Mit einem uralten Baum in das neue Jahr
Diese Eiche ist wohl Deutschlands ältester Baum. Sie hat in ihren schätzungsweise 900 Lebensjahren schon allerhand Jahreswechsel erlebt.
Als man sie pflanzte, regierte Heinrich V. und Hildegard von Bingen schrieb wohl ihr bedeutendstes Buch „Wisse die Wege“ (Liber scivias). Es war die Zeit der Ritter und Kreuzzüge. Eines der heftigsten Erdbeben in der Geschichte erschütterte die Welt: Im Jahr 1139 forderte das Beben von Ganja (im heutigen Aserbaidschan) schätzungsweise 250.000 Menschenleben.
Die Stiel-Eiche (Quercus robur) im Dorf Erle bei Raesfeld, Kreis Borken im Westmünsterland, rund 3500 Kilometer entfernt, wird von diesen Erschütterungen nichts mitbekommen haben. Auch der Pest-Ausbruch in den Jahren 1348 und 49 konnte ihr als Baum natürlich nichts anhaben, ebenso der 30-jährige Krieg und die Weltkriege, die der Baum unbeschadet überstand. Zu kämpfen hatte die Eiche über die Jahre allerdings mit Stürmen, Blitzeinschlägen und Pilzbefall. Nur weil sich der Baum an den Wechsel von Umweltbedingungen anpassen konnte, überlebte er.
Die Münsterländer Eiche ist ein ganz besonderer Baum. Sie ist mit schätzungsweise 900 Jahren vermutlich der älteste Baum Deutschlands. So genau sagen kann da keiner, weil das älteste Holz im Inneren des Stammes fehlt und keine präzise Zählung der Jahresringe möglich ist. Mit einem Stammumfang von 12,45 Metern ist die Erler Eiche außerdem wohl auch die dickste Eiche in Deutschland.
Europas ältester Gerichtsbaum
Der Baum wurde gepflanzt an einer Stelle, wo sich einst eine Thingstätte befand: Germanenstämme hielten dort Volks- und Gerichtsversammlungen ab. Im Mittelalter fanden sogenannte Femegerichte unter dieser Eiche statt. Die „Femeiche“ in Erle ist vermutlich der älteste Gerichtsbaum in Europa: Femegerichte hielt man häufig unter freiem Himmel ab, unter Bäumen oder im Wald. Wie viele Menschen unter der Münsterländer Eiche „verfemt“, wie viele Urteile unter ihr ausgesprochen und per Strick womöglich direkt vollstreckt wurden, ist nicht überliefert.
Dank der Nähe zur Dorfkirche berichten die Pfarrer der Gemeinde seit 1750 in der Kirchenchronik über den Baum. Im 16. oder 17. Jahrhundert brach die Hauptkrone vermutlich heraus. Wasser konnte eindringen, Pilze ebenso, im Stamminneren entstand ein Hohlraum.
Der Rückzug der Krone ist ein typisches Anpassungsverhalten von Bäumen, die sehr alt werden können. Zur Überlebensstrategie von langlebigen Eichen, Linden, Eiben und Linden gehört, dass sie eine niedrigere Zweitkrone aufbauen, wodurch sich die Transportwege im Inneren des Baumes – Wasser und Nährstoffe von den Wurzeln in die Blätter, das Photosynthesesprodukt Zucker von den Blättern in die Wurzeln – verkürzen.
Im Jahr 1750 war der Stamm vermutlich noch relativ intakt. Die Legende sagt, dass sich zunächst nur Kinder in den Spalt des Stammes quetschen konnten, um die Eier herauszuholen, die die Enten des Pastors dort hineingelegt hatten. Schließlich entfernte man das morsche Herz im Inneren und ein großer Hohlraum entstand, in den laut Berichten 36 Soldaten hineinpassten:
1819 nahm der Kronprinz von Preußen mit seinem Gefolge unter der Eiche eine Mahlzeit ein: „So war es der Wunsch des Kronprinzen, am Abschluss des Mittagsmahls herauszufinden, wie viele feldmarschmäßig ausgerüstete Soldaten in der nunmehr ausgehöhlten Eiche Platz finden würden… Es passten 36 Infanteristen mit samt ihrer Waffen in den Baum!“, ist in der Pfarrchronik nachzulesen.
Uralt-Bäume in Würde altern lassen
Heute verhindern 10 Stützbalken, dass der Baum auseinanderbricht. Seit dem 31. Oktober 2021 ist die Femeiche in Erle ein Nationalerbe-Baum. Dadurch ist gesichert, dass dem einmaligen Baumveteranen die Pflege zukommt, die er verdient. Der Forstwissenschaftler Andreas Roloff von der TU Dresden hat zusammen mit der Dendrologischen Gesellschaft die Initiative „Nationalerbe-Bäume“ (Abre numa nova janela) ins Leben gerufen. Finanziert wird die Aktion, die im wesentlichen Pflege- und Sicherungsmaßnahmen beinhaltet, von der Eva Mayr-Stihl-Stiftung. Insgesamt sollen 100 Bäume in Deutschland ausgewählt und ihnen die gebührende Aufmerksamkeit und notwendige Pflege ermöglicht werden.
Wer einen dieser Bäume pflanzt, glaubt an die Zukunft, denn den ausgewachsenen Baum werden erst die Urururenkel erleben. (Andreas Roloff)
In Deutschland sind sehr alte Bäume selten. Meist fielen sie der Beseitigung durch den Menschen zum Opfer. Oder Schädlinge, Krankheiten, extreme Witterung sowie eine falsche Baumpflege sorgten für das Aus. Roloff will das ändern und den Bäumen ein würdevolles Altern ermöglichen. „Was für eine Skulptur von Lebewesen, was für ein uraltes Geschöpf, welch aufregende Gestalt! Ehrfürchtig steht man davor und betrachtet sie, die Erler Femeiche“, schreibt Roloff. (Abre numa nova janela)
Wieviel Zeit der Eiche noch bleibt, weiß auch der Fachmann nicht. Für Eichen gilt, was wir sonst in abgewandelter Form und anderen zeitlichen Dimensionen für den Schnupfen kennen. Aus „Drei Tage kommt er, drei Tage steht er, drei Tage geht er“ wird „300 Jahre kommt er, 300 Jahre steht er, 300 Jahre geht er“. Jede Phase könne auch 400 Jahre dauern, so Roloff.
Es bleibt also noch Zeit für einen Besuch in Erle, um den Baumveteranen leibhaftig anzuschauen. Eine Begegnung mit den uralten Bäumen, diesen Langzeitüberlebenden, „mentalen Ankerpunkten“, wie Roloff es ausdrückt, tut gut.
Infos, Karten, Informationen über alle bisher ernannten 43 Nationalerbe-Bäume gibt es HIER (Abre numa nova janela). Darunter eine 600 Jahre alte Esskastanie in Aachen, eine 800 Jahre alte Sommerlinde im sächsischen Schmorsdorf und eine 700-jährige Eibe in Flintbek, Schleswig-Holstein. Besuche dieser uralten Begleiter machen sicher in jeder Jahreszeit Sinn.
Nichts ist für mich mehr Abbild der Welt und des Lebens als der Baum. Vor ihm würde ich täglich nachdenken, vor ihm und über ihn. (Christian Morgenstern)
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