Lauter Verhältnisse
5. Februar 2024
Heute Morgen hat mein lieber Sohn mich gefragt, ob man Männer nach ihrem Alter fragen dürfe. Ich wunderte mich. Dann sagte ich, natürlich dürfe man das. Und er sagte, also nur Frauen nicht und flitzte in sein Zimmer. Moment mal, Freundchen! Er erklärte, wir haben doch gestern den Trailer von Mary Poppins’ Rückkehr gesehen. Ach ja. Michael Banks merkt verblüfft an, Marry Poppins sei kaum älter geworden. Mary Poppins sagt daraufhin: Über das Alter einer Frau spricht man nicht. Es ist natürlich wahnsinnig komisch, wenn Emily Blunt dabei etwas pikiert schaut. Seit Wochen bettel ich den Sohn an, er möge endlich mit mir Mary Poppins sehen. Morgen können wir deine Jerry Moppins gucken, hat er gestern gesagt. Während ich das hier tippe, habe ich noch rund sechs Stunden Zeit, mir eine schlaue Antwort zu überlegen, wenn die Szene erneut auftaucht.
Film
SONNTAGSKIND
Die Schriftstellerin Helga Schubert
Da ging gleich ein Raunen durch die Kinositze, als Helga Schubert zum ersten Mal für eine Interviewsequenz gezeigt wurde. Ich glaube, es war allen ziemlich egal, was sie da sagte. Wie sie es sagte, entlockte uns den kleinen Aufschrecker. So spricht eine über 80-Jährige? So schnell, so wach, so frech? Gar nicht gebrechlich. Ganz und gar nicht uralt. Helga Schubert ist taff. Hat man schon mal eine über 80-Jährige in blauer Strumpfhose und Absatzschuhen flink die Straße runter laufen gesehen? Irgendwann ist es nicht mehr egal, worüber Helga Schubert spricht. Sie erzählt von ihrem Leben. Ein Leben mit so vielen Widerständen, als Frau, als Mutter, als Psychologin, als Schriftstellerin. Ihr erster Mann hielt heimlich in einem Notizbuch die Menstruationstage seiner Geliebten fest. Lange hielt die Ehe nicht. Ein Sohn. Und dann kam sie mit Johannes Helm zusammen über den sie ja dieses bemerkenswerte Buch über ihrer Altersliebe geschrieben hat. Viel DDR. Die Sarah Kirsch hat sie zum Schreiben gebracht. Und Insa Wilke hat sie zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen. Letztere wird ebenfalls gezeigt. Und eine alte Schulfreundin von Helga Schubert, die sich erinnert, dass Helga immer sauer war, wenn sie keine 1 hatte. Da müssen dann beide Frauen herzlich lachen. Ein so schönes Filmporträt von Regisseur Jörg Herrmann.
Anmerkung der Redaktion: "Sonntagskind - die Schriftstellerin Helga Schubert" von Jens Hermann, seit dem 11. Januar im Kino.
Musik
“Fast Car” wird im Radio gespielt, wobei ich sofort an die Busreise in der zehnten Klasse nach Polen denken muss. Ich kann den kompletten Text auswendig, aber es fällt mir trotzdem schwer, mit Tracy Chapman in den Strophen mitzuhalten. Nach dem Lied kommt direkt eine Verkehrsmeldung, die sagt, auf Höhe der Abzweigung Müncheberg würden Kinder auf der Fahrbahn laufen. Ich fahre sofort langsamer, obwohl Müncheberg schätzungsweise eine Stunde Autofahrt von mir entfernt liegt.
Aus Prima Aussicht
Diese Woche war Tracy Chapman in aller Munde. Ihr erster Auftritt nach 15 Jahren hat bei den Grammys für neue Fans gesorgt. Wie schön ist das: Fast Car hat es doch tatsächlich wieder in die Charts geschafft. Ich habe nur ein Video von der gesamten Performance (Abre numa nova janela) gefunden. Die Audioqualität ist schlecht, aber die Funken zwischen Tracy Chapman und Luke Combs auf der Bühne kommen dennoch rüber. (Taylor Swift ist übrigens auch textsicher bei Tracy Chapman.) Also man schaut 5:45 Minuten. Dann verlässt man das Haus und geht frische Blumen für den Tisch kaufen.
And your arm felt nice wrapped around my shoulder /And I, I had a feeling that I belonged/
I, I had a feeling I could be someone be someone be someone
Buch
Die Bodenlose
In Berlin, in Chicago, in Jerusalem, auf Spiekeroog und in Tel Aviv
“Sie war eingebrochen in das Leben einer Familie, die sich nicht einmal vorstellen konnte, dass es Menschen wie sie gab. Menschen ohne Boden.”
Dana Vonwickel ist eine fantastische Erzählerin. Sie kennt den Kakao durch den man sie zieht. Und deswegen ist “Gewässer im Ziplock” schlicht eine Sensation. Eine jüdische Familiengeschichte im Hier und Jetzt. Die Bodenlose, die übrigens oft zu Fuß unterwegs ist, ist die 15-jährige Margarita. Die schwingt zwischen ihren Eltern, ihrem religiösen Vater in Berlin und ihrer Mutter in Jerusalem, die den Vater verlassen hat. Da wäre dann noch die Großmutter in Chicago und ein großes Geheimnis. Die Reise nach Israel wird eine Suche nach Identität und Herkunft und Sexualität. Ich habe kein Buch in den letzten Jahren gelesen, in dem besser gestritten wurde. Und es enthält wahrscheinlich mehr von dem, was sich nach dem 7. Oktober entladen hat, als es allen lieb ist. Nicht nur, aber auch deswegen, sollte dieses Buch weitergereicht werden. In der Familie und unter Freunden.
“Gewässer im Ziplock” ist gut. So unglaublich gut.
Anmerkung der Redaktion: Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock. Suhrkamp Verlag für 23 Euro.
Ein Berliner Kino
Anmerkung der Redaktion: Wenn wir uns in diesem Jahr über eine Rückkehr freuen, dann ist es die Rückkehr des Kinos. Sie müssen wirklich ganz dringend ins Kino! Zum Beispiel in das Kino Krokodil in der Greifenhagener Straße 32. Dort haben sie neben ein paar erlesenen Indie-Filmen auch noch extra ein Tischchen für Ihre Gläser neben ihrem Sitz. Oder Sie gehen ins Kino am Treptower Park. Dort kann man noch bis zum 18.2. sonntags Twilight gucken. Ja, Sie haben richtig gelesen! Empfohlen sei auch die Kino-Sauna in der Therme am Kurpark. Ne schöne Tierdoku bei 50 Grad heißer Luft, so haben wir es doch gerne. Wir wünschen viel Spaß.
Liebe Leser und Leserinnen,
der Himmel ist grau, grau, grau, aber ich versuche nicht hinzugucken. Ich bedanke mich recht herzlich für neue Mitgliedschaften seit meinem letzten Aufruf. Eine weitere Empfehlung und damit ein kleiner Ausblick für die kommende Ausgabe: In diesem Monat ist der Black History Month. Thilo Mischke widmet sich ganze drei Folgen in seinem Podcast “Alles muss raus” (Abre numa nova janela). Eine Ausstellung über Josephine Baker in der Neuen Nationalgalerie habe ich nun ins Auge gefasst.
Ansonsten wünsche ich allen ein schönes Wochenende!
Liebst Judith