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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 23: VOM EMPÖREN

“Angry people are not often wise.”
Jane Austen

 Noch bevor ich die Gelegenheit hatte, mir die über vierstündige Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris anzuschauen, waren meine sämtlichen Social-Media Feeds bereits mit Empörung geflutet. Ähnlich wie bereits nach dem Eurovision Song Contest war da auch wieder alles dabei: Von verletzten religiösen Gefühlen, über Empörung und Verletzung bis zu abstrusen Verschwörungserzählungen, die sich auch nicht zu schade waren, noch so weit hergeholte und zurechtgebogene Zeichen und Symbole vorwärts oder auf dem Kopf oder bei Mondschein gelesen oder rückwärts abgespielt, als wie auch immer gearteten satanische Botschaften zu identifizieren. Drunter geht es scheinbar nicht und knallt ja auch so schön.

 Aufhänger war neben dem fahlen Pferd, in dem einige ernsthaft den Reiter aus der Johannes Apokalypse erkannt haben wollen, eine angeblich blasphemische Darstellung des letzten Abendmahls von Da Vinci. Eines Künstlers, der vermutlich selbst queer war.

Da wäre zunächst mal die Frage, seit wann sich die Christenheit darauf geeinigt hat, dass ein Gemälde plötzlich zum Kanon gehört und so etwas wie Heiligenstatus genießt? Lustig, dass hier auf einmal genau die Menschen auf die Barrikaden gehen, denen bildliche Darstellung von Jesus eigentlich von Hause aus suspekt sind. Und zum anderen, selbst wenn es eine Darstellung der Abendmahls-Szene gewesen wäre - wo genau war da die Blasphemie? Ich dachte, Christen glauben, dass an dieser Tischgemeinschaft Platz für alle ist und jeder Mensch, egal, woher er kommt und wer er ist, bedinguslos angenommen und willkommen ist. Offensichtlich gilt das dann aber nicht für Menschen aus der LGBTQ+ Bewegung. „Und wie können die sich überhaupt erdreisten, sich einfach selbst an den Tisch zu setzen, ohne uns zu fragen. Hier bestimmen immer noch wir, wer willkommen ist und wer teilnehmen darf und wer nicht!“ Anders kann ich es mir nicht erklären, wieso man sich darüber derart aufregt.

 Wohlgemerkt wäre. Der Regisseur der Eröffnungsfeier Thomas Jolly hat danach nämlich klargemacht (Abre numa nova janela), dass es weder die Absicht war religiöse Gefühle zu verletzten noch, dass es sich überhaupt um eine Darstellung oder Anspielung auf das Letzte Abendmahl Christi gehandelt habe. Wenn überhaupt, spielt es auf ein anderes Gemälde, des niederländischen Malers Jan van Bijlert aus dem 16. Jahrhundert mit dem Titel „Fest der Götter“ an. Darauf ist ein ekstatisches Gelage rund um den antiken Gott Dionysos zu sehen. Das Szenario wäre also ein heidnisches, oder griechisches, was im Kontext der Olympischen Spiele auch sehr viel logischer erscheint.

 Thomas Jolly sagt zu der Wirkungsabsicht der ganzen Inszenierung, dass er den ganzen Abend über in seinen Bildern folgendes sagen wollte:

 „Wir glauben, dass die Dinge nicht zusammenpassen, wir wollen die Dinge in Schachteln packen, aber in Wirklichkeit entsteht, wenn diese Schachteln zusammentreffen, Schönheit, Emotionen, Freude.“

 Meiner Ansicht nach ist das genau das, was Kunstschaffende tun sollten. Uns die Ränder und Grenzen unserer Gedanken- und Vorstellung-Schachteln zu zeigen und diese hin und wieder auch mal aufzubrechen und wenn nötig zu sprengen. Eine Spur zu legen, dass es außerhalb unserer Kategorie-Boxen viel mehr gibt. Mehr Schönheit, mehr Freiheit, mehr Entdecken- und Dankenswertes. Mehr Leben. Mehr Vitalität. Mehr Liebe vielleicht sogar. Ich weiß das ziemlich gut, weil ich in sehr engen religiösen Denkmustern aufgewachsen bin und es besonders der Kunst, der Literatur, der Musik und der Lyrik verdanke, dass ich so manche Box erweitern oder aufbrechen konnte. Aber immer, wo das versucht wird, lässt die Empörung der Gatekeeper und Bewahrer der geraden Linien meist nicht lange auf sich warten.

 Jason Liesendahl vom Podcast schoener glauben (Abre numa nova janela) hat einen schönen und prägnanten Post zur Einordnung der ganzen Thematik geschrieben, den ich sehr empfehlen mlchte: Hier Link:

 Zum Beitrag (Abre numa nova janela)

Hier hätten etwas klassische Bildung und die Betrachtung des Kontextes durchaus geholfen. Und es war doch noch nie so einfach wie heute, kurz mal ein wenig zu recherchieren, bevor man seine Empörung dann Amphoren weise an seinen Follower ausschenkt. Trotzdem finde ich, selbst wenn es das Letzte Abendmahl hätte darstellen sollen (was es nicht war) und selbst wenn die Absicht gewesen wäre sich über Christen oder Religion oder religiöse Darstellungen lustig zu machen (was es nicht getan hat), selbst dann fände ich das völlig in Ordnung. Wer Religionsfreiheit sagt, muss auch Kunst- und Redefreiheit sagen, muss auch Gedanken- und Gewissensfreiheit meinen und muss es aushalten, dass es in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft auch Menschen gibt, die der Religion kritisch, gleichgültig oder verächtlich gegenüberstehen. Ich meine, wir als religiöse Menschen haben in Vergangenheit und Gegenwart auch genug dafür getan, um Menschen den Glauben und die Religion unappetitlich zu machen.

 Und guess what, genau das darf und muss formuliert und ausgedrückt werden (dürfen), wie andere ihren tiefen Glauben und ihre Religiosität. Ich habe irgendwo gelesen, Religionsfreiheit bedeute auch, Freiheit vor der Religion. Das sehe ich auch so und finde ich wichtig.

Setzt der Glaube an das Vorhandensein von Blasphemie nicht voraus, G*tt könne sich von einem menschlichen Kunstwerk oder einer menschlichen Handlung oder sprachlichem Ausdruck beleidigt fühlen? Und wäre das nicht ein unglaublich kleiner, armseliger, schwächlicher, jähzorniger Kindergartengott, an den ohnehin niemand glauben möchte? Also ich zumindet nicht.  

"Es gibt eine soziale Klasse in allen Industrievölkern, die vorzüglich durch diese Struktur charakterisiert ist: die untere Mittelklasse, das Kleinbürgertum oder - in einem soziologisch umfassenderen Symbol - der Spießer. Er kann geradezu charakterisiert werden - in welcher sozialen Klasse er auch vorkommt - als jemand, der sich durch die Angst, an seine eigene Grenze zu geraten und sich selbst im Spiegel des Andersartigen zu sehen, nie über das Gewohnte, Anerkannte, Festgelegte zu erheben wagte. Möglichkeiten, die jedem Menschen dann und wann gegeben sind, über sich hinauszukommen, ließ er unverwirklicht: ob es ein Mensch war, der ihn aus seiner Enge hätte herausreißen können, oder ein ungewohntes Werk der Kunst, das ihn hätte erschüttern können, oder ein Wort aus der Dimension des Ewigen, das ihm die Selbstsicherheit seines Daseins hätte umwerfen können. Um sich herum aber sieht er Menschen, die über die Grenzen gegangen sind, die er nicht überschreiten konnte. Und der heimliche Neid wird zum Haß."

Paul Tillich

Wie das wohl ist,

die Steine in weiser Voraussicht bereits aufgesammelt

und blank poliert in die Taschen gesteckt zu haben

und jetzt verzweifelt auf eine Gelegenheit zu warten,

die auch werfen zu dürfen?

 

Wie das wohl ist,

ständig mit Wahrheits-Kieseln um sich zu schleudern und zu glauben,

der Begriff sei exklusiv für die eigene Überzeugung reserviert.

 

Wie das wohl ist,

selbst nach der Konfrontation mit Fakten die eigene Empörung

nicht mehr revidieren zu können und trotzig weiter auf einer Meinung zu beharren,

die sich vor aller Augen als haltlos herausgestellt hat?

 

Wie das wohl ist,

hinter jeder Fassade Verschwörung zu vermuten

und in jedem Gebüsch Teufel und Dämonen,

die scheinbar besonders gerne in Performances

und in Outfits und in Kunstwerken wohnen?

 

Wie das wohl ist,

die Mehrheit der Mitmenschheit als verloren anzusehen,

oder böse, oder dumm, oder verkrümmt, oder verblendet,

oder verführt? Wie soll da jemals Augenhöhe und Respekt

zustande kommen?

Wie das wohl ist,

sich dann anschließend darüber zu wundern,

dass ich all das nicht sein möchte?  

Wie das wohl ist,

antike Texte und das menschliche Vorhandensein

durch die wacklige Lesebrille eines Engländers

aus dem 19. Jahrhundert hindurch zu lesen,

der reich geerbt und von seiner Verlobten verlassen,

genug Zeit hatte, um Entrückung zu erfinden?

 

Wie das wohl ist,

alles zum Ende hin zu hoffen,

das einen selbst strahlend bestätigt

und alle anderen ewig ignoriert

und lodernd verdammt

(und natürlich sagt das niemand laut,

aber ein bisschen freut man sich schon auch darauf)?

 

Wie das wohl ist,

so selbstverständlich G*tt in den Mund zu nehmen

und trotzdem scheinbar ständig

Angst zu haben sich an seinem Geschmack zu verschlucken?

Angst zu haben, dass da mehr Kanten sind oder Gräten, als man weiß

und man deshalb sicherheitshalber zaghaft an den Rändern nagend bleibt

und ständig Lieder drüber singt, dass man „mehr“ möchte?

 

 Wie das wohl ist,

ihn mit Allmacht zu maskieren

und sich dennoch bemüßigt zu fühlen,

sich als sein Anwalt aufzuspielen?

Wie das wohl ist,

sich immer für die diskriminierte Minderheit zu halten,

und Verfolgung fast zu fetischisieren,

und die Minderheiten übersieht,  

die man selbst ausschließt und diskriminiert?

 

Wie das wohl ist,

sich so zu überhöhen, alles und jeden als Angriff oder Provokation

auf die eigene Gruppe wahrzunehmen,

während man im Selbstverständnis der kleine, treue Überrest ist?  

 

Glaubst du wirklich, die ganze Welt macht sich ständig Gedanken

über dich und wie man am effektivsten deine Gefühle verletzt?

 

Wie das wohl ist,

vor lauter Anprangerung anderer Anbiederung,

den Zeitgeist im eigenen Auge nicht mehr bemerken zu können?

 

Wie das wohl ist,

ständig ungefragt in seine Echokammer hineinzubrüllen,

wie sicher man sich seiner Sei sei,

obwohl diese Art der Überzeugung

scheinbar ständig Bestätigung braucht,

um nichts ins stille Grübeln zu kommen?

 

Wenn das Fundament so fest ist,

warum habe ich das Gefühl,

dass die Wände ständig wackeln?

 

Wie das wohl ist,

ständig vor allem Angst zu haben,

und das dann als  

Warnung und Sorge zu verkaufen?

 

Und überhaupt,

warum wird da ständig so viel verkauft?

 

Wer vor Kunst Angst hat,

fürchtet sich vor dem Leben,

fürchtet sich vor Komplexität,

fürchtet sich vor authentischem Ausdruck,

fürchtet sich vor fremden Formen,

fürchtet sich vor Freiheit, die über die eigene hinausgeht,

fürchtet sich vor Ästhetik, die nicht der eigenen entspricht,

fürchtet sich vor Räumen, in denen man keine Deutungshoheit hat,

fürchtet sich vor Gefühl,

fürchtet sich davor berührt zu werden,

fürchtet sich davor bewegt zu werden,

fürchtet sich davor hinterfragt zu werden,

fürchtet sich vor dem Vielleicht,

fürchtet sich vor der unerwartet Pointe,

fürchtet sich vor den Plotttwists

fürchtet sich vor Uneindeutigkeit,

fürchtet sich vor den Freiräumen zwischen den Zeilen,

fürchtet sich vor der Erkenntnis, dass die selbst gesetzten Grenzen nur im eigenen Kopf existieren,

fürchtet sich vor dem Ergebnis des Selbstdenkens,

fürchtet sich vor dem Verrücktspielen der eigenen moralischen Kompassnadel,

fürchtet sich davor, dass Schönheit vielleicht doch nicht absolut ist,

fürchtet sich vor der ungeraden Linie,

und hält die gerade Linie nicht für gottlos,

sondern das Gegenteil.

Furcht, wenn sie echt ist,

kann ich vielleicht versuchen zu verstehen,

alles andere outet sich als Arschloch.

Wo die Angst vor anderen Narrativen überhandnimmt,

ist es nicht so weit bis (wieder) Bücher verbrannt werden.

Verbannt werden sie ja jetzt schon (wieder). (Abre numa nova janela)

Irgendwann hat vermutlich niemand mehr die Lust und die Kraft, Verständnis und Empathie und Toleranz aufzubringen für die, die sie ständig einfordern, aber anderswo mit Füßen treten.

Und ich sitze hier und tippe meine empörten Zeilen ins Reine. Ja, fuck, ich bin ebenfalls empört, stelle ich fest. Empört über soviel dumme Empörung, die nicht mal einen kleinen Schritt zurücktreten kann hinter ihre Selbstherrlichkeit, wenn sie entlarvt ist und zumindest diese eine Mal zugeben kann, dass sie Quatsch erzählt oder wenigstens über das Ziel hinaus geschossen und sich im Ton vergriffen hat.

 Und ich denke:

Selig die, die sich nicht angegriffen und bedroht fühlen, nur weil wer anders etwas anders sieht oder ausdrückt oder glaubt, als sie selbst.

NEWS- NEWS- NEWS- NEWS- NEWS

FCK Purity-Podcastfolge

Ich war zu Gast im FCK Purity Podcast von Mona Krähling und Nana Myrrhe. Die beiden leisten wichtige Aufklärungsarbeit zum Thema Purity Culture, Sexualität, Sprachfähigkeit und vor allem auch den Beschädigungen, die Menschen davon tragen, wenn sie in solch einem Kontext aufgewachsen sind.

In unserem Gespräch haben wir über eben dieses unser Aufwachsen in fundamentalistisch-christlichen Gruppen gesprochen, über unterdrückte Sexualität, tabuisierte Sprache, Scham und Masturbation.

Mir sind solche Gespräche sehr wichtig. In meinem letzten Buch “Wir werden alle verwandelt werden” thematisiere ich das auch. Besonders in dem Gedicht “Als wir Geister waren”, das ich im Podcast ebenfalls vortragen durfte.

Hier kannst du direkt loshören:

https://open.spotify.com/episode/4gqOnUs4hDRSMFWiMCPpKW?si=q8CG9ZPBTrOJ12HmARv7rQ (Abre numa nova janela)

Ansonsten findest du die Folge auch auf allen anderen gängigen Podcastplattformen. Ich freue mich, wenn du reinhörst und bin gespannt, was du denkst.

Live Lyrik-Lesung vom Reflab-Festival

Im Frühjahr durfte ich im Rahmen des Reflab-Festivals in Zürich drei Gedichte aus “Wir werden alle verwandelt werden”.

Die Aufnahmen davon kannst du dir jetzt in voller Länge anhören. Du findest sie entweder unter “Abgekanzelt” auf allen gängigen Podcastplattformen, oder direkt auf der Seite vom Reflab (Abre numa nova janela):

Ich verlinke sie hier aber auch nochmal direkt:

Als wir Geister waren / Ich bin nicht hoch genug, um hinter den Häusern den Himmel zu sehen:

https://open.spotify.com/episode/6FNp9F6wFvnVulADuvcbAN?si=acedd1fa57a64570 (Abre numa nova janela)

HEUL (leise):

https://open.spotify.com/episode/0pxwD3bfIZWy03SNW15Dkt?si=ff06eb8c11444bc9 (Abre numa nova janela)

MEIN NEUES BUCH

Hier kannst du mein neus Buch direkt bestellen. Wie auch schon der Vorgänger, erscheint es im wundervollen Lektora Verlag. Ich freue mich sehr, wenn ich diese Wegstrecke und diese Spurensuche mit dir teilen darf:

https://store.ruach.jetzt/produkt/wir-werden-alle-verwandelt-werden-marco-michalzik-buch/ (Abre numa nova janela)

Liebe Grüße und bleib neugierig

Marco

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