TEXTE VOM VORHANDENSEIN
TEIL 4: VON DER ANGST
VON DER ANGST
Da sitzt ein großer schwarzer Vogel auf der Kante des Balkons vor der Wohnung gegenüber. Starrt mich über die Straße hinweg vorwurfsvoll an, als ich im offenen Fenster stehend rauche. Ich starre zurück und gehe nach den letzten beiden Zügen wieder an meinen Schreibtisch. Etwa eine halbe Stunde später, als mir nichts mehr einfällt, mache ich mir Kaffee und öffne erneut das Fenster zur Straße. Der große schwarze Vogel sitzt immer noch in der exakt selben Pose, an der exakt selben Stelle auf der Balkonkante und starrt und verharrt wie vorhin. Und ich denke, entweder schlafen Vögel dieser Art einfach verdammt lang und unbequem, oder haben vielleicht geheime Jedi-Yogi-Zen-Meister-Mystik-Meditations-Traditions-Techniken. Oder, und das halte ich mittlerweile dann doch für wahrscheinlicher, ich habe einfach nicht gecheckt, dass dieser Vogel gar kein echter Vogel ist. Kunststoff-Krähe, um Tauben abzuschrecken, oder wer auch immer sonst Angst davor haben könnte und in der Lage wäre von außen in den dritten Stock zu kommen. Vorhanden, aber nicht vorhanden. Eine Form von Vorhandensein ohne wirklich zu sein.
Ich stelle mir vor, wie jemand in einem Experiment meine Urängste erkennt und die dann lebensgroß in Farbe an Hausfassaden heftet. Ich beobachte einen kleinen Vogel im Landeanflug und brülle ihm über die Straße herüber zu: „Keine Panik! Das ist bloß Kunststoff in der Form von Furcht!“ Verschreckt von meiner lauten Warnung fliegt er entgegengesetzt weiter.
Als Kind hatte ich keine Angst vor Löwen, weil in den Kinderbuchgeschichten die Wölfe böse waren und die Löwen König. König des Dschungels oder von Narnia und sie redeten mit warmen und freundlichen Stimmen, obwohl sie auch brüllten und natürlich nicht zahm waren. Oder ich erinnere mich an die Geschichte des Sklaven Androklus, der im römischen Kolloseum von den Löwen verschont wurde, weil er auf seiner Flucht einem dieser Löwen eine Verletzung versorgt hatte.
Heute bin ich kein Kind mehr und denke weniger über Löwen nach. Und habe Angst. Nicht vor Löwen, aber häufig vor der Zukunft. Nicht so sehr vor bestimmten Entwicklungen, oder Veränderungsprozessen, sondern eher davor, wie es mir damit geht, ob ich versorgt sein werde, ob es mir gut gehen wird, was ich tun werde und ob und wo ich meinen Platz finde? Und wenn es wie in den Kindergeschichten nicht die Löwen, sondern die Wölfe sind, die mir Angst machen, dann passt das irgendwie auch. Angst, dass wir Menschen mitunter Löwen, oder eben Wölfe füreinander sind. Aufeinander losgehen, um über die Runden zu kommen, nicht auf der Strecke zu bleiben, oder das eigene Revier zu verteidigen. Der römische Komödiendichter Titus Maccius Plautus (ca. 254–184 v. Chr.) formulierte es zum Beispiel so:
Denn der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch. Das gilt zum mindesten solange, als man sich nicht kennt.
Und ich denke wieder an den großen schwarzen Plastikvogel. Ich versuche mich daran zu erinnern, dass er zwar vorhanden, aber nicht lebendig ist. Furcht einflößend, aber unecht. Er sieht nach Gefahr aus und alle Instinkte schreien "Flucht", aber mehr passiert eben nicht. Ich könnte sogar neben ihm landen und über sein Plastikgefieder streichen. Er wird mich nicht beißen, oder fressen.
Sich Sorgen zu machen, ist ja auf eine Weise auch ein kreativer Akt, der Phantasie voraussetzt. Ich stelle mir etwas vor, das in der Zukunft passieren könnte. Aber die vermutlich unproduktivste Möglichkeit mit Vorstellungskraft umzugehen darstellt, auch wenn sich das evolutionär sicher gut begründen ließe. Ich mag dieses Zitat von Dan Zadra deswegen und habe es schon mehrmals vorne in mein Notizbuch geschrieben:
Worry is a misuse of the imagination.
― Dan Zadra
Hier kannst du dir den Text als Video anschauen:
https://youtu.be/Gr-Hct1QE_M (Abre numa nova janela)Und hier kannst du dir den Text von mir vorlesen lassen:
Liebe Grüße aus Marburg und bleib neugierig <3
Marco
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