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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 25: VOM BENENNEN

Eigentlich wollte ich in meinem Urlaub im September sehr viel lesen. Ich hatte einen Bücherstapel dabei, bei dem ich auf jedes einzelne Buch wirklich Lust hatte. Dann überschlugen sich aber die Ereignisse und vom erholsamen Leseurlaub blieb nicht allzu viel übrig. Ich möchte dich nicht mit meinem Urlaubstagebuch langweilen, aber ich habe versucht meinen September in einem Gedicht zu verarbeiten. Das gibt vielleicht einen kleinen Eindruck, ohne auf jedes Detail einzugehen:

Ich sehe mir selbst dabei zu, wie ich versuche, all das Erlebte schreibend zu verarbeiten und stelle fest, dass mir das nicht besonders gut gelingt. Dass ich die einzelnen Bilder und Geschehnisse nicht so präzise formulieren kann, wie ich es gerne möchte. Vielleicht gelingt es mir mit etwas Abstand irgendwann einmal besser. Ich kann auch nicht genau sagen, warum ich überhaupt den Versuch unternommen habe, mitten im Chaos ein Gedicht zu schreiben. Mir hat jemand erzählt, dass Rehe, wenn sie angefahren werden, danach heftig zittern, um so den Schock aus dem Körper zu schütteln. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber vielleicht ist das Rausschreiben-wollen ein ähnlicher Impuls. Das weiß ich nicht. Es ist mir jedenfalls nicht gelungen Dinge so zu benennen, wie ich es gerne wollte. Ja, eigentlich benennt das Gedicht nur meine Unfähigkeit die Dinge zu benennen, die ich eigentlich benennen wollte. Und während dieses Prozesses, bin ich dann doch noch ein bisschen zum Lesen gekommen. Nämlich die Gedichte und Essays von Audre Lorde. In ihrem Essay „Poetry is not a luxury“ bin ich über folgendes Zitat gestolpert:

„For it is through poetry that we give name to those ideas which are, until the poem, nameless and formless-about to be birthed, but already felt. That distillation of experience from which true poetry springs births thought as dream births concept, as feeling births idea, as knowledge births (precedes) understanding.“

Also sinngemäß schreibt sie, dass wir durch die Poesie den Ideen Namen geben, die bis zur Entstehung eines Gedichts namenlos und formlos sind. Dieser Moment, wenn sie im Begriff sind geboren zu werden, materialisiert zu werden, aber vorher bereits als Gefühl vorhanden waren.

Das hat mich nicht nur an meinen Schreibprozess und der Schwierigkeit des Benennens erinnert, sondern auch an eine alte Geschichte, wo jemand mit eben dieser Aufgabe betraut wird: Benennen. Namen finden. Sagbar machen. Ausdruck geben:

Kurz nachdem die Flügelschläge des Schöpfergeistes über Irrsal und Wirrsal der Urtiefe verklungen waren und das gesprochene Wort der Liebe die Dinge ins Dasein formulierte, die vorher nur als Ideen existierten, bekam das Ebendbilds-Geschöpf eine Aufgabe:

 „Gott, der HERR, formte aus dem Erdboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte sein Name sein. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes.“

 (Genesis 2,19-20, EÜ)

Über diese etwas merkwürdig anmutende Geschichte hat auch Bob Dylan einen Song geschrieben, den ich euch nicht vorenthalten möchte:

https://www.youtube.com/watch?v=OmxhajWJAnY (Abre numa nova janela)

Die erste Aufgabe, die erste Challenge, die dem Menschen gestellt wird, ist eine Kreativaufgabe. Ein Appell an Imagination und Poesie. Der Mensch bekommt die Aufgabe alle Tiere und Vögel zu benennen. Ich bin kein Theologe, aber wenn ich es richtig verstehe, sind im hebräischen Denken Namen oft untrennbar mit dem Vorhandensein verbunden. Etwas existiert, wenn es einen Namen bekommen hat. Man könnte sogar sagen, dass das Wesen, die Essenz einer Sache, oder Person sich in ihrem Namen ausdrückt oder konzentriert. Folgt man diesem Gedanken, könnte man sogar so weit gehen zu denken, dass das in Genesis beschriebene Schöpfungsgeschehen erst mit dem Benennen durch den Menschen finalisiert wurde.

Es ist also keine leichte Aufgabe. Keine, die man leichtfertig und halbherzig nebenher erledigen kann. Sie braucht Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, Empathie und Beobachtung. Und vor allem braucht sie sehr viel Zeit. Eigentlich sehr nett, dass der Text verschweigt, ob es sowas wie eine Deadline oder einen Abgabetermin für diese Aufgabe gab.  

Benennen! Den Dingen einen Namen geben. Etwas verfestigen, dass vorher fluide war. Ideen und Gedanken und Bilder in Sprache und Worte und Formen übersetzen. Die Realität sprechbar machen. Vielleicht ist das eine Aufgabe der Sprache. Und besonders deutlich wird das in der Lyrik, finde ich. Bis die Worte auf der Zunge zum Liegen kommen, haben sie oft weiter unten ganz schöne Bauchschmerzen verursacht. „Das Schreiben ist kein Genuss. Es ist das Quälende. Etwas, was man tut, wie Kotzen. Man muss es tun, obwohl man es eigentlich nicht will“ sagt Elfriede Jelinek. „Schreiben ist wie mentales Masturbieren“ sagt Allen Ginsberg.

Manchmal braucht es sehr viele missglückte Entwürfe und Neuanfänge, verworfene Zeilen und recycelte Reime, um dem nahe zu kommen, was ich sagen wollte. Meistens ist die Idee im Kopf besser als das Ergebnis, das ich später auf der Seite festhalten kann.

 Interessant, fast schon lustig, finde ich aber auch, dass Gott dem Menschen diese Aufgabe zu stellen scheint, weil er selbst ganz interessiert ist, auf welche Worte und Namen der Mensch wohl kommen wird.

 Und einen Gedanken noch zum Schluss. Das Benennen der Lebewesen durch den Menschen hat dem Text zufolge auch noch einen Nebeneffekt. Durch das achtsame Beobachten und der Beschäftigung mit der Beschaffenheit und Eigenarten der Tiere und Vögel, bemerkt der Mensch, dass sie sich von ihm unterscheiden. Dass er in ihnen kein Gegenüber findet. Und er fühlt sich einsam. Das scheint ihm erst durch den Prozess des Benennens klar geworden zu sein. Ich glaube, auch das bringt das Benennen manchmal mit sich. Selbst, wenn es eigentlich um etwas ganz anderes gehen sollte, öffnet der achtsame und empathische Blick nach außen auch mitunter ein kleines Fenster nach innen. Zu den eigenen Empfindungen und Regungen. Vielleicht war das sogar von vorneherein der Sinn der ganzen Aufgabe. Gott scheint ihm da sogar recht zu geben. Und er schafft ihm ein Gegenüber. Eine Erlösung aus seiner Einsamkeit. Das bemerkt der Mensch zunächst gar nicht, weil er tief eingeschlafen war. Aber als er sie zum ersten Mal sieht, scheint er direkt weiterzumachen, wo er zuvor aufgehört hat. Er benennt auch sie. Oder versucht es zumindest. Das ist vermutlich ohnehin die schwierigste Form des Benennens. Darum gibt es wohl auch so viele kitschige Liebeslieder und so wenige richtig gute. Im Genesis-Text klingt das folgendermaßen:

 „Der Mensch sprach:
Diesmal ist sies!
Bein von meinem Gebein,
Fleisch von meinem Fleisch!
Die sei gerufen
Ischa, Weib,
denn von Isch, vom Mann, ist die genommen.“

 (Gen. 2,23, in der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig)

 Das scheint mir jetzt auch nicht der kreativste Name zu sein, aber das war vielleicht auch dem Schock und der Auf- oder Erregung der ersten Begegnung geschuldet. Interessant ist aber auch, dass selbst das aufmerksame, achtsame, empathische Anschauen und Benennen später noch eine Steigerung bekommt. Im ersten Vers vom 4. Kapitel in Genesis, also gar nicht weit nach der Geschichte mit dem Benennen, steht der in der deutschen Übersetzung unspektakuläre Satz, dass der Mensch seine Frau „erkannte.“ Das Wort erkennen bedeutet in den jüdischen Schriften aber mehr als nur wahrnehmen im Sinne von unterscheiden, wer jemand ist. Es bedeutet jemanden auf einer ganz tiefen Ebene wahrnehmen und annehmen und kennenlernen. So tief und so intim und ganzheitlich, dass es an vielen Stellen der biblischen Texte als Synonym für Sex gebraucht wird. Auf das Benennen folgt also später das Erkennen. Das tiefe Verstehen. Das Einswerden.

 Letztendlich ist alle Theologie, alle Theo-Poesie auch nur der Versuch etwas oder jemanden zu benennen. Etwas oder jemanden in sprachlichen Bildern und Konzepten auszudrücken, von dem man weiß, dass der Versuch eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Ähnlich wie bei meinem Septembergedicht.  

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