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Obdachlos
Vor etwa drei Jahren war eine neue Obdachlose in ihr Viertel gezogen. Sie fiel auf, weil es in ihrem Viertel nur sehr wenige Obdachlose gab. Es war ein ruhiges, satt bürgerliches Quartier ohne viel Durchgangsverkehr von Ablassfreudigen oder offenen Herzen, die Armut kannten und aus traditionellen Gründen, ihrer Erziehung oder Kultur heraus Almosen gaben. Die Frau bezog ihren Posten vor einer evangelischen Kirche und hier hatte sie natürlich gar nichts zu erwarten an Mitgefühl.
Das wollte sie auch nicht. Warum es sie hierher, ausgerechnet hierher an diesen ökonomisch unpraktischen Ort verschlagen hatte, war nicht herauszubekommen. Wie Tierchen, die um ihr Revier kämpfen, hatte sie es jedenfalls thronend wie eine Sagenheldin geschafft, den einzigen Dauerobdachlosen des Blocks von seinem überdachten Platz vor der Kirche zu vertreiben. Nicht, dass sie diesen fortan besetzte - er wagte es nur nicht mehr, dort sein Lager aufzuschlagen. Stets sehr aufrecht sitzend saß sie vor diesem Nachkriegsverbrechen an Kirchenarchitektur und grüßte sie generös wie eine Päpstin, wenn sie an ihr vorbeikam.
Irgendwann setzte sie sich neben die Frau, überließ ihr die gerade gekaufte Schachtel Zigaretten, die geradezu gnädig in Empfang genommen wurde. Als wäre es das Mindeste was ihr zu stand von der Unbekannten, der sie mal den Marsch blasen musste. Die die Dinge des Lebens nur aus der völlig falschen Warte betrachten konnte. Nicht durchschaute, welche perfiden Strukturen hinter allem und jedem steckten und was in der Gesellschaft schieflief.
Sie tat es mit der Nachsichtigkeit eines Yogis und der tief verrauchten Stimme einer Frau, die zu oft zu laut geschrien hatte. Ihre Obdachlosigkeit beklagte sie nie, auch nicht im folgenden Winter. Aus ihren schwer zu folgenden Erzählungen vermittelte sich eine Art von Freiheitsdrang, den schon Wände und geschlossene Türen bedrohten. Die Regeln der anderen, denen sich unbedingt und nie wieder zu beugen galt.
Sie klebte gänzlich unverständliche Zettel an die Laternenpfosten vor der Kirche und an den Stromkasten vor dem Supermarkt ein paar Meter die Straße hinauf. Die mit routinierter, fließender Handschrift verfassten Schreiben auf liniertem Papier wurden stets eröffnet mit ihrem vollständigen Namen und ihrem Alter, das sich mit der Zeit nicht änderte: 52 Jahre. Der sonstige Inhalt ließ einen ratlos zurück, als wäre er in einer Fremdsprache verfasst, von der man allenfalls ein paar Worte kannte und deshalb keinen sinnvollen Zusammenhang herstellen konnte.
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