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Weiße Johannisbeeren

Über einen Sommertag und das weiße Zimmer am Ende des Flurs, über welke Blumen, das Rauschen der Kastanie und eine Orgelpfeife mit blonden Locken

Es war voriges Jahr im Sommer, als ich nach München fuhr, um von meiner sterbenden Tante Abschied zu nehmen. Ich wußte nicht, was mich erwartete, als ich dem langen Flur bis ans Ende folgte und sich die Tür der Palliativstation vor mir auftat. Würde sie wach sein? Würde ich mit ihr sprechen können? Ja, würde sie mich überhaupt erkennen?

Das letzte Mal hatten wir uns vor ein paar Jahren auf einem Bahnsteig in Gera gesehen. Jahrzehntelang war sie nicht mehr in der Stadt gewesen, in der sie geboren war. Sie und meine Mutter und noch vier Geschwister. Jetzt lebten nur mehr sie beide.

Ihren Vater hatte noch im April 1945 eine Kugel getroffen. Er war auf dem Heimweg gewesen und nur noch dreißig Kilometer von zu Hause entfernt. Ihre Mutter stand mit sechs Kindern allein da. Die älteste noch nicht zwölf, A. zweieinhalb.

„Kannst du dich an ihn erinnern?“ hatte ich sie in Gera gefragt. Sie hatte den Kopf geschüttelt. „Nur von Fotos.“

 

Als ich die Tür des Krankenzimmers öffnete und an ihr Bett trat, sah sie mich mit großen Augen an. Ihr Haar so weiß, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ich merkte, wie es in ihr arbeitete, und um ihr zu helfen, sagte ich meinen Namen. Aber da hatte sie mich schon erkannt.

Ich war erleichtert, sie sprechen zu hören. Ihre Stimme war leise und klang ein wenig heiser. Langsam, als schiebe sie Steine über eine Tischplatte, folgten die Worte aufeinander. Sie schien müde zu sein; aber in dem, was sie sagte, war sie ganz klar. Doch je länger wir sprachen, um so öfter war es, als würde sich über ihre Gedanken ein Nebel senken.

Das Nächstliegende schien für sie weit weg zu sein. Was mit ihr passiert war, als sie gestürzt und nächtelang allein in ihrer Wohnung gelegen hatte; daran erinnerte sie sich nicht.

Statt dessen erzählte sie von ihrer Mutter: „Sie war so eine tüchtige Frau. Sie hat sich für uns Kinder aufgeopfert.“ Und von ihrem Vater: „Ich habe ganz lange gar nicht verstanden, was das heißen sollte: gefallen. Ist er hingefallen? Aber warum steht er dann nicht wieder auf?“

Auch von ihren toten Geschwistern sprach sie. So wie immer, wenn wir in der letzten Zeit telefoniert hatten. Daß so kurz nacheinander ihre älteste Schwester und ihre beiden Brüder gestorben waren, das ging ihr nicht aus dem Kopf.

Es gibt ein Foto, auf dem stehen alle sechs aufgereiht wie die Orgelpfeifen vor dem Haus, in dem sie damals wohnten. Die kleinste Orgelpfeife hat blonde Locken und ein zaghaftes Lächeln im runden Gesicht.

„Weißt du, wo wir aufgewachsen sind?“ Einen Augenblick war es so still, daß ich durch das geöffnete Fenster das Blätterrauschen der Kastanie hörte. „In Gera, an der Weißen Elster.“

Ich legte ihr die Hand auf den Arm. „Aber da waren wir doch zusammen“, sagte ich. „In der Schillerstraße. Erinnerst du dich?“

Die Straße gab es noch, aber wo das Haus gewesen war, stand nun ein anderes Gebäude. Ich sehe noch den Blick, mit dem A. es betrachtete. Wie sie die gepflasterte Straße ein Stück hinunterging und sich suchend umsah. Als könnte gleich ein vertrautes Gesicht auftauchen. Ihr Bruder Eberhard. Ihre Schwester Erika. Ihre Mutter.

„Ach ja“, sagte sie und sah mich fragend an.

Später, nachdem sie geschlafen hatte, setzte ich mich wieder zu ihr. Sie fragte nach meiner Frau und meiner kleinen Tochter, und ich erzählte und zeigte ihr Fotos. Auf einem leuchtete das Rot der Johannisbeeren. Es war der Strauch im Garten meiner Schwiegereltern im Mühlviertel, woher ich gerade kam.

Ich erzählte ihr, daß sie in Österreich nicht Johannisbeeren heißen, sondern Ribiseln, und daß ich jeden Morgen, wenn ich vom Schwimmen kam, eine Handvoll pflückte, um sie zum Frühstück zu essen.

„Johannisbeeren“, sagte sie. „Die hatte unsere Mutter auch. Weißt du, sie hatte so einen kleinen Garten. Da gab es rote und schwarze und weiße.“

„Weiße?“ fragte ich.

„Oder gelbe. Das kann man auch sagen.“

Noch nie hatte ich von weißen Johannisbeeren gehört. Ich war mir sicher, daß es nur rote und schwarze gab. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich dachte, daß sich ihre Gedanken jetzt wieder im Nebel verloren, so wie vorhin, als sie erzählt hatte, daß in der Nacht zwei Riesen sie aus dem Bett gehoben und in der Luft hin- und hergeschwenkt hätten.

Immer öfter hörte ich das Rauschen der Kastanie. Die Gesprächspausen wurden länger, von Zeit zu Zeit schloß A. die Augen. Wenn sie sie wieder öffnete, blickte sie mich erstaunt an.

Auf einmal begann sie zu sprechen: „Rosen, Tulpen, Nelken ... alle Blumen welken ... aber nur die eine nicht ... und die heißt Vergißmeinnicht.“

Ich fragte: „Was ist das?“

Blicklos starrte sie vor sich hin. Es sah nicht so aus, als ob sie mich gehört hätte. Aber dann bewegte sie wieder die Lippen. „Das war so ein Spruch“, sagte sie. „Den hat man ins Poesiealbum geschrieben.“

Wieder fielen ihr die Augen zu. Ich betrachtete ihr blasses Gesicht: die Falten auf Hals und Stirn, das dünne weiße Haar. Irgendwann drehte sie den Kopf zu mir und sah mich an. „Danke, daß du gekommen bist.“

Eine Weile saß ich noch bei ihr. Dann stand ich langsam auf und stellte den Stuhl, den ich neben das Bett gerückt hatte, wieder an seinen Platz. Mit den Augen folgte sie jeder meiner Bewegungen.

Als ich ihre Hand nahm und mich noch einmal zu ihr hinunterbeugte, wußte ich, daß ich sie zum letzten Mal sah.

Die Johannisbeeren im Garten meiner Schwiegereltern waren schon alle geerntet. Nur hier und da versteckte sich noch eine einzelne Beere hinter einem Blatt. Aber die Nachbarin ließ mir ausrichten, ich dürfe bei ihr so viele pflücken, wie ich wolle. Ich könne ruhig alle haben; ihr seien sie zu sauer.

Am nächsten Morgen nach dem Schwimmen ging ich zu ihr hinüber. Schon von weitem sah ich sie in der Sonne leuchten: Johannisbeeren, reif und saftig, glänzend wie kleine Murmeln.

Im Nu hatte ich eine Handvoll beisammen. Aber diesmal konnte ich gar nicht aufhören. Ich pflückte eine Beere nach der anderen und aß mich satt.

Da sah ich den Strauch. Er stand etwas abseits, deshalb hatte ich ihn nicht gleich bemerkt. Im ersten Moment glaubte ich an eine Verwechslung. Aber als ich nähertrat, begriff ich. Keine Frage, das waren Johannisbeeren. Nicht rote oder schwarze, wie ich sie kannte, sondern – weiße. Sie waren fast durchsichtig, so daß man die Kerne darin sah.

Ich kostete eine Beere. Sie schmeckte süßer als die roten. Ich aß noch eine und wieder eine. Und während ich begann, auch von diesem Strauch eine Handvoll zu pflücken, dachte ich an meine sterbende Tante.

Ich dachte, daß sie recht gehabt und ich mich geirrt hatte und jetzt immer an sie denken würde, wo immer ich weiße Johannisbeeren sah.

 

An dem Tag, an dem A. starb, stand ich am Fenster und blickte in das Grau des Himmels, der aussah wie eine Felslandschaft. Als könnte ich zwischen den Wolken ihr Gesicht erkennen.

Später ging ich in den Garten der Nachbarin und pflückte ein paar Johannisbeeren. Meine kleine Tochter sah mich und kam zu mir. Ich fragte sie, ob sie kosten wolle, und hielt ihr eine Beere hin. Sie schüttelte den Kopf. „Die sind mir zu sauer.“

Ich sagte: „Aber sauer macht lustig.“

Unschlüssig blickte sie mich an. Sie schien zu überlegen. Vielleicht kam ich ihr sehr ernst vor, wie ich so stand, in Gedanken noch immer in dem weißen Zimmer am Ende des Flurs.

Plötzlich trat sie auf mich zu. Sie nahm mir die Beere aus der Hand und steckte sie mir in den Mund.

„Und jetzt mußt du lachen!“

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