„Ich trau mich nicht mehr raus!“ – Wie rechte Panikmache mein Umfeld vergiftet hat
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Von Angst, Fake News und der Erkenntnis, dass nicht die Welt gefährlich geworden ist – sondern die Leute um mich herum.
Es begann schleichend. Erst waren es nur vereinzelte Kommentare, beiläufig hingeworfene Sätze in Gesprächen mit Bekannten. „Hast du das mitbekommen? Schon wieder so ein Vorfall. Man kann ja echt nicht mehr rausgehen!“ Ich lachte noch und dachte mir nichts dabei. Doch dann kam es immer öfter.
Freunde, Nachbarn, Kollegen – plötzlich erzählten sie mir von ihrer Angst. Nicht vor realen Gefahren, sondern vor einer Welt, die angeblich völlig außer Kontrolle geraten war. „Früher war alles besser“, sagten sie mit ernster Miene. „Heute ist man nirgends mehr sicher.“
Ich begann, genauer hinzuhören. Worüber redeten sie eigentlich? Es waren keine persönlichen Erlebnisse. Keine konkreten Vorfälle, die ihnen passiert waren. Nein, es waren Geschichten, die sie irgendwo gehört oder gelesen hatten. Von ominösen „Einzelfällen“, die angeblich beweisen sollten, dass alles nur noch schlimmer wird.
Die Welle der Angst
Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto deutlicher wurde mir: Es ging nie um echte Bedrohungen. Es ging um Gefühle. Ein diffuses Unwohlsein, das sich durch ständige Wiederholung in gefühlte Realität verwandelte.
Da war die ältere Nachbarin, die mir erzählte, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus gehe – weil „man ja nicht mehr weiß, wer da draußen rumläuft“. Dabei lebte sie seit 40 Jahren in der gleichen, ruhigen Straße.
Da war der Arbeitskollege, der sich darüber aufregte, dass „man ja gar nichts mehr sagen darf“, während er sich zum zwanzigsten Mal darüber echauffierte, dass Gendern „die deutsche Sprache zerstört“.
Und dann war da eine alte Freundin, die mir sagte, sie habe sich „von der Politik abgewandt“, weil „die Deutschen bald in der Minderheit“ seien. Als ich nachfragte, woher sie das habe, kam nur: „Steht überall! Guck doch mal, was los ist!“
Ich googelte. Es stand nicht „überall“. Es stand auf bestimmten Seiten. Auf Telegram. In Facebook-Gruppen. In obskuren Blogs, die mit Schlagzeilen arbeiteten, die Angst machten.
Die Welt ist nicht schlimmer geworden – aber die Menschen paranoider
Irgendwann wollte ich es genau wissen. Wenn wirklich alles so gefährlich geworden ist – wo sind dann die Beweise? Ich setzte mich hin, suchte Zahlen, Berichte, Fakten. Ich wollte herausfinden, ob das Gefühl, das so viele um mich herum hatten, tatsächlich der Realität entsprach.
Und was ich fand, war… ernüchternd.
Ja, es gibt Kriminalität. Es hat sie immer gegeben. Aber über Jahre hinweg waren die Zahlen rückläufig. Erst in den letzten Jahren gab es wieder einen Anstieg – doch weit entfernt von einem apokalyptischen Verfall der Gesellschaft. Ich zeigte einem Bekannten die Statistik: „Schau, lange Zeit wurde es sicherer, und selbst jetzt ist es nicht annähernd so schlimm, wie manche behaupten.“ Seine Antwort? Ein Achselzucken. „Glaub ich nicht.“
Ich ging weiter. Die „bösen Fremden“, vor denen gewarnt wird? Ja, es gibt Straftaten von nichtdeutschen Tatverdächtigen. Aber über die Hälfte aller Straftaten wird nach wie vor von Deutschen begangen. Trotzdem hält sich das Bild vom „kriminellen Ausländer“ hartnäckig – weil es sich besser anfühlt, wenn man eine einfache Erklärung für seine Ängste hat.
Und dann das große Narrativ vom „Untergang des deutschen Volkes“. Ich suchte, las, verglich Prognosen. Was ich fand, war eindeutig: Deutschland altert, ja. Aber durch Zuwanderung stabilisiert sich die Bevölkerung. Kein Massensterben, keine „Ersetzung“. Nichts von dem, was diese Leute ständig behaupteten.
Ich legte mein Handy weg und seufzte. Die Zahlen waren klar. Aber das Problem war: Keiner wollte sie hören.
Weil es nie um Fakten ging. Es ging um Gefühle. Um Angst. Und gegen Angst hilft kein Statistik-Diagramm.
Und ich? Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr wohl. Nicht, weil ich Angst hatte, dass mir draußen etwas passiert. Sondern weil ich das Gefühl hatte, dass ich die Leute um mich herum nicht mehr verstand.
Wenn das eigentliche Problem nicht draußen lauert – sondern in den Köpfen
Es war, als hätte sich eine dunkle Wolke über mein Umfeld gelegt. Die Welt da draußen war nicht unsicherer geworden. Aber die Stimmung war vergiftet. Die Angst war wie ein Virus, das sich von Kopf zu Kopf übertrug, genährt von rechten Parolen und sensationsgeilen Medien, die Klicks mit Panikmache generierten.
Ich erkannte: Das Problem war nicht, dass man nicht mehr rausgehen konnte. Das Problem war, dass sich immer mehr Menschen in ihrer eigenen Blase einmauerten. Dass sie sich von der Realität entfernten, in einer Welt aus Furcht, Wut und Abwehrhaltung.
Angst kommt nicht von ungefähr – die Politik muss handeln
So sehr mich diese ganze Panikmache auch nervt, ich kann irgendwo verstehen, warum Menschen so denken. Wenn Mieten explodieren, Jobs unsicher sind und man das Gefühl hat, dass sich die Welt schneller verändert, als man selbst hinterherkommt, dann sucht man nach einfachen Erklärungen. Und genau hier versagen Politik und Medien oft kläglich.
Statt auf diese Sorgen mit echten Lösungen zu reagieren, überlassen sie das Feld rechten Hetzern, die genau wissen, wie sie Unsicherheiten ausnutzen können. Menschen fühlen sich abgehängt, und anstatt soziale Probleme zu lösen – bezahlbarer Wohnraum, gerechte Löhne, sichere Renten – diskutiert die Politik lieber über Symbolthemen oder geht rechten Narrativen auf den Leim.
Aber Angst löst keine Probleme – nur klare Maßnahmen tun das. Wir brauchen eine Politik, die aufhört, sich von rechter Hysterie treiben zu lassen, und stattdessen echte Sicherheit schafft: sozial, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Denn solange Menschen das Gefühl haben, dass ihre Ängste ignoriert werden, wird die rechte Panikmaschinerie weiterlaufen – und die Gesellschaft immer weiter vergiften.
Wie Medien unsere Ängste verstärken
Ich fragte mich irgendwann: Warum haben auf einmal so viele Menschen in meinem Umfeld Angst? Warum war früher alles „normal“, aber jetzt plötzlich soll man „nicht mehr rausgehen können“? Ich fing an, genauer hinzusehen – und die Antwort lag auf der Hand.
Es sind die Medien. Nicht alle, aber genug. Jedes Mal, wenn ich auf Social Media unterwegs war, sprang mir die nächste reißerische Schlagzeile entgegen. „Immer mehr Gewalt auf unseren Straßen!“ „Migranten-Clans übernehmen die Städte!“ „Deutschland nicht mehr sicher!“
Ich merkte, dass diese Artikel nicht immer logische Zusammenhänge hatten. Meistens wurden einzelne, extreme Vorfälle zu einem „Trend“ aufgeblasen, ohne Beweise. Aber für viele Menschen macht es keinen Unterschied: Wer ständig liest, dass die Welt unsicher ist, fängt irgendwann an, es zu glauben – egal, was die Realität sagt.
Warum Angst so gut funktioniert
Ich kann den Reflex verstehen. Wenn man jeden Tag mit negativen Nachrichten bombardiert wird, beginnt das Unterbewusstsein, Muster zu erkennen – auch wenn sie gar nicht existieren. Man achtet plötzlich nur noch auf bestimmte Dinge: Die fremdsprachigen Stimmen in der U-Bahn, die Gruppe Jugendlicher, die laut lacht, die Schlagzeilen über angebliche „No-Go-Areas“.
Mein Umfeld war nicht paranoid geboren. Sie waren einfach empfänglich für Angst. Und Angst ist mächtig. Sie sorgt dafür, dass Menschen nicht mehr hinterfragen, sondern nur noch fühlen. Dass sie sich an das klammern, was ihnen einfache Erklärungen liefert – auch wenn diese falsch sind.
Wie das alles Beziehungen zerstört
Ich habe Freunde verloren. Menschen, die ich seit Jahren kannte, sind plötzlich nicht mehr dieselben. Es geht nicht darum, dass sie jetzt „konservativer“ sind oder eine andere Meinung haben. Es geht darum, dass sie für Argumente nicht mehr erreichbar sind.
Früher haben wir über Filme und Urlaubspläne geredet. Heute kommen nur noch Schimpftiraden über „die da oben“, „die Fremden“ und „die linksgrünen Spinner“. Wenn ich versuche zu widersprechen, kommt sofort die Abwehr: „Du verstehst das nicht. Du wirst auch noch aufwachen!“
Es ist nicht leicht, das mit anzusehen. Wie Menschen, die ich mal geschätzt habe, sich in einer Blase aus Angst, Misstrauen und Wut einmauern. Und wie diese Spaltung immer größer wird.
Was wirklich getan werden muss
Ich verstehe, warum Menschen sich fürchten. Es gibt genug Probleme in diesem Land: Mieten, die unbezahlbar werden. Jobs, die unsicher sind. Eine Politik, die oft nur heiße Luft produziert. Ich kann nachvollziehen, dass manche sich fragen, warum alles so kompliziert sein muss.
Aber genau hier liegt das Problem: Anstatt diese realen Themen anzugehen, lassen wir zu, dass rechte Hetzer das Narrativ bestimmen. Anstatt sich um bezahlbaren Wohnraum oder soziale Gerechtigkeit zu kümmern, reden Politiker lieber über „deutsche Leitkultur“ oder „Asyl-Obergrenzen“.
Und so werden Menschen, die echte Sorgen haben, in die Arme derer getrieben, die einfache (aber falsche) Antworten geben. Die Sündenböcke präsentieren, statt Lösungen.
Ich will mich nicht anstecken lassen
Ich könnte jetzt resignieren. Mich von dieser Angst anstecken lassen. Aber ich weigere mich.
Also frage ich nach. Immer wieder. Wenn mir jemand sagt, „man kann ja nicht mehr rausgehen“, frage ich: „Wem ist das passiert? Dir? Oder hast du es nur gelesen?“
Meistens bleibt es dann still.
Und genau deshalb gehe ich raus. Nicht nur, weil ich die Welt da draußen liebe – sondern weil ich mich nicht in der Angstblase einsperren lasse, in der so viele um mich herum gefangen sind.
Ich weigere mich, mich anstecken zu lassen
Heute reagiere ich anders, wenn mir jemand erzählt, dass „man ja nicht mehr rausgehen kann“. Ich frage nach. „Warum nicht? Was ist dir passiert?“ Meistens kommt dann nur Stille. Oder eine aufgeschnappte Story aus den sozialen Medien.
Ich weigere mich, diese Angst zu übernehmen. Denn die Welt ist nicht untergegangen. Aber wenn wir nicht aufpassen, wird die Gesellschaft es tun – weil wir uns selbst von innen heraus zerstören.
Deshalb bleibt meine Antwort immer die gleiche: Ich gehe trotzdem raus. Vielleicht nicht wegen der Welt da draußen – sondern um der Realität da drin zu entkommen.
Die Autorin dieses Textes bleibt anonym – nicht, weil ihre Geschichte unwichtig wäre, sondern weil sie nicht die Kraft hat, sich auch noch gegen Hass und Anfeindungen zu verteidigen. Sie lebt seit Jahren mit Depressionen. Und während sie früher dachte, die Welt da draußen sei das Problem, merkt sie heute, dass es die Angst ist, die alles vergiftet. Diese Stimmung, dieses Misstrauen – es frisst sich in Freundschaften, in Familien, in das eigene Denken. Sie fragt sich, wie lange man das noch aushalten kann. Wie lange es dauert, bis man selbst anfängt, sich zu fürchten – nicht vor einer unsicheren Welt, sondern vor den Menschen, die man einmal vertraut hat.
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