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Ich muss immer wieder an Leonardo denken, der, als er neun Jahre alt war, sagte: Ich mag keine anthropischen Dinge. 

Wir waren auf dem Weg zum Lido, die Badekabinensaison war noch nicht  eröffnet, aber an einem Teil des Strands wurden bereits Liegestühle vermietet. Leonardo verfügt über ein ausgeprägtes Schamgefühl, weshalb er besorgt fragte, wo er sich da umziehen könne. Als ich ihm versicherte, dass kleine Umkleidekabinen zur Verfügung stünden, schleuderte er mir ein "Ich mag aber keine anthropischen Dinge" hin. Verwundert fragte mich, welche Furcht vor anthropischen Dingen Umkleidekabinen auslösen könnte, cose antropiche.  Was zum Teufel sollte das sein? Ich wendete mich ab und googelte verschämt das Wort antropico

Die Enzyklopädie Treccani schrieb: Vom Menschen, den Menschen betreffend: (Geographie, Synonym von Anthropogeographie) In der Physik: ein Prinzip, das in verschiedenen Formen eingeführt wurde, um die Tatsache zu rechtfertigen, dass die Werte, die bestimmte fundamentale Konstanten annehmen (Massen und Ladungen der Elementarteilchen, Kopplungskonstanten der Wechselwirkungen, Gesamtmasse des Universums usw.), genau die Werte sind, die für die Entwicklung des Lebens im Universum notwendig sind: Nach diesem Prinzip können diese Konstanten nur Werte haben, die nahe an den von uns beobachteten liegen, da sich sonst keine Wesen entwickelt hätten, die diese Beobachtungen machen können.

Ich schloss aus, dass Leonardo das Wort anthropisch im Sinne der Physik gebraucht haben könnte. Eher im Sinne der Anthropogeographie, also im Grunde all die Tätigkeiten des Menschen betreffend, die den Raum verändern. Vielleicht hatte er das Wort anthropisch im Geographieunterricht aufgeschnappt? Und für einen von Menschen veränderten Raum ist Venedig ja definitiv das beste Beispiel, dachte ich, nachdem wir im Vaporetto das Markusbecken durchquert und am Lido angelegt hatten. 

Wenn du ein Problem mit anthropischen Dingen hast, wirst du es nicht leicht haben, im Leben, beschied ich. Lachend. 

Wobei ich genau so klang, wie  Erwachsenen immer klingen, wenn sie keine Lösung für die fundamentalen Fragen des Lebens wissen. Und im Grunde ihr Lachen nur ihre Verlegenheit kaschieren soll. Was wenn es Leonardo letztlich um etwas ganz Fundamentales ging, um die komplizierte Beziehung zwischen Mensch und Natur, die schon Humboldt aufgeworfen hat? Und ich das nur nicht umrissen hatte?

Leonardo blickte verwundert auf, weil er sich an seine Ablehnung alles Anthropischen gar nicht mehr erinnerte und gerade mit seinem Bruder, der noch nicht schwimmen konnte, darum stritt, ob wir jetzt ein Tretboot mieten sollten oder nicht. 

Erst heute dachte ich wieder an Leonardos Ablehnung des Anthropischen. Bereits mehrmals in dieser Woche wurde das Flutsperrwerk MOSE eingesetzt, um das Hochwasser fernzuhalten. Worüber wir natürlich alle froh sind. Aber langsam stellen Wissenschaftler auch die Auswirkungen auf die Lagune fest: Wie eine in nature (Abre numa nova janela) veröffentlichte Untersuchung feststellte, sind die für die Lagune von Venedig lebenswichtigen Salzwiesen gefährdet: MOSE löst zwar die Probleme des Hochwassers für die bebauten Gebiete, zerstört aber andererseits die Salzwiesen, weil sie die durch die Überflutungen angeschwemmten Sedimente zum Überleben benötigen. Kurz: Wir befinden uns dank MOSE in einem Teufelskreis. Das Grundproblem bleibt nach wie vor der Hafen von Venedig. Denn das Hochwasser, das MOSE bekämpft, ist erst durch die Zerstörung der Lagune, durch das Tiefergraben der Kanäle, entstanden. Der Meeresspiegelanstieg verstärkt das zwar, aber das wesentliche Problem ist die Erosion der Lagune. 

Und jetzt wurde allen Ernstes beschlossen, den Kanal Vittorio Emanuele noch tiefer zu graben, damit die Kreuzfahrtschiffe, die jetzt über den Kanal für Erdöltanker einfahren, ohne Probleme auch zum alten Kreuzfahrthafen fahren können. Damit keine (eigentlich unerlässliche) Umweltprüfung erfolgen muss, wurde das Ausbaggern lediglich als eine Art "Check-up" für den Kanal deklariert. 

So gesehen, hat Leonardo also völlig Recht mit seiner Ablehnung alles Anthropischen. 

Später am Lido bat mich Leonardo übrigens, vor der Umkleidekabine stehen zu bleiben und ihm zu helfen, falls er der Umkleidekabine nicht entkommen könnte. Ich vermute also, dass er antropico mit claustrofobico verwechselt haben könnte. 

Wer sich gewundert haben sollte, warum es auf Venedigs Parkinsel Tronchetto immer etwas rüde zugeht: Die Insel ist seit Jahrzehnten in der Hand der organisierten Kriminalität, die an den Touristenströmen verdient. In dieser Woche kam es wieder zu einer Verhaftungswelle. Kernbusiness dieser Mafia auf Tronchetto: Touristenströme in ihre Boote umzuleiten, dank der Schlepper, die hier „Intromettitori“ genannt werden, was soviel heißt wie „Einmischer“. Acht Millionen Touristen kommen auf Tronchetto an, im Auto und in Reisebussen. 

In Venedig arbeiten sogar ganz legale Schlepper - für Murano, mit Ausweis der Stadt. Da kann es schon mal vorkommen, dass ein Tourist nicht mehr unterscheiden kann, ob er jetzt an einen legalen oder illegalen Schlepper geraten ist. Hauptsache: Das „Kerngeschäft“ läuft.

Wie interessant dieses Kerngeschäft ist, lässt sich auch daran ablesen, dass es sich nicht nur auf die von den venezianischen Medien stets liebevoll "Mala veneziana" getaufte lokale Mafia handelt, sondern auch bedeutendere Player seit Jahren auf dieses Geschäft geworfen haben. Vor Jahren wurde in Venedig der auf Tronchetto arbeitende Mafioso (und heutige Kronzeuge) Vito Galatolo verhaftet. Seine Aufgabe in Venedig war, das Geschäft mit den Touristenströmen zu eroieren. Nach seiner Verhaftung wollte dieser Sohn einer alten sizilianischen Mafiafamilie sein Gewissen erleichtern und ließ den Antimafiastaatsanwalt Nino Di Matteo wissen , dass die Vorbereitungen für das Attentat gegen ihn bereits fortgeschritten seien: Die Mafiafamilien hätten 600 000 Euro gesammelt, um 150 Kilo Sprengstoff zu kaufen. Die Auftraggeber für den Mord seien dieselben wie die für das Attentat an Paolo Borsellino.

Womit wir bei der letzten Neuigkeit angekommen wären. Berlusconi möchte italienischer Staatspräsident werden. Meine Mutter würde in diesem Fall sagen: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Ich bin mir nicht sicher, ob Berlusconis Kandidatur für das Präsidentenamt ein Witz ist oder, grob ausgedrückt, ein Ausdruck von seniler Demenz. Wobei die Frage ist, wer hier  unter seniler Demenz leidet: B. oder die Parteien, die vorgeben, ihn zu unterstützen. 

Nach vielen Jahren in Italien bin ich geneigt, dahinter andere Winkelzüge zu vermuten, Berlusconi also nur als Vorwand zu benutzen, um fromme Seelen zu verwirren und im geeigneten Augenblick einen noch viel abgefeimteren Kandidaten aus dem Hut zu ziehen. Oder Mattarella dazu zu bringen, doch noch eine kurze Verlängerung einzulegen, damit Draghi die Legislaturperiode zu Ende bringen und dann zum Staatspräsidenten gewählt werden kann. 

Aber ich schließe nicht aus, dass B.'s Kandidatur natürlich auch ernst gemeint sein könnte. Italien war schließlich Jahrzehnte lang der Bungabunga-Witz der Welt. In diesen Jahren haben die Italiener einen starken Magen entwickelt. 

Die Zeitung "Il Fatto Quotidiano" hat B.'s Geschichte noch mal aufgeschrieben. Und zu einer Petition auf change.org (Abre numa nova janela) aufgerufen. Bis jetzt haben fast 150 000 Italiener unterschrieben.

Wobei ich wieder bei meinem Versuch wäre, Italienerin zu werden. Letzter Stand: Nachdem ich eine Selbstzertifizierung samt umfangreicher, mit Bindestrich versehenen Dokumenten (Personalausweis, Gesundheitsausweis etc.) an die Präfektur schickte, lautete die Antwort: "Es ist nicht möglich, dem Helpdesk die Änderung zu bestätigen, da es nicht nur bei Ihrem Doppelnamen, sondern auch bei RESKI (nur in der Geburtsurkunde vorhanden) Diskrepanzen gibt. Wenn Sie über ein Dokument verfügen, das die Änderung des Nachnamens in einen Doppelnamen mit Bindestrich rechtfertigt, senden Sie es bitte per E-Mail (Heiratsurkunde oder andere Dokumente).“

Keine Ahnung, worin die Diskrepanzen im Namen Reski bestehen. Falls aber Berlusconi tatsächlich Staatspräsident würde, müsste ich  meinen Treueschwur zu Italien unter seinem Bild leisten.

 Der Venezianer an meiner Seite sagt: „Wer Italiener sein will, muss leidensfähig sein“. Zumindest in dieser Hinsicht habe ich mich bereits qualifiziert. 

 In diesem Sinne grüßt Sie herzlich aus Venedig, Ihre Petra Reski 

P.S.: Mein Newsletter hat sich seit März, als ich ihn anfing, wunderbar entwickelt, inzwischen haben ihn über 500 Leser abonniert, darunter viele zahlende Mitglieder. Ich freue mich, wenn Sie meinen Newsletter weiterempfehlen. 

Wer dazu gehören will: das geht hier ➡️ Ehrenvenezianer werden (Abre numa nova janela).

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