lange, literaturwissenschaftlich und philosophisch.
Meine Frage an euch: Was ist unheimlich? Schreibt mir bitte an christiane.frohmann@gmail.com (Abre numa nova janela), was euer persönliches Verständnis davon ist, listet auf, was ihr unheimlich findet und erzählt, was ihr selbst Unheimliches erlebt habt. Nutzt bitte vorher keine Suchmaschine, wir sind im New Frohmanntic weder in der Schule noch im Wettbewerb.
Eine Kleinigkeit bekommt ihr heute schon. Die Skulptur Il Commendatore von Anna Chromy (Abre numa nova janela) steht in Prag, und ich finde sie gelungen unheimlich.
Rubrikloses
Formulare für Personen, die nicht länger als 183 Tage in Deutschland leben ist auf einer Ebene ein Menüpunkt beim Online-Banking und auf einer anderen Ebene ein Kürzestgedicht.
Strukturell unheimlich, ohne emotional unheimlich zu sein, ist der Umstand, dass meine bei »Unheimlich« in der Wikipedia (Abre numa nova janela) verlinkte Seite dasunheimliche.com (Abre numa nova janela) noch existiert, aber nur als Abwesenheit. Ich hatte sie vor ziemlich vielen Jahren leergeräumt, um alles neuzumachen und dann ...
Muss ich wohl wirklich mal neu machen. Und dann?
Was liest du und was sagt das über dich?
Präraffaelitische Girls erklären Literatur
Zurück zur richtigen Literatur, zur Literatur der Richtigen; wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
XOXO,
FrauFrohmann
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