Naturschutz-Legende: Klara Enss (Sylt)
(29. Juli 1922 bis 6. Juni 2001)
Wer Sylt liebt, muss Klara Enss lieben. Und Klara Enss hat Sylt geliebt.
Sie wurde in den 1970er Jahren zur Speerspitze einer Bewegung, die der bis dahin völlig ungebremsten Bauwut und Zerstörung der Natur der Insel Sylt erfolgreich Einhalt gebot. In zwei Jahrzehnten setzte sie sich gegen die mächtigsten Männer Norddeutschlands durch und wurde zur Grande Dame nicht nur des Naturschutzes auf Sylt, sondern auch für ganz Schleswig-Holstein. Bis heute trägt das Naturschutz-Zentrum in Braderup auf Sylt ihr zu Ehren den Namen „Clara-Enss-Haus“.
Danach sah es allerdings zuerst gar nicht aus. Geboren ist sie 1922 am anderen Ende Schleswig-Holsteins auf einem Gutsbauernhof. Der frühe Tod ihres Vaters schränkte die finanziellen Verhältnisse der Familie stark ein und die junge Klara war es gewohnt von Anfang an fleißig und hart auf dem Hof zu arbeiten. Sie machte eine Ausbildung zur Haushaltshilfe, mehr war zu der Zeit gar nicht denkbar. Die größte Freude waren dabei aber die Ferienbesuche bei ihrer Tante auf Sylt.
Nach dem Krieg aber ergab sich die Gelegenheit ganz neu zu denken und sie wurde Theaterschauspielerin in Hamburg! Überraschung! Sie wusste, dass sie ein ansprechendes Äußeres hatte – man kann wohl sagen, dass sie schön war – und sie versuchte einfach ihr Glück. Mut, Unerschrockenheit, Tatkraft – das war eben Klara Enss. Und hier zeigte es sich zum ersten Mal deutlich. Das aufregende Leben im Showbusiness der Großstadt Hamburg sagte ihr durchaus zu, sie ergatterte auch die eine oder andere Hauptrolle - aber dann gab es wieder Mitte der 1950er einen Schicksalsschlag in ihrer Familie – ihr Bruder und Hofnachfolger ist bei einem Unfall ums Leben gekommen - und sie fühlte sich verpflichtet ihrem jüngsten Bruder zu helfen.
Pensionswirtin auf Sylt
Und spätestens jetzt wird ihr Leben filmreif. Mit ihrem kleinen Erbe entschloss sich die immer noch junge unerschrockene Klara in dem kleinen armen Bauerndorf Braderup auf Sylt zwei zerfallene Häuser zu kaufen und daraus eine kleine Pension zu machen! Überraschung! Es gab wohl keinen Menschen, der sie zu diesem Zeitpunkt nicht für verrückt erklärte. Nie würde sie alleine als Frau dort eine erfolgreiche Pension aufbauen können, nie würde sie in das abseitige Braderup Touristen locken können – und dann lag Braderup auf der Wattseite und nicht auf der attraktiveren Seeseite der Insel. Unmöglich - das Unglück musste vorprogrammiert sein. Aber der Traum in ihr war stärker. Man wünscht sich, dass man die Bilder in ihrem Kopf hervorzaubern könnte, als die junge Frau auf Sylt ankam – voller überschäumender Träume und Wünsche! Vor einem Nichts stehend, aber mit einer bezaubernden Vision. Und was soll man sagen – natürlich packte sie es. Sie baute die Häuser nach ihren Plänen wieder auf und mit ihren Beziehungen zur Hamburger Kulturszene wurde die Pension nicht nur bekannt, sondern wohl zu einer der coolsten Adressen der Insel. Kunst- und Kulturschaffende aus ganz Deutschland suchten zunehmend auf Sylt Erholung – und da ging man natürlich zu Klara Enss!
Die Insel verändert sich – Klara wird Aktivistin
Mit dem zunehmenden Boom der Insel als Touristenmagnet und zusätzlicher Wohnsitz für reiche Großstädter veränderte die Insel schnell ihr Antlitz. Klara Enss erkannte sehr früh in den 1960er, wenn sich die völlig ungebremste Bautätigkeit auf Sylt fortsetzen würde, dann würde nicht nur der Natur ein nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen, auch der Charakter der Insel und all das, wofür sie die Insel liebte, würde verloren gehen.
Und dann planten in einer Mischung aus Geldgier, Gewissen- und Gedankenlosigkeit Investoren das gigantomanische Hotel „Atlantis“, das alle bisherigen Gebäude auf Sylt um ein Vielfaches überragen sollte. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte – Klara Enss gründete 1971 eine Bürgerinitiative und sie kämpfte mit allem was sie hatte gegen das Projekt an – und was sie hatte war wieder mal Mut, Unerschrockenheit und Tatkraft. Die Verhinderung war eigentlich unmöglich – die gewählten Politiker der Insel und die Insel-Presse befürworteten das Bauvorhaben praktisch komplett. Aber Klara Enss und ihre Mitstreiter aus der Bürgerinitiative ließen nicht locker – sie deckten die ganzen Missstände bei der Planung auf und informierten über die negativen Folgen für Natur und Tourismus. Und sie spielte ihren größten Trumpf aus: Chefredakteure und Zeitungsmacher aus ganz Deutschland gingen in ihrer Pension ein und aus – das Atlantis-Projekt wurde nun in der Presse bundesweit diskutiert. Schließlich berichtete sogar der Spiegel in einer Titelstory darüber. Folge: Die Landesregierung versagte dem Bauvorhaben die Genehmigung. Der Investor verließ mit ruiniertem Ruf die Insel und Klara Enss hatte gewonnen!
Von der Aktivistin zur Naturschützerin
Aber Klara Enss war am Ende ihrer Kraft. Die Doppelbelastung als Pensionswirtin und Aktivistin hatte sie bis zu ihrer Belastungsgrenze und darüber hinaus gefordert. Auch musste ihre Pension renoviert werden, was auch ihre finanziellen Reserven aufbrauchte. So konnte es nicht weitergehen! Da fasste sie einen Entschluss – ihr war klar, dass ihre beiden Häuser auf der boomenden Insel inzwischen einen nicht unerheblichen Wert hatten. So verkaufte sie ihren Besitz gegen eine ausreichende Leibrente und lebenslanges Wohnrecht im kleineren Haus an einen reichen Hamburger Kaufmann, der die Pension sofort aufgab und dort sein Insel-Feriendomizil einrichtete.
Nun hatte sie den Freiraum, den sie brauchte, um neue Ziele anzugehen.
Der Vorsitzende des Sylter Naturschutzvereins Knut Ahlborn war gleichzeitig Klara Enss´ Arzt und kannte sie nicht nur als Aktivistin der Bürgerinitiative, sondern auch als Menschen sehr gut. Und er haderte mit seinem Verein, in dem zwar viele männliche Naturschutz-Experten waren, die aber irgendwie nicht in der Lage waren, ihre Ideen in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Und da erkannte er in Enss die große Chance. Er schlug 1975 dem Männerverein Klara Enss als seine Nachfolgerin und neue Vorsitzende vor! Überraschung! So wurde sie fast über Nacht nun zu einer der wichtigsten Naturschützer der Insel. Sie fusionierte die Bürgerinitiative mit dem Naturschutzverein unter dem neuen Namen „Naturschutzgemeinschaft Sylt“ (NSG Sylt). Sie erreichte die Ausweisung neuer Naturschutzgebiete auf Sylt, wie die Braderuper Heide und organisierte die Betreuung und den Schutz der Gebiete.
In Braderup war eine alte verfallene Soldatenbaracke und da kam wieder Klara Enss Fähigkeit zu weitreichenden Visionen zum Vorschein. Der Verein übernahm die Baracken und baute diese zum Vereinssitz und Naturschutz-Zentrum aus – allerdings nicht ohne Gegenwehr aus den eigenen Reihen - denn um das nötige Geld zu beschaffen musste Grundbesitz des Vereins mit wertvollen Flächen für den Naturschutz verkauft werden. Aber Enss setzte sich durch.
Die Insel wurde zu klein
Die 1980er Jahre waren aber auch der Beginn der bundesweiten Umweltschutz-Bewegung. Klara Enss engagierte sich nun auch beim Aufbau des Landesverbands Schleswig-Holstein vom BUND und beteiligte sich an Anti-Atomkraft-Demonstrationen in ganz Deutschland. Sie war nun sehr viel unterwegs und sie wurde gehört.
Und vor Sylt merkte man die Bedrohung der Natur ganz unmittelbar. Transportierten doch die großen Flüsse Weser und Elbe gigantische Mengen an Schadstoffen und Giften völlig ungefiltert in die Nordsee und es geschah dann vor aller Augen: Das durch die Gifte geschädigte Immunsystem der Seehunde konnte einem neuen Staupevirus nichts entgegensetzen und 18.000 Seehunde starben vor aller Augen an den Stränden der Nordsee-Inseln. Enss rief zu einer Demonstration auf Sylt gegen die Verschmutzung der Nordsee auf und bis zuletzt hatte sie die Befürchtung, dass kaum einer folgen würde. Dann standen aber 30.000 Menschen entlang der gesamten Sylter-Westküste! Ein unübersehbares Zeichen für den Schutz der Nordsee! Und Sylt ist nicht irgendein Kurort. Dort waren große Teile der bundesdeutschen Oberschicht zu finden. Die Politik handelte und die Verschmutzung der Flüsse und damit der Nordsee wurde massiv eingeschränkt.
Langsamer Rückzug
In den 1990er Jahren musste aber auch eine Enss dem Alter Tribut zollen und reduzierte langsam ihr Engagement. Sie sorgte noch dafür, dass die Umweltbildung des Naturschutzzentrums auf- und ausgebaut wurde, was jedes Jahr Tausende von Besuchern der Insel bis heute erleben können.
Klara Enss bekam verdientermaßen das Bundesverdienst-Kreuz und auch viele weitere Auszeichnungen. Wenn Klara Enss nicht gewesen wäre, würde die Insel heute anders aussehen – weniger schön und liebenswert.
Unabhängigkeit als Frau
Klara Enss war ihre Unabhängigkeit immer sehr wichtig. Eine Ehe mit all den damit zusammenhängenden Zwängen kam für sie nicht in Frage. Und ein solch freies Leben a la Enss nach eigener Fasson wäre in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik für eine verheiratete Frau nach den damaligen gesellschaftlichen Maßstäben kaum denkbar gewesen.
Sie hatte dafür sehr stabile lebenslange Freundschaften gepflegt und eine lange Liebesbeziehung mit einem verheirateten Journalisten aus Frankfurt, mit dem sie oft auf der Insel zusammen war. Das Verhältnis zu dessen Ehefrau und Kindern war offen, respektvoll und freundlich – auch kamen die Kinder oft mit auf die Insel. Sie bedauerte das inoffizielle Verhältnis nie, im Gegenteil: Sie betonte, dass eine solche Beziehung doch viel wertvoller war, weil frei von Zwängen und der einzige Grund für ein Zusammensein die Zuneigung und das gegenseitige Bedürfnis nach Nähe war. Als ihr Freund im Sterben lag, pflegte sie ihn auf der Insel bis zu seinem Tod.
Klara-Enss-Biographie – ein Meisterwerk
Die Wissenschaftlerin Anna-Katharina Wöbse hat 2017 eine Biographie über Klara Enss geschrieben, für die sie umfangreichen Zugriff auf die Tagebücher von Enss bekommen hat. Dieses Buch ist wunderbar! Wer Sylt liebt, liebt Klara Enss, liebt dieses Buch. Ich habe für diesen kurzen Überblick über ihr Leben viel auf dieses Buch zurückgegriffen.
Ich bedanke mich bei Chris Sun für den wertvollen Hinweis auf Klara Enss! Es hat mir wieder großen Spaß gemacht, mich mit der Naturschützerin zu beschäftigen.
„…Sylt, dieser unnachahmliche Kosmos, dessen Zauber jeden gefangen nimmt, der ihn betrifft – für ein paar Urlaubswochen, für ein ganzes Leben. Sylt - innig geliebt, viel geschmäht, Ruhepol für Erschöpfte, Kontakthof für Einsame, sorgsam behütet, von Künstlern umworben, von Beutemachern umschwirrt – Heimat und Spekulationsobjekt – Sylt mit Vogelstimmen, Heideduft, blühenden Wegrändern, Dünen und Wolkentürmen. Bevor diese Insel versinkt, hat sie unseren Dank durch Handeln verdient.“ – Klara Enss