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Warum immer noch gedenken? Eine Antwort zum 9. November

Warum nach 86 Jahren noch erinnern? Ist das Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 nicht irgendwann „erledigt“?

Die Frage ist unbequem, klar. Warum sollen wir also 86 Jahre später immer noch an die Nacht des 9. November 1938 erinnern, in der Synagogen brannten und jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet wurden? Sollte es nicht endlich mal genug sein? Immerhin ist niemand von uns heute verantwortlich für das Grauen, das damals geschah – oder?

Doch genau hier irrt der bequeme Zeitgeist. Die sogenannte „Kristallnacht“, die für den gewaltsamen Höhepunkt staatlich organisierter Pogrome steht, markierte den Anfang vom Abgrund und führte direkt in die menschenverachtende Maschinerie, die Millionen das Leben kostete. Das Klirren der Fenster, das Flackern der Flammen – die Novemberpogrome waren kein Zufall, sondern ein gut geöltes Zahnrad im System der Entrechtung und Auslöschung.

Das Gedenken an diese Nacht hat nichts mit Schuld zu tun, sondern mit Verantwortung. Verantwortung für das, was heute in unseren Köpfen und Herzen stattfindet. Gedenken soll uns daran erinnern, dass Unmenschlichkeit immer dann aufblüht, wenn wir schweigen und zusehen. Wenn wir uns einreden, dass all das Vergangenheit ist und uns nichts mehr angeht, öffnen wir die Tore für jene, die ihre alte Hetze im modernen Gewand anbieten.

Ist das Erinnern nicht längst „erledigt“?

Ja, manche werden jetzt die Augen verdrehen: Schon wieder eine Gedenkveranstaltung, schon wieder diese „alten Geschichten“. Manche meinen gar, dass Entschädigungen, Museen und all die „Gedenksymbolik“ doch wirklich genügen. Doch diese Denkweise verkennt etwas Entscheidendes: Erinnerung ist kein Pflichtprogramm, sondern die Grundlage dafür, dass die Verbrechen von damals nicht in neuen Formen wiederkehren. Solange Rassismus, Antisemitismus, Hass und Hetze sich wieder im Alltag einnisten, gibt es eine verdammt gute Antwort darauf, warum wir immer noch gedenken.

Schaut euch um: Überall tauchen die Geister der Vergangenheit auf, nur dass sie jetzt hippe Namen und ein modernes Image tragen. Nationalismus, der „nur“ kulturelle Eigenheiten schützen will, Antisemitismus, der sich als „Israel-Kritik“ tarnt. Junge Menschen wachsen auf und wissen wenig bis gar nichts über die Verbrechen dieser Zeit, weil wir sie ihnen nicht genug erklären. Die Schule kratzt oft nur an der Oberfläche, und Geschichte bleibt für viele ein Kapitel in fernen, verstaubten Büchern. Wenn wir heute das Gedenken abschaffen, ist morgen der Nährboden für Ignoranz und letztlich für Wiederholung gelegt.

Erinnerung als Widerstand gegen Gleichgültigkeit

In dieser ignoranten Gleichgültigkeit liegt die eigentliche Gefahr. Es ist eben nicht harmlos, wenn Volkslieder von „wilden Gesellen“ und „Sturmwinden“ ein Gemeinschaftsgefühl beschwören, das einen Funken unheilvoller Härte und Ausgrenzung in sich trägt. Wenn Jugendliche, die sich nach Zugehörigkeit sehnen, in diesen Kreisen landen und ihnen „White Power“-Tattoos als „harmlos“ verkauft werden, dann passiert genau das, was wir verhindern müssen: Die stille Normalisierung von Intoleranz.

Hier liegt der Kern unserer Verantwortung: zu erkennen, wo diese Strömungen sich einnisten und den Jugendlichen ein falsches Gefühl von Stärke und Identität vermitteln. Das beginnt oft so unscheinbar, dass selbst Erwachsene darüber hinwegsehen – und genau das ist das Problem. Es reicht eben nicht, sich auf „alte Werte“ zu berufen, ohne zu hinterfragen, was da mitgeschleppt wird. Wir sind es den Opfern der Pogrome schuldig, dass wir jungen Menschen die Augen öffnen und ihnen Alternativen bieten, die auf Respekt, Vielfalt und Menschlichkeit beruhen.

Wenn altes „Wissen“ zur Gefahr wird

Doch es bleibt nicht nur bei harmlosen Liedern und Abenden am Stammtisch. Der Trend zur Esoterik und Rückbesinnung auf nordische oder germanische Mythen greift um sich. Solange diese Kreise ein reflektiertes Bild der Vergangenheit bewahren, ist das kein Problem. Aber immer öfter höre ich von alten germanischen Symbolen und Götterbildern in altdeutscher Fraktur, die in esoterischen Kreisen kursieren und genau die verherrlichenden Mythen hochleben lassen, die uns längst ins Verderben führten. Das ist keine Nostalgie, sondern die gezielte Verklärung von Ideen, die Unheil über Millionen Menschen brachten.

Wer also glaubt, es sei nicht nötig, an die Novemberpogrome zu erinnern, weil die Geschichte lange vergangen ist, der macht es jenen leicht, die diese alten Gifte wieder salonfähig machen wollen.

Sie haben es nur auf die nächste Generation abgesehen – und wenn wir nicht aufpassen, hinterlassen wir eine Welt, in der Hass und Hetze wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Fazit: Gedenken ist Widerstand!

Das Gedenken am 9. November ist mehr als ein Ritual. Es ist ein lautes, unbequemes „Nein“ zu all jenen, die aus der Geschichte nichts gelernt haben. Es ist ein Widerstand gegen die Verharmloser, die Gleichgültigen und die „Harmlose-Traditionen“-Beschwörer. Solange es Menschen gibt, die das dunkelste Kapitel der Menschheit als „lang vorbei“ abtun, ist das Erinnern unsere einzige Waffe.

Also: Müssen wir noch gedenken? Ja, und heute mehr denn je.

Rechtlicher Hinweis: Dieser Artikel dient der kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Themen und stellt keine rechtlich bindenden Aussagen dar. Die dargestellten Ansichten dienen ausschließlich der Information und Diskussion. Die verwendeten Informationen basieren auf öffentlich zugänglichen Quellen. Trotz sorgfältiger Prüfung wird keine Gewähr für die Richtigkeit und Vollständigkeit übernommen. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf die alleinige Wahrheit und ist im Sinne der Meinungs- und Informationsfreiheit zu verstehen.

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