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Wie auch DIE LINKE zum Erfolg der AfD beiträgt

Hier kannst du dir den Text von mir vorlesen lassen:

Die CDU gewinnt die Europawahl (30%) und die höchsten Zugewinne gehen an die AfD (4,9% auf 15,9%) und das Bündnis Sahra Wagenknecht (0% auf 6,2%). Ein schwacher Trost, dass Umfragen die AfD zu Jahresbeginn bei 24% sahen und die diversen kleinen und großen Skandale der Partei wohl dazu beigetragen haben, dass sie nicht ganz so stark abschließen konnte. Aber rund 16% für eine rechtsradikale Partei – das reicht, um endlich eine Aufruhr bei denen zu erzeugen, die sich bisher nicht vorstellen konnten oder mochten, dass die Deutschen tatsächlich noch einmal auf diese Abwege geraten könnten. Im post-nationalsozialistisch geglaubten Land eine antidemokratische und rassistische Partei zu etablieren, das würden sie doch ganz sicher nicht zulassen, die Deutschen. Nie wieder!

Aber sie haben es zugelassen. Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit, oder noch schlimmer: “Meinungsvielfalt” haben wir die Vertreter*innen der AfD in die Talkshows eingeladen, Dokus über sie gedreht, von ihren Parteitagen berichtet und Nazi Höcke ins Sommerinterview eingeladen. Niemand hat gesagt: “Mit dir rede ich nicht, Rassismus ist keine Meinung und deine Ideologie ist menschenfeindlich.” Jetzt sind sie wirklich in jedem Raum und werden Politik machen.

Was ist passiert? Warum wählen Leute diese Partei, was bewegt und motiviert sie? Den zahlreichen Antwortversuchen auf den unterschiedlichsten Kanälen, auch meiner Medienschelte, füge ich heute einen weiteren hinzu, den ich so bisher noch nicht gelesen habe. Zu “radikal”, vermutlich. Dabei sind viele schon auf der richtigen Spur. Es ist ja mittlerweile fast eine Binsenweisheit, dass rechte Strömungen immer dann erstarken, wenn es wirtschaftlich gerade nicht so rund läuft, und dass die Leute, die rechts wählen, große Abstiegsängste haben. In den letzten Tagen lese ich ich auch immer mehr Takes à la “Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit!” No shit, sherlock. Aber DIE LINKE wählen, die diesen Punkt als einzige Partei ernsthaft verfolgt, will irgendwie auch niemand, oder? Genau das ist symptomatisch, aber darauf komme ich noch.

Ich schlage nun einen Bogen von Adorno, der hier das letzte Mal bereits mit der autoritären Persönlichkeit präsent war, über die Kapitalismus-Faschismus-Analyse seines Kollegen Horkheimer, bis hin zu einigen Erkenntnisse aus der Studie “Triggerpunkte”, die in ihrer Kombination wertvolle Schlüsse bereithalten.

What would Adorno say?

Also, Adorno. Throwback ins Jahr 1967. Deutschland steckte gerade in der Rezession und Adorno hielt in Wien einen Vortrag über die Frage, warum sich 22 Jahre nach dem Krieg in Deutschland ein „neuer Rechtsradikalismus“ ausbreitete (Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag, Suhrkamp 2019). Die 1964 gegründete NPD hatte sich nämlich von einer konservativ-nationalistischen zu einer rechtsradikal-faschistischen Partei entwickelt und es geschafft, in diverse westdeutsche Landesparlamente einzuziehen. In seinem Vortrag nannte Adornp als Voraussetzungen für einen Aufschwung rechtsradikaler Gruppen “die ‘Konzentrationstendenz des Kapitals’, die Vernichtung mittelständischer Betriebe zugunsten global agierender Konzerne und die immer weiter auseinander driftende Schere zwischen Arm und Reich” (DLF 2020 (Abre numa nova janela)).

Und das hängt so zusammen: Die kapitalistische Wirtschaftsweise resultiert in einer Gesellschaft, die aus verschiedenen Einkommensschichten oder -millieus besteht. In einer Krise machen sich diejenigen am meisten Sorgen, die zu den untersten Schichten gehören. Zu Recht, denn von steigenden Preisen, ob für Lebensmittel, Miete oder Heizkosten, sind sie besonders stark betroffen, weil sie einen höheren Anteil ihres Einkommens dafür ausgeben. Die Spielräume sind enger. Menschen mit mehr Einkommen können in einer Krise vielleicht nur noch einmal statt zweimal im Jahr in den Urlaub fahren oder müssen ihre Ferienwohnung verkaufen. Es dauert aber wesentlich länger, bis es ans Eingemachte geht und Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können. Menschen in den am stärksten gefährdeten Schichten sind, Adorno zufolge, in ihrer Abstiegsangst anfällig für ideologische Manipulationen und/oder rassistische und antisemitische Vorurteile. Wer die Schuld an der Misere lautstark bei “anderen” verortet, stößt auf offene Ohren. Populistische Erklärungsangebote werden gehört, denn die Erklärungsangebote der anderen Parteien klingen verdächtig nach schlechten Ausreden: Da heißt es dann, dass “das alles ja nicht so einfach sei”, oder “dass eine Krise eben Abstriche bedeuten würde”, usw. Ich finde es gut nachvollziehbar, dass Menschen bei solchen Aussagen dicht machen. Man braucht und will schließlich nicht viel, aber das bisschen, das man hat, nicht zu verlieren ist doch wohl nicht zu viel verlangt, oder? Was soll daran so kompliziert sein in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt?

Und Horkheimer?

Horkheimer war einige Jahre zuvor noch einen Schritt weiter gegangen: Für ihn schufen die kapitalistischen Krisenphänomene überhaupt erst die Grundlage für die Entstehung autoritärer Bewegungen, die einfache Lösungen und eine Rückkehr zur Ordnung versprachen. , „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“, sagte bzw. schrieb er 1939 im Exil. Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus ist aus seiner Sicht der Grund dafür, dass Menschen überhaupt in eine Situation geraten, in der es ihnen so schlecht geht, dass sie einen Sündenbock brauchen. Die Heilsversprechen erfüllen dabei die Funktion der Stabilisierung des Grundsystems. Horkheimer sah den Faschismus als eine repressive Reaktion der herrschenden Klassen, die darauf abzielte, die bestehenden Machtverhältnisse zu sichern und potentiell aufkommende soziale Unruhen und revolutionäre Bewegungen zu unterdrücken. Durch die Schaffung von Sündenböcken und die Verbreitung nationalistischer und rassistischer Ideologien gelingt es faschistischen Bewegungen, die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Ursachen der sozialen und wirtschaftlichen Probleme abzulenken.

Faschismus war für Horkheimer also kein historischer Unfall oder eine irrationale Abweichung, sondern eine systematische Antwort auf die inneren Widersprüche des Kapitalismus.

Später würde Adorno ergänzen, dass die autoritäre Erziehung zur Entwicklung solcher Persönlichkeiten beitrüge, die in der Krisenzeit der populistischen Angstmacherei des Faschismus schneller auf den Leim gehen würden (siehe auch mein letzter Text, Je härter die Kindheit, desto härter die Politik).

So weit, so gut. Ganz reicht mir diese Erklärung aber noch nicht. Die Belege für den Zusammenhang von harter Kindheit und harter Politik sind zweifelsohne valide. Aber warum muss sich diese harte Politik immer gegen eine andere Gruppe von Menschen richten? Warum führt der Abschwung nie dazu, dass man gegen das eigene System kämpft, sondern immer gegen einen erfundenen Feind? Wieso genau ist es so viel leichter, sich ideologisch manipulieren zu lassen als zu erkennen, dass die Krisen des Wirtschaftssystems immer auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen werden?

Einsatz Mau, Lux und Westheuser

Eine Antwort auf diese Fragen habe ich Ende letzten Jahres gefunden, als ich das Buch “Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft” (Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser, Suhrkamp 2023) las. In ihrer Analyse (das ganze Buch ist quasi die Auswertung einer riesigen Studie) stellten die Autoren fest, dass die angebliche Spaltung der heutigen Gesellschaft bei weitem nicht so stark ist wie es in den Medien häufig klingt. Im Gegenteil sind sich die Deutschen über alle Schichten hinweg bei vielen Themen recht einig. Zum Beispiel darüber, dass die wachsende Schere zwischen Arm und Reich eines der wichtigsten Probleme der Gegenwart ist. Das übersetzt sich aber, wie nun wieder offensichtlich wurde, nicht in Stimmen für die Partei, die genau diesen programmatischen Schwerpunkt setzt, sondern in Stimmen für rechtskonservative Parteien mit Anschluss an ganz Rechts. Die Ursache wird im Außen gesucht, nicht im Innen.

Die Autoren ziehen aus den Fokusgruppengespräche der Studie drei Gründe dafür.

Erstens: Der tief verankerte Glaube der Deutschen daran, dass unser Verteilungssystem nach (vermeintlicher) Leistung funktioniert und fair ist. “Meritokratie” ist der Fachbegriff für so ein System. Meritokratie ist ein Gesellschaftsmodell, in dem individuelle Leistungen und Fähigkeiten die Grundlage für sozialen Status und Zugang zu Ressourcen und Positionen bilden. Im Gegensatz zu anderen Systemen, bei denen Faktoren wie Herkunft, Reichtum oder politische Verbindungen entscheidend sind, sollen in einer Meritokratie die besten und qualifiziertesten Personen durch Bildung, Talent und harte Arbeit aufsteigen und Führungspositionen einnehmen. Dass das so richtig ist und funktioniert, ist der größte gemeinsame Nenner der Deutschen. Meritokratie ist die nationale Alltagsreligion, die uns spätestens ab der ersten Klasse vermittelt und so gut wie nie angezweifelt wird.

Der zweite Grund, kaum trennbar mit der Meritokratie verknüpft, ist der Glaube an die soziale Mobilität. Vom Tellerwäscher zum Millionär – der amerikanische Traum ist auch ein Traum der Deutschen geworden. Betont und installiert in der Wirtschaftswunderzeit der 1950er, hält sich der Mythos, dass jede*r es schaffen kann, bis heute ungebrochen. Die sozialen Medien sind voll von diesen Geschichten - freilich selten ohne passendes Konsumangebot. «Gestern noch im Auto geschlafen, heute schon im Privatjet auf dem Weg in den Urlaub – ich zeige dir, wie auch du das schaffen kannst! Buche hier mein Mindset-Coaching für 499 Euro!» «Letztes Jahr alleinerziehend und depressiv, heute reich und glücklich wie nie – mit diesem digitalen Produkt wirst auch du endlich erfolgreich. Hier kaufen, heute nur 69 statt 129 Euro!»

Es spielt keine Rolle, dass sozialwissenschaftliche Forschung immer wieder belegt, dass solche Aufstiege extrem selten und Dynamiken der intergenerationalen Weitergabe von Armut bzw. Reichtum kaum veränderlich sind. Die meisten Menschen sind sich trotzdem sicher: Auch ich kann es noch schaffen.

Ich kann das gut verstehen, denn dieser Glaube gibt Hoffnung. Hoffnung verleiht Energie und Antrieb, um auch in schwierigen Zeiten weiterzumachen. Ohne Hoffnung keine Ziele und keine Strategien, um diese zu erreichen. Hoffnung hilft, mit Stress, Angst und Depression umzugehen. Was täten wir ohne Hoffnung? Dann würden wir ja aufgeben!

Aber Moment mal. Ist das nicht irgendwie das Ziel? Trägt nicht die Hoffnung auf die Erfüllung der Verheißungen harter Arbeit und die Möglichkeit des Aufstiegs elementar dazu bei, dass wir in diesem System immer weiter machen und eben nicht darauf gucken, was darin schiefläuft?

Um es kurz zu machen: Ja. Meritokratie und der Mythos der sozialen Mobilität haben einzig und allein die Funktion, die Hoffnung zu generieren, die Leute bei der Stange hält und dazu bewegt, einem ausbeuterischen und undurchlässigen Wirtschafts- und Verteilungssystem weiter die eigene Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Hätten wir alles, was wir für ein selbstbestimmtes Leben bräuchten – ausreichend Wohnraum, Lebensmittel, Gesundheitsversorgung, Freizeit und Beziehungen – könnten wir locker auf einen Großteil unserer Aufstiegsphantasien verzichten. Keine Hoffnung auf finanziellen Aufstieg zu haben, müsste nichts Schlechtes sein, wenn die Lage an und für sich okay wäre. Ist sie aber nicht. Und sowieso - genug gibt’s nicht, mehr geht doch immer, und schon sind wir mittendrin in dem schönsten kapitalistischen Teufelskreis von künstlich erzeugtem Mangel.

Die Aufstiegsoption durch Arbeit erfüllt noch eine weitere Funktion, und das ist der dritte Grund dafür, dass Menschen lieber woanders als im System nach Schuldigen suchen. Wenn wir daran glauben, dass man nur hart genug ranklotzen muss, um reich zu werden und zu denen zu gehören, die auch mal nicht arbeiten müssen, impliziert das zugleich, dass diejenigen, die nichts oder zu wenig haben, nicht fleißig und aufopfernd genug sind. So jemand ist in diesem Kosmos also selbst Schuld an seiner finanziellen Armut und verliert damit jegliche Ansprüche auf Unterstützung oder gar Solidarität. Faulheit ist die Todsünde der Meritokratie.

Wer finanziell arm ist, wird sich daher alle Mühe geben, die Armut zu verbergen. Auch vor sich selbst: “So schlecht geht es mir ja gar nicht.” “Immerhin habe ich Nudeln mit Margarine zu essen und nicht gar nichts.” “Ich brauche ja auch nicht viel.” “Anderen geht es viel schlechter.” Die meritokratische Ideologie erschafft einen Kontext, in dem es so verpönt ist zu der untersten Schicht der Gesellschaft zu gehören, dass die Grenze immer weiter verschoben wird, um nur ja nicht selbst Teil dieser Gruppe zu sein und sich mit denen identifizieren zu müssen, von denen alle – besonders prominent die FDP – sagen, dass sie in Wirklichkeit nur zu faul sind.

Und hier kommt der Twist zurück zum Wahlergebnis: Es ist natürlich extrem unbefriedigend, auf keinen Fall zu den Verlierer*innen und Nichtaufsteiger*innen gehören zu dürfen und zugleich überdeutlich zu spüren, dass man de facto finanziell abgehängt ist. Das ist der Moment, in dem ein Sündenbock her muss. Und zwar einer, der Meritokratie und soziale Mobilität nicht infrage stellt, da a) die eigene Lage auf keinen Fall mit mangelnder Anstrengung oder Mühe assoziiert werden darf und b) die Aufstiegsoption durch harte Arbeit in unserer Volksreligion die einzige bekannte Hoffnungsquelle ist. Keine Chance auf einen Aufstieg zu haben kommt nicht infrage, denn so wie es ist kann es doch nun wirklich nicht bleiben! Und irgendwie “verdient” man es doch auch, zur Abwechslung mal zu den oberen Zehntausend zu gehören – oder?

Mit unserer Meritokratie-Hörigkeit zahlen wir eine Anwartschaft auf die Mitgliedschaft in einem Club, dessen Zugangsbedingungen wir niemals erfüllen werden. Aber statt die Clubs aufzulösen, die sich aus unseren Anwartschaften finanzieren, oder uns neue Einsatzfelder für unsere Ressourcen zu suchen, prügeln wir auf die ein, die noch weiter hinten in der Schlange stehen.

Auf die Idee, dass eine andere Politik und ein Paradigmenwechsel von der Leistungsgerechtigkeit hin zur Bedarfs- oder Chancengerechtigkeit etwas wäre, das ebenfalls eine grundlegende Veränderung der eigenen Lebenssituation bewirken könnte, kommt kaum jemand. Zu schnell und zu laut hat zuvor schon ein anderer geschrien: “Es sind die Ausländer! Die Ausländer nehmen uns alles weg!”

Bullshit.

Was ich daraus mache

Es gibt meines Erachtens noch einen vierten Grund dafür, dass der Blick nach außen und nicht nach innen gerichtet wird. Der kommt in “Triggerpunkte” nicht vor, den füge ich hinzu. Es ist die Verteilung der Macht in der Gesellschaft, in der wir leben. Kapitalismus führt dazu, dass diejenigen mit mehr Geld mehr Macht haben. Demokratie hin oder her, wer wird denn wirklich gehört? Und wer kann sich Gehör verschaffen? Die Stimmen derer, die Geld haben, sind so viel lauter als die derjenigen, die wenig haben. Davon abgesehen, dass man sich Lautstärke und Reichweite mit Geld kaufen kann: Wenig haben wird mit einer geringeren Leistungsfähigkeit verknüpft und somit auch mit einer geringeren Intelligenz und einer geringeren inhaltlichen Wertigkeit dessen, was jemand sagt. Wert wird in Geld gemessen und wer viel Geld hat, an dem ist alles wertvoller.

Sich gegen die Clubbetreiber zu richten, bedeutet also auch, sich gegen die zu richten, die die meiste Macht besitzen. Das zu tun ist irrational. Zumindest dann, wenn wir zugleich glauben, dass das System mit den Clubs das einzig mögliche und an sich unveränderlich ist. Wir hoffen ja alle immer noch, eines Tages in den Club zu kommen, und wer würde dann selbst von außen angegriffen werden wollen? So verteidigen wird den Club von rechts gegen solche, die uns angeblich unseren Platz in der Schlange streitig machen wollen, und wir verteidigen den Club gegen diejenigen von links, die zu viele kritische Fragen über den Club selbst stellen. Ich nenne diese vier Gründe und ihre Verknüpfungen auch das „Solidarität mit den Reichen-Theorem“, aber das führe ich wann anders aus.

Kommen wir doch noch mal zurück zu der Frage nach der Schuld. Wenn wir jetzt verstanden haben, dass es rational ist (im Zweck-Mittel-Sinne), dass Menschen mit autoritären Persönlichkeiten in kapitalistisch-meritokratisch geprägten Systemen in der Krise einen Sündenbock im Außen suchen, statt sich gegen das System selbst zu stellen – an wem liegt es denn jetzt, dass es soweit kommen konnte? Also, abgesehen davon, dass das System selbst all diese Probleme erzeugt und absichtsvoll reproduziert?

Die Antwort ist simpel. Es liegt an allen, die den Mythos der Leistungsgerechtigkeit weiter füttern und marktwirtschaftliche Dynamiken als externe und unbeinflussbare Kräfte framen und begreifen. Sie sind es, die die Räume für Populismus öffnen, indem sie die system-konstituierenden Glaubenssätze und Hoffnungsparolen reproduzieren. Jede neoliberale Worthülse, die unkritisch in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist, trägt dazu bei, dass Menschen in der Krise das krisenverursachende System als gegeben und unveränderlich wahrnehmen und erleichtert nach dem Faschismus-Angebot greifen.

Dazu trägt auch DIE LINKE bei. Sie denkt Leistungsgerechtigkeit zwar aus einer etwas anderen Perspektive, spricht aber ständig das meritokratische Glaubensbekenntnis mit. Die stete Betonung von „unverdientem“ oder „leistungslosem“ Reichtum ist so ein Fall. DIE LINKE will, dass die Arbeiter*innen für ihre Leistung fair bezahlt und die Reichen die Gewinne, die sie nicht erarbeitet haben, abgeben. Doch die Wortwahl impliziert, dass es durchaus verdienten oder erarbeiteten Reichtum gibt, und stellt nicht infrage, ob etwas wie Leistungsgerechtigkeit innerhalb von kapitalistischen Strukturen überhaupt existieren kann. Ohne es zu merken trägt DIE LINKE so dazu bei, das magische Denken der Clubanwärter*innen zu befeuern, weil selbst DIE LINKE es verlernt hat, in anderen Währungen als der meritokratischen Aufstiegshoffnung zu rechnen. Vielleicht konnte sie auch noch nie gut erklären, wie ihre alternative Vision einer Gesellschaft eigentlich aussieht, das vermag ich nicht zu beurteilen. Ich weiß nur, dass das, was sie Wähler*innen aktuell anbietet, ganz schön systembestätigend klingt.

Das liegt auch daran, dass sie sich auf ihre Weise in die Tradition der Feindbild-Narrative anderer Parteien einreiht. Fast alle haben konkrete Schuldige, auf die sie sich im Zweifelsfall konzentrieren: Die AfD hat die “Ausländer”, die Grünen die Umweltsünder*innen, das BSW wahlweise die “ausländische” Arbeiter*innenklasse oder die Lifestyle-Linken, die FDP die Sozialschmarotzer*innen, die CDU von allem etwas – und DIE LINKE hat die Reichen und die Konzerne. (Ich lasse SPD in dieser Liste aus, weil ich ernsthaft nicht mehr erkennen kann, wofür diese Partei steht.) Die Tatsache aber, dass es politische Entscheidungen sind, die es diesen Reichen erlauben, unangemessen reich zu werden, und dass diese Entscheidungen von Menschen getroffen werden und damit Verhandlungssache sind, betont die Partei nicht. Man möchte “enteignen”, “wegnehmen”, “umverteilen” – also quasi den Club stürmen und den Wartenden die erbeutete Kohle in die Hand drücken. Davon abgesehen, dass das irgendwie illegal klingt: Was passiert denn danach? Wie will DIE LINKE dafür sorgen, dass nicht diejenigen, die sich am meisten geschnappt haben, einen neuen Club gründen und den neuen armen Leuten wieder die Karotte unter die Nase halten? Ein anderer Club ist möglich, klar. Aber Marx, dies das, wie soll es denn laufen? Welche Hoffnung ersetzt die auf sozialen Aufstieg? Wie sieht ein Verteilungssystem der Bedarfsgerechtigkeit aus und wie erklärt man das so, dass Leute Lust haben, Teil einer Bewegung zu werden, die nicht als Bedrohung der einzigen Aufstiegshoffnung, sondern als echte gesellschaftliche Alternative wahrgenommen wird?

(Dass das kaum rüber kommt, liegt teilweise auch daran, dass die anderen Parteien linke Begriffe für sich besetzt haben. Wenn heute jemand zum Beispiel einen “starken Sozialstaat” fordert, ist daraus keine Parteizugehörigkeit mehr abzuleiten. “Solidarisch” sind eh alle, “soziale Gerechtigkeit” finden auch alle ganz wichtig – die Liste der bedeutungsentleerten, ehemals linken Schlagworte ist lang. )

Paradigmenwechsel jetzt!

Der Punkt ist: Es kann keine Leistungsgerechtigkeit in einer Welt existieren, in der die Hälfte der Bevölkerung für ihre Arbeit gar nicht erst bezahlt wird und die Basis allen menschlichen Zusammenlebens – Sorgearbeit – als optionale Bedürfnisbefriedigung abgewertet wird. Erstens. Zweitens ist Leistungsgerechtigkeit deswegen Bullshit, weil es Menschen gibt, die der Leistungsnorm aus diversen Gründen nicht entsprechen können, zum Beispiel Kinder oder behinderte Menschen. Ist es gerecht, wenn sie nichts haben? Ist das die Gesellschaft, in der wir alt werden wollen? In der Care-Verantwortung, Behinderungen, Kindsein oder Alter ein Armutsrisiko darstellen, weil das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit das so vorsieht? In der in diese Gruppen nicht investiert wird, weil wozu auch? Wollen wir wirklich die Norm des unabhängigen, fürsorgeverantwortungsfreien, körperlich und geistig uneingeschränkten cis Mannes als unseren Maßstab behalten und alle anderen Lebenssituationen als Ausnahmen von dieser Regel behandeln?

Oder “verdient” nicht jeder Mensch unabhängig von seiner Leistung Essen, Wohnen, Beziehungen pflegen und teilhaben zu können? Wäre nicht in Bedarfsgerechtigkeit als Leitprinzip sogar bereits enthalten, dass exzessiver Besitz moralisch nicht zu rechtfertigen ist? Und wie wohltuend wäre es, dem vorherrschenden defizitorientierten Blick auf Menschen (der durch die Norm geprägt ist!) durch einen positiven, ressourcenorientierten Blick zu ersetzen? Diese Visionen zu entwickeln, zu leben und zu kommunizieren ist der einzige Weg, um langfristig eine echte Alternative zu potentiell faschistischen Sündenbock-Erzählungen anbieten zu können. So sollte sich auch DIE LINKE nicht nur selbstkritisch fragen, warum sie niemand gewählt hat, sondern wie ihr Sündenbock-Narrativ dazu beigetragen haben könnte, dass die AfD solche Erfolge feiern kann.

Ich bin sicher, wenn es nicht gelingt, dass auch linke Parteien sich von dem Mythos der Leistungsgerechtigkeit verabschieden und rhetorisch und programmatisch zu einer Bedarfs- und Chancengerechtigkeit übergehen, dann werden wir auch künftig den Rechtsrutschen in Krisenzeiten nichts entgegensetzen können und populistischen Kräften weitestgehend wehrlos ausgeliefert bleiben.

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