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Es gibt Dinge, die man einfach nicht wahrhaben will. Veränderungen, die so tiefgreifend sind, dass ihre Auswirkungen unsere Vorstellungskraft überschreiten.
Mir geht es jedes Mal so, wenn ich vom 1,5-Grad-Ziel höre. Denn es ist mittlerweile klar, dass wir es verfehlen werden.
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#34 #Klimaziele #Kipppunkte #Essay
1,5 Grad, es war schön mit dir!
Wir werden 1,5 Grad überschreiten – und damit mehrere Klima-Kipppunkte. Es wird Zeit, diese Realität zu akzeptieren. ~ 7 Minuten Lesezeit
Am 6. April kettete sich Peter Kalmus in Los Angeles an die Glastüren der Chase Bank. Kalmus ist Klimawissenschaftler bei der NASA. Seine Botschaft auf einem meterlangen, schwarzen Banner vor ihm: „1,5 °C ist tot!“. Wenige Minuten später werden er und einige seiner Laborkittel-tragenden Kolleg°innen in Handschellen von einer schwer bewaffneten Hundertschaft des L.A.P.D. abgeführt.
Dieses als tot deklarierte 1,5-Grad-Ziel ist der Elefant im Raum der Klimadebatte. Und wir müssen hier und jetzt über ihn reden. Sollte das 1,5-Grad-Ziel wirklich nicht mehr erreichbar sein, müssen wir uns dringend Gedanken um die Konsequenzen machen. Sowohl um die politischen als auch um die physikalischen.
NASA-Klimawissenschaftler Peter Kalmus wird vor einer Filiale der Chase Bank in Los Angeles verhaftet. 📸: Screenshot Youtube (Abre numa nova janela)
Ist 1,5 Grad wirklich tot?
1,5 Grad ist kein beliebiges Klimaziel, um bei Industrienationen unnötigen, transformativen Stress auszulösen. Es wurde im Pariser Klimaabkommen festgelegt, um zu vermeiden, dass Kipppunkt-Elemente in den Erdsystemen irreversibel überschritten werden.
Um 1,5 Grad noch einzuhalten, existiert laut aktuellem IPCC-Bericht nur noch eine theoretische Restchance. Drei Dinge müssen dafür gegeben sein: Die weltweiten Emissionen müssen in spätestens zwei Jahren ihren Höchststand erreichen und bis 2030 sogar halbiert werden. Weil das allein nicht genügt, muss zusätzlich CO₂ in großem Stil wieder aus der Luft gefiltert werden – mit bisher noch nicht marktreifen „Carbon Capture and Storage“-Technologien.
Die hellblaue, nicht mehr realisierbbare CO₂-Kurve entspricht 1,5 Grad Erderhitzung. Die Details stehen ab Seite 12 in der Zusammenfassung des IPCC-Berichts (WG I) (Abre numa nova janela) .
Um 1,5 Grad einzuhalten, brauchen wir ein Wunder. Auch wenn alle drei Bedingungen physikalisch noch möglich sind, den politischen und wirtschaftlichen Realitätstest bestehen sie nicht. Die Präsidenten Russlands, Chinas, Indiens, Brasiliens und der USA müssten sich heute weinend in die Arme fallen, eine sofortige Dekarbonisierung ihrer Nationen unterzeichnen und diese gegen alle nationalen Widerstände durchsetzen.
Dieses Wunder wird aus verschiedenen machtpolitischen und wirtschaftlichen Gründen nicht passieren. Wir werden die Sicherheitszone der Erdsysteme also mit Sicherheit verlassen. Peter Kalmus hat recht: 1,5 Grad ist tot.
Wir betreten einen planetaren Hochrisikobereich
Die Konsequenzen sind keine ferne Zukunftsmusik. Wir werden eine Erderhitzung von 1,5 Grad schon in den 2030er-Jahren erreichen, selbst wenn die Staaten ihre aktuellen (zu niedrigen) Klimaziele einhalten. Hitzesommer, Sturmfluten, Waldbrände und Ernteausfälle werden noch häufiger und extremer als heute schon.
Warum es jedoch so unglaublich wichtig gewesen wäre, 1,5 Grad (und nicht lediglich 2 Grad) einzuhalten: Vier essentielle Kipppunkt-Elemente der Erdsysteme werden nun sehr wahrscheinlich überschritten. Eine aktuelle Studie (Abre numa nova janela) zeigt, dass 1,5 Grad nicht nur die kritische Schwelle für Korallenriffe, sondern auch für das Grönland-Eisschild, das Westantarktische Eisschild und die borealen Permafrostböden ist. Ihr unaufhaltsames Abschmelzen ist nun besiegelt – selbst ohne weiteres menschliches Zutun.
Klima-Kipppunkte: Vier davon werden höchst wahrscheinlich schon bei 1,5 Grad überschritten. 📈: Armstrong McKay et al. (Abre numa nova janela)
Noch dazu entsteht ein Teufelskreis: Die schrumpfende Eisfläche reflektiert immer weniger Sonnenstrahlung zurück ins All, sodass sich die Erde weiter erhitzt, wodurch das Eis noch schneller schmilzt. Auch das freiwerdende Methan aus den Permafrostböden heizt das Klima weiter auf, was wiederum zu noch mehr Methanausstoß führt.
Unter anderem führt dieser Teufelskreis zu so stark ansteigenden Meeresspiegeln, dass eine akute Lebensgefahr für Menschen in Küstennähe besteht, zum Beispiel durch zunehmende Sturmfluten. Einige Pazifikstaaten werden für immer vom Atlas verschwinden. Und wir sind die letzten Menschen, die lebende Korallenriffe mit eigenen Augen sehen werden.
Auch wenn diese Entwicklungen noch Jahrzehnte brauchen – sie sind unaufhaltsam. Vor allem aber bedeuten sie, dass sich die Klimaerhitzung verselbstständigen wird. Keine Technologie dieser Welt kann etwas daran ändern.
All das ist kein Worst-Case-Szenario, sondern die wahrscheinlichste Zukunft, die uns bevorsteht.
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Physikalische Realität vs. politische Fiktion
Noch vor wenigen Tagen wandte sich Olaf Scholz bei der UN-Generalversammlung an die Staatengemeinschaft. Seine Botschaft: Mit Deutschland an der Spitze soll das 1,5-Grad-Ziel erreicht werden. Und im Koalitionsvertrag steht wörtlich: „Wir schaffen ein Regelwerk, das den Weg frei macht für Innovationen und Maßnahmen, um Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen.“ Wie passen diese politische Kommunikation und die physikalische Realität zusammen?
Gar nicht. Wer als Politiker°in oder Vorstandsvorsitzende°r weiterhin vom „Einhalten des 1,5-Grad-Pfads durch ambitionierte Klimaziele“ spricht, führt die Menschen entweder bewusst in die Irre oder weiß es nicht besser. Was davon schlimmer wäre, kann jede°r für sich selbst entscheiden.
Und genau das ist der springende Punkt: Die 1,5-Grad-Ziel-Rhetorik muss aus medialen und politischen Debatten verschwinden. Wie sonst soll die Öffentlichkeit die Dringlichkeit von Klimaneutralität begreifen?
Und jetzt?
Im Pariser Klimaabkommen heißt es, dass der globale Temperaturanstieg auf möglichst 1,5 Grad begrenzt werden soll. Da dies nicht mehr möglich ist, lautet der Umkehrschluss: Das Pariser Klimaabkommen ist teilgescheitert. Ist das keinen Aufschrei wert?
Man könnte als Konsequenz ein neues, noch erreichbares Ziel in den Fokus rücken. Naheliegend wäre das 2-Grad-Ziel, die zweitbekannteste Zahl im Klima-Kontext. Noch „näherliegend“ wären 1,6 Grad (oder sogar 1,51). Ein wichtiger Grund spricht dagegen: Ein höheres, aber noch erreichbares Grad-Ziel würde auch ein höheres CO₂-Restbudget bedeuten. Dieses würde Staaten und Unternehmen wiederum dazu verleiten, noch ambitionsloser zu handeln. Abgesehen davon: An welcher Stelle würde man aufhören, einfach die Ziele hochzusetzen, statt mit ernsthaften Maßnahmen zu beginnen?
Extreme Hitzewellen, die eigentlich nur alle 50 Jahre vorkommen, passieren bei 1,5 Grad alle sechs Jahre und sind noch heißer. 📸: IPCC-Bericht (WG I) (Abre numa nova janela)
Statt ein neues Ziel zu formulieren, sollten wir endlich aufhören, überhaupt von „Klimazielen“ zu sprechen. 1,5 Grad Erderhitzung ist kein Ziel. Es ist die physikalische Obergrenze für den sicheren Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Alles darüber ist ein dunkelroter Hochrisikobereich, den die Menschheit niemals hätte betreten dürfen. Ab jetzt laufen wir für immer durch ein planetares Minenfeld, in dem uns Kipppunkte links und rechts in Zeitlupe um die Ohren fliegen.
Wer heute noch von Klimazielen redet, meint damit zwangsläufig Bevölkerungsschutz – oder im Fall von Bangladesch, den Pazifikstaaten und halb Afrika: Überleben. Klimaschutz bedeutet ab jetzt: Katastrophenprävention, Ernährungssicherheit und Friedensstiftung.
Genau jetzt, inmitten des fossilen Krisenstapels, wäre der richtige Zeitpunkt für Scholz, Macron, Biden und Co., sich an ihre Bevölkerungen zu wenden und den nationalen Klimanotstand auszurufen, samt großangelegten Informationskampagnen und Sofortprogrammen. Der Bundeskanzler hätte, als er vor Kurzem vor der UN stand, genau wie Peter Kalmus verkünden müssen: „1,5 Grad ist tot“.
Die Botschaft wäre ein Wake-up-Call. Ein schrill klingelnder Wecker – für die Politik, für die Medien und für Stammtischgespräche. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis uns die Realität, dass 1,5 Grad nicht mehr erreichbar sind, einholt. Je früher wir uns trauen, sie anzuerkennen, desto besser.
Dass vier Kipppunkte aller Voraussicht nach überschritten werden, ist in sich schon katastrophal. Es existieren aber noch mindestens zwölf weitere. Damit sie uns nicht auch noch um die Ohren fliegen, kann die einzige Schlussfolgerung nur heißen: ab sofort und überall so schnell es geht klimaneutral werden. Jedes Zehntelgrad zählt!
Die Erkenntnis, dass 1,5 Grad tot ist, wird die Menschen nicht dauerhaft entmutigen – ganz im Gegenteil. Sie führt im besten Fall zu so viel Druck auf die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger°innen, dass sie sich nicht mehr hinter dem „Wird-schon“-Narrativ verstecken können und endlich anfangen so zu handeln, als stünden unsere Lebensgrundlagen auf dem Spiel. Denn das tun sie.
Wir freuen uns sehr, dass Dir unser Planet anscheinend genauso am Herzen liegt wie uns. Wenn Du kannst, supporte unsere Arbeit mit einem kleinen monatlichen Beitrag. Vielen Dank!
Wenn Du nach diesem Text ein paar motivierende Worte brauchst: Für unsere Ausgabe #33 haben wir mit Luisa Neubauer über ihre Sicht auf die Welt als Klimaaktivistin gesprochen. Hier (Abre numa nova janela) kannst Du das Interview in voller Länge lesen.
Zum Schluss noch eine Bitte
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Die nächste Ausgabe der Treibhauspost bekommst Du wieder in genau zwei Wochen.
Schönes Wochenende
Julien
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