Gästezimmer 3
Ein Text für die Sommer-Ausgabe des eBuch Kund*innenmagazins schönerlesen (Abre numa nova janela).
Ausgabe 17 widmet sich unter anderem Berlin und ich nehme euch mit auf einen kleinen Spaziergang zu ein paar der tollsten Buchhandlungen Berlins.
schöner lesen - Berlin
Ich komme aus einem kleinen Dorf in Ostdeutschland. An einer Landstraße reihen sich ein knappes Dutzend Häuser auf der einen Seite, zwei größere Höfe liegen auf der anderen, rundherum gedeihen Kartoffeln im guten Bördeacker, das war’s. Wir haben nicht allzu viel gesehen von der Welt. Auch als die Grenzen längst geöffnet waren und das Reisen erlaubt, blieben wir die langen Sommer über meistens zu Hause. Ich verlas ganze Julitage untern Birkenbaum auf der großen Wiese vorm Haus, und wenn wir mal ins benachbarte Dorf zum Freibad fuhren, hatte ich immer mindestens ein Buch in der Tasche, meistens zwei, denn man wusste ja nie. Ich vermisste nichts, kein Abenteuer, keine Ablenkung, kein Amüsement, denn ich hatte Zugriff auf die ganze Welt. Sie wohnte im Bücherregal meiner Großeltern und wartete geduldig Seite für Seite darauf, dass ich sie lesend eroberte.
Literarisch habe ich mehrere Städte geliebt, aber keine so sehr wie Berlin. Ich spazierte mit Annemarie, dem „Nesthäkchen“ von Else Ury, durch die Charlottenburger Kaiserzeit, begleitet von der Stimme meiner Großmutter, die mir geduldig Seite um Seite vorlas, bevor ich dann irgendwann selbst mit Erich Kästners „Emil und die Detektive“ auf der Suche nach Herrn Grundeis durch Schöneberg jagte. Mit Lisa Tetzners „Kindern aus Nr. 67“ und Klaus Kordons Wendepunkte-Trilogie habe ich nicht nur Berliner Geschichte gelernt. Und wie sehr mich Christiane F. erschüttert hat, spüre ich noch heute jedes Mal, wenn ich am Bahnhof Zoo vorbeifahre. Irmgard Keuns „Kunstseidenes Mädchen“ las ich beim Erwachsenwerden und nach vielen, vielen Umwegen führte es mich vor ziemlich genau sechzehn Jahren an einem frühlingsschönen Apriltag tatsächlich und dauerhaft nach Berlin.
So lange bin ich hier zu Hause, wie sonst noch nirgendwo, und werde dieser Stadt doch nicht müde. Hier habe ich meine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht, hier habe ich mich verliebt in die lebendige Vielfalt des Berliner Literaturbetriebs, in seine Menschen, Verlage, unzähligen Lesungen und Literaturveranstaltungen – von großen Verlagsempfängen bis zu Lyrik Open Mikes ist in dieser wunderbaren Stadt alles möglich. Ich liebe es, dass jederzeit Autor*innen oder Verleger*innen meinen Weg kreuzen können, oder wenn ich Straßen und Orte in Romanen wiedererkenne. In vielen davon ist Berlin der heimliche Star, die eigentliche Protagonistin, mehr als ein Handlungsort, ohne den die Geschichte eine ganz andere wäre.
Noch ein Grund, weshalb mein literaturverliebtes Herz so im Berlin-Takt schlägt, sind die vielen großartigen Buchhändler*innen. Ihre mutigen, ambitionierten und beeindruckenden Läden durchziehen die Stadt wie die Adern eines Literatur-Herzkreislaufs. So, wie man beinahe von überallher den Fernsehturm sieht, hat man es von keiner Ecke weit zu einer gut sortierten Buchhandlung. An einem Februarmorgen beginne ich meinen Spaziergang durch diese literarischen Oasen in Pankow: Berliner Buchhandlung, Berliner Verlag, Bücher über Berlin – ich bin selbst neugierig, was sich da finden lässt. Es ist kalt, aber klar und die Sonne scheint von diesem hochgewölbten, strahlend blauen Berlin-Himmel, als ich in Krischa Hasselbachs Buch Disko ankomme. Dort kuratiert die gebürtige Hamburgerin wie eine DJane Bücher ganz nach ihrem Geschmack. Als Dramaturgin ist ihr Schwerpunkt Theater, aber auch Belletristik und Lyrik kann man in der Disko haben. Ich entscheide mich für einen Kaffee und für Volker Kutschers Erzählung „Moabit“, 2017 bei Galliani erschienen und illustriert von der wunderbaren Kat Menschik, bevor ich mich auf den Weg zur Buchhandlung Anakoluth in der Schönhauser Allee mache. Die Inhaberin Christiane Hahn hält ein beeindruckendes Sortiment literarischer Titel, Graphic Novels, Kinderbücher, Lyrik und Politik vor und ist mir, seit ich sie kenne, ein Vorbild wenn es darum geht, wie man über Literatur spricht. Mit Deniz Utlus Roman „Gegen morgen“ (Suhrkamp 2019) und einem Lächeln lasse ich mich an den Schaufenstern vorbei in Richtung Stadtmitte treiben, neben mir rattert die berühmte U2 auf dem Hochgleis entlang, und ich tauche bei Uslar & Rai weiter unten an der Schönhauser Allee aus dem Stadtlärm ab. Hier empfehlen die Buchgestalterin Katharina von Uslar und der Schriftsteller Edgar Rai ihre Lieblingsbücher, und nachdem ich einen Moment die andächtige Stille genossen habe, die einen in Buchhandlungen umfängt, verabschiede ich mich mit dem Buch des Hausherrn, Edgar Rais Roman „Im Licht der Zeit“ (Piper 2019), über das Ende der Stummfilmära.
Von Berlins Mitte geht es zu einem Ort, an dem Literatur täglich stattfindet. Im Aufbau Haus am Moritzplatz verlegt nicht nur der gleichnamige Verlag sein vielfältiges Programm, darunter auch Berlin-Must-reads wie Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“, sondern man fällt von der U-Bahn-Station direkt in eine moderne, helle Buchhandlung. Ich stöbere nach einem Buch über den Architekten Bruno Taut, der hier ganze Stadtviertel prägte, und finde ein spannendes Portrait aus dem Berliner Traditionsverlag Wagenbach. Weiter zu Zabriskie, nur ein paar Minuten entfernt, von groß nach klein, vom breiten Sortiment zum sorgfältig und einstimmig ausgewählten Programm von Lorena Carràs und Jean-Marie Dhur. Beide sind Quereinsteiger und wollen vor allem eins: dem Mainstream fernbleiben. Nature Writing, Kunst, Kultur, Subkultur und eine große Auswahl an englischen Büchern findet man in der Reichenberger Straße. Ich entdecke Musa Okwongas „In The End, It Was All About Love“ („Es ging immer nur um Liebe“, mairisch Verlag 2022, übersetzt von Marie Isabel Matthews-Schlinzig). Darin schreibt der britisch-ugandische Autor poetisch und klug, berührend und offen über seine Ankunft in Berlin, über Rassismus, Freundschaft, Fußball, Lyrik, Liebe und hat für mich damit eigentlich das einzige Berlin-Buch geschrieben, das man wirklich gelesen haben muss.
Ich mache mich wieder auf den Weg, schließe mich dem Strom der mittagshungrigen Menschen an und hole mir unterwegs auch etwas zu essen. Nicht weit weg, an der Grenze der berüchtigten Berliner Stadtteile Kreuzberg, Friedrichshain und Neukölln, liegt die Buchhandlung She said. In den farbenfrohen Regalen bietet das Team um Gründerin Emilia von Senger ausschließlich weiblichen und queeren Autor*innen eine Bühne. Meine Beute ist Anke Stellings Roman „Bodentiefe Fenster“ aus dem Verbrecher Verlag über die Töchter der 68-er Mütter, die ihre Ideale auf dem Spielplatz im Prenzlauer Berg in Latte Macchiato ertränken.
Und jetzt will ich weiter nach Westen, nach Schöneberg, in mein literarisches Zentrum, wo mich mein Freund Ludwig Lohmann im Kanon Verlag mit einem Kaffee empfängt. Ich frage ihn, was Berlin für den Verlag bedeutet, und er antwortet: „Die Stadt ist enorm wichtig. Hier gibt es die größte Buchhandels- und Verlagsdichte im ganzen deutschsprachigen Raum. Hier gibt es mehrere Literaturhäuser, Literaturfestivals und eine unglaublich lebendige Szene. Jeden Abend kann man Autorinnen und Autoren aus der ganzen Welt hören. Darum geht es auch bei Kanon: die Stimmen zu hören, die Themen und neue künstlerische Ausdrucksweisen. Nirgendwo geht das so gut wie in Berlin. Nirgendwo anders habe ich so sehr das Gefühl, am Puls der Zeit zu sein.“ Ich betrachte die von Anke Fesel so schön gestalteten Cover mit den halbhohen Schutzumschlägen, die im nagelneuen Kanon-Regal ausgestellt sind. Da ist Kirsty Bells „Gezeiten der Stadt“ (übersetzt von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff), das zu den wunderbarsten Berlin-Büchern der jüngeren Zeit und zu meinen absoluten Lieblingsbüchern gehört. Die britisch-amerikanische Kunstkritikerin lebt seit zwanzig Jahren in Berlin und geht nach einer persönlichen Krise (erst ein Wasserschaden in ihrer geliebten Altbauwohnung, dann reißt auch noch ihre Ehe ein) den Strömungen, Leerstellen und Erschütterungen dieser Stadt nach. Dabei hat Kirsty Bell berühmte Berliner*innen wie Rosa Luxemburg oder Gabriele Tergit genauso im Blick wie viele der unbekannten weiblichen Lebensleistungen, die diese Stadt in den letzten hundertfünfzig Jahren geprägt haben. Die kluge Verwebung von Stadtgeschichte und Memoir erlaubt Berliner*innen, ihre Stadt ganz neu zu sehen und ist der perfekte literarische Exkurs für alle, die sich von überall aus nach Berlin lesen wollen.
„Und wenn ich dir noch ein ganz neues Berlin-Buch empfehlen darf“, sagt Ludwig, „im Sommer erscheint bei uns Tim Staffels Roman „Südstern“. Damit verliebst du dich gleich nochmal neu in die Stadt. Vertrau mir.“ Und das tue ich. Immer.
Von Kanon ist es nur einen Katzensprung bis zum Guggolz Verlag. Auf dem Weg laufe ich an der wunderbaren Buchhandlung Odradek vorbei und bewundere durchs Schaufenster unter rot-weiß gestreiften Markisen wieder einmal die eindrucksvolle Auswahl der Buchhändlerin Mieke Woelky. Drinnen verliere ich mich sofort in den Schätzen von Miekes gut sortierten Regalen. Mit dem Roman „Der Große Garten“ der Filmemacherin Lola Randl – Städterin kauft renovierungsbedürftiges Haus in der Uckermark, ein Berlin-Thema durch und durch – laufe ich weiter zu Sebastian Guggolz schräg gegenüber. Der Guggolz Verlag ist eine ganz eigene Schatztruhe und spezialisiert auf Neu- und Wiederentdeckungen aus Nord- und Osteuropa. Sein belesener Verleger ist ein absoluter Garant für literarische Perlen aus vergangenen Zeiten, die er vor dem Vergessen bewahrt. Die schön gestalteten Bücher, immer mit hilfreichen Hinweisen und Nachworten versehen, wertschätzen auch äußerlich die Neuübersetzungen. Überraschend ist hier ein Berlin-Buch zu finden, das so witzig, so wendig, so zeitlos, so modern ist, dass man nach dem ersten Lesen sofort von vorn beginnen will: „Zoo. Briefe nicht über Liebe oder Die dritte Heloise“ von Viktor Schklowski (aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, mit einem Nachwort von Marcel Beyer) erschien zuerst 1923 und entstand, weil der unglücklich verliebte Autor seiner Angebeteten etwas Verbindendes schreiben wollte, Worte, um sich ihr anzunähern, denn auf ihren Wunsch soll er bitte ja nicht von der Liebe reden.
In Richtung Charlottenburg, meinem nächsten Ziel, liegt zwischen Viktoria-Luise- und Nollendorfplatz die Buchhandlung Eisenherz. Mit Nancy Schmolt, die hier arbeitet, habe ich vor fünfzehn Jahren in einer Buchhändler*innenklasse gesessen. Ich sehe Wolfgang Herrndorfs Debüt „In Plüschgewittern“ (Zweitausendeins 2002), jener prototypische Berlin-Roman, in dem ein Anfangdreißigjähriger aus der Provinz in die Hauptstadt kommt und sich dem Viel-Party-kein-Geld-Ding hingibt, für das die Stadt außerhalb ihrer Grenzen so berühmt ist – bis er sich verliebt.
In Charlottenburg lohnt es sich gleich zwei Mal, literarisch Station zu machen. Wenn nicht zu einer der wunderbaren Veranstaltungen, dann doch in der überaus charmanten Buchhandlung Kohlhaas & Company im Literaturhaus in der Fasanenstraße, in der es neben deutsch- und englischsprachiger Literatur und Lyrik auch eine große Berlin-Abteilung gibt. Demnächst hat hier der neue Roman von Vincenzo Latronico Buchpremiere. In „Die Perfektionen“ (aus dem Italienischen von Verena von Koskull, erschienen bei Claasen) begleiten wir Anna und Tom, die gerade nach Berlin gezogen sind, durch ihren vermeintlich perfekten Hipster-Pärchen-Alltag. Eine fabelhafte Dekonstruktion des inszenierten Lebens der Generationen Z, in dieser Stadt, die niemals schläft und trotzdem so gern spät aufsteht. Man atmet erleichtert auf, nicht selbst Teil dieser literarischen Analyse gewesen zu sein. Zuletzt muss ich unbedingt in der Autorenbuchhandlung am Savignyplatz vorbei. Sie liegt direkt am S-Bahnhof und ist damit genau richtig für den Abschluss meines Spaziergangs und immer für einen überraschende Entdeckung gut. Ich finde eine Neuausgabe des legendären Berlin-Romans von Jörg Fauser um den „Bergungsexperten für außergewöhnliche Fälle“ Heinz Harder (Diogenes 2022) und lasse mich schwer bepackt in die nächste S-Bahn in Richtung Stadtmitte fallen.
Und dort bin ich angekommen, in meinem literarischen Zuhause, der Buchhandlung ocelot in der Brunnenstraße, wo ich seit über zehn Jahren als Buchhändlerin arbeite. Ich komme gerade rechtzeitig zur Spätschicht. Gleich neben dem Eingang ist unser Regal für alle Bücher, die Berlin und alles rundherum zum Thema haben. Volker Kutschers Gereon-Rath-Reihe steht dort neben Alfred Döblin und Gabriele Tergits „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ und die wunderbaren „Take me to the Lakes“-Bände machen Lust auf den Sommer (nicht nur) an Berliner Seen.
Pünktlich zu meinem Arbeitsbeginn kommt Judith Poznan auf einen Kaffee vorbei. Im Mai erscheint ihr zweiter Roman im DuMont Verlag. Und wo „Aufrappeln“ spielt, muss ich hier nicht extra erwähnen, oder?